Titel
Loyal Subversion. East Germany and its Bildungsbürgerlich Marxist Intellectuals


Autor(en)
Fair-Schulz, Axel
Reihe
Reihe Hochschulschriften, Bd. 26
Erschienen
Berlin 2009: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Wunnicke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Obwohl die DDR entbürgerlichte, hielt sich Bürgerlichkeit als Kulturform in verschiedenen Milieus.1 Wer jedoch diese Menschen im einzelnen waren, welche Herkunft und welcher Werdegang sie bestimmte, was ihre gedankliche Welt sowie ihr Lebensumfeld ausmachte, sind noch weitestgehend unbeantwortete Fragen. Nur wenige Monate nach Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ – einer gewissermaßen literarischen Gesellschaftsgeschichte des DDR-Bürgertums – erschien im trafo-Verlag die 368 Seiten umfassende, englischsprachige Dissertation des deutsch-amerikanischen Historikers Axel Fair-Schulz über die bildungsbürgerlich-marxistischen Intellektuellen in der DDR. Damit nimmt der Autor eine kleine Gruppe Intellektueller in den Focus, die auf Grund ihrer Bekanntheit und ideologischen Nähe zum Staat ihre bürgerliche Geisteshaltung offen vertreten konnte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.

Der Untersuchungszeitraum beginnt in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, als Jürgen Kuczynski, Stephan Hermlin und Hermann Budzislawski – die biographischen Fallbeispiele der vorliegenden Studie – zur Welt kamen. Als Söhne deutschstämmiger Juden wuchsen sie in der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht auf. Sie gehörten jener Gruppe Menschen an, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund ihrer politischen Überzeugung bewusst für ein Leben im Osten Deutschlands entschied. Alle drei Protagonisten zählten in der DDR wegen ihrer hervorragenden Bildung, ihres wissenschaftlichen und literarischen Schaffens sowie ihrer politischen Einstellung zur geistigen Elite. Indem Fair-Schulz diese drei Biographien nebeneinanderstellt, rückt er ähnliche lebensgeschichtliche Entwicklungen und Wege ins Zentrum seiner Untersuchung, die nicht nur gemeinsame soziale und mentale Ausgangspunkte hatten, sondern auch im sozialen und politischen Umfeld der DDR ähnliche politische und ethische Denk- und Handlungsmuster vertraten. Der Autor fragt in seiner Untersuchung nach der Dynamik von intellektueller Anpassung/Gefälligkeit und Dissens im Kontext der DDR (S. 12). Mit dem Titel „Loyal Subversion” schafft er bewusst eine Abgrenzung zu Dissidenten wie Wolfgang Harich und Robert Havemann.
Zu Fair-Schulzes Hauptquellen gehören neben den einschlägigen Archiven auch Interviews. Zudem konnte Fair-Schulz freie Einsicht in das Privatarchiv der Familie Kuczynski nehmen.

In vier Hauptkapiteln widmet sich Fair-Schulz je einer seiner zentralen Personen. Wegen der Materialfülle entschied der Autor zu Recht, sich in zwei Hauptkapiteln mit dem Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczinski zu beschäftigen. Anhand ausgewählter Beispiele versucht der Autor, dem bildungsbürgerlichen Marxismus nachzuspüren. Dabei unterstreicht er die Schwierigkeit der methodischen Annäherung an das Thema: „[...] not just as a set of formal analytical categories and methodologies but as informing their mental, emotional and spiritual sensibilities, illustrating the remarkable flexibility of these cultural traditions“ (S. 60).

Im Fall Jürgen Kuczynskis konzentriert sich der Autor auf dessen Tätigkeiten als Literaturkritiker und Redakteur des „Jahrbuches für Wirtschaftsgeschichte“. Daneben beschreibt er Kuczynskis Position als öffentlicher Intellektueller, der mit seinem 1983 erschienen Buch „Dialog mit meinem Urenkel“ kritische Debatten in der DDR förderte.
In der Analyse des Autors und Essayisten Stephan Hermlin steht zunächst die Entwicklung seiner ästhetischen und philosophischen Symbiose neo-humanistischer Werte und marxistisch-leninistischer Utopien im Mittelpunkt. Alsdann beleuchtet Fair-Schulz drei Momente, mit denen Hermlin bei seinem offenen Protest gegen die Ausweisung Wolf Biermanns 1976, seiner Initiative für eine Schriftstellerkonferenz gegen nukleare Aufrüstung 1981 und seiner Rolle in der Affäre um Schüler der Berliner Carl-von-Ossietzky-Schule im Jahr 1988 in Konfrontation mit dem Staat geriet.

Den Weg des Journalisten Hermann Budzislawski zeichnet Fair-Schulz über dessen Tätigkeit als Chefredakteur der „Weltbühne“ Mitte der 1930er-Jahre, sein Exil in den USA und seine Zeit als Journalismusprofessor und wiederernannter Chefredakteur der „Weltbühne“ in der DDR nach.

Hervorzuheben sind die gelungenen „Background“-Kapitel, die den Hauptkapiteln jeweils zur biographischen Einführung der Person vorangestellt sind. In überzeugender Weise kann Fair-Schulz hier die Kontinuität bildungsbürgerlichen Denkens und dessen Verquickung mit der marxistisch-leninistischen Ideologie herausarbeiten. Er beschreibt die umfassende humanistische Bildung der drei jungen Männer, die sie im jüdisch-bürgerlichem Milieu erhielten, sowie ihre geistige Flucht in den 1920er-/1930er-Jahren aus der Randgruppe des Judentums ins Lager des Kommunismus. Als Grund dafür nennt er die sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen der 1920er- und 1930er-Jahre.

Die Aussicht auf die Errichtung eines kommunistischen Staates war, Fair-Schulz zufolge, für Kuczynski, Hermlin und Budzislawski ein Grund für die Umsiedlung in die DDR. Dieser Schritt sei von der Hoffnung getragen gewesen, in der DDR politische und humanistische Ideale verwirklichen zu können. Die geistige Haltung, die sich bei den Protagonisten entwickelte, bezeichnet der Autor als Neo-Humanismus, modifiziert durch Ästhetik und analytische Sensibilität des Marxismus-Leninismus (S. 336).

Ein weiterer interessanter Aspekt, den Fair-Schulz herausarbeitet, ist das ungebrochene Vertrauen der bürgerlichen Marxisten in die „Klassiker“ und das neo-humanistische Bildungsideal. Hierin gründet unter anderem auch die These des Autors, dass „the GDR’s bourgeois – or more accurately bildungsbürgerlich Marxists – hoped to liberalize their society’s rigidity through a re-constituted an neo-humanist Bildungsideal” (S. 59). Doch die vorbehaltlose Betonung der Bildung als Selbstkultivierung, die alle drei Protagonisten verband, und die gleichzeitig dem Parteiziel der Formung des sozialistischen Menschen via Volksbildung entgegenstand, sorgte für Konflikte mit der Staatslinie. Anhand verschiedener Beispiele beschreibt der Autor die sogenannte loyale Subversion, die aus diesen Konflikten hervorging: Hermlin war bemüht, in seinen Werken, entgegen der offiziellen Linie, der „spätbürgerlichen Ästhetik“ treu zu bleiben und sie mit einer progressiven politischen Ideologie zu verbinden. Nach Fair-Schulz’ Analyse versucht Hermlin zu demonstrieren, dass romantische Sensibilität und Marxismus-Leninismus einhergehen können. Kuczynski bemühte sich in den 1960er-Jahren um die Rehabilitierung der Frühromantik, was ihn mit den zentralen gesellschaftlichen Debatten in der DDR in Verbindung brachte. Budzislawski wiederum beklagte in einem seiner Aufsätze den Verfall der ästhetischen Qualität des Journalismus, den er mit mangelnder Bildung begründete. Damit kritisierte er indirekt auch den zentral gesteuerten Journalismus in der DDR.

In der Einleitung verortet der Autor seine Untersuchung in erster Line in der Elitenforschung der DDR. Fair-Schulz’ Arbeit ist zugleich eine außerordentliche Bereicherung für die DDR-Bürgertumsforschung. Mit seiner Analyse ist ihm der Nachweis einer bildungsbürgerlichen Traditionslinie gelungen, die für diesen Zeitumfang bisher noch nicht vorlag. Indem der Autor in den Werken Kuczynskis, Hermlins und Budzislawskis ihren bildungsbürgerlichen Idealen nachspürt und diese mit ihrem Milieu- und Lebensumfeld sowie ihrem öffentlichen Auftreten in Verbindung bringt, entsteht das vielgestaltige Bild einer kontinuierlichen Bildungsbürgerlichkeit in der DDR, die von den besonderen gesellschaftlichen Umständen geprägt ist. Betont werden muss jedoch, dass es sich in Fair-Schulz’ Untersuchung nur um eines von verschiedenen bürgerlichen Residuen in der DDR handelt.
Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache unverständlich, dass der Leser Verweise auf Arbeiten z.B. von Manfred Hettling oder Thomas Großbölting zum Bürgertum in der DDR in dieser Arbeit vergeblich sucht. Dabei hätte gerade Großböltings Darstellung der Entbürgerlichung Hallenser Professoren einen guten Konterpart zum Umgang mit linientreuen bürgerlichen Eliten bilden können.

Gerade eine bürgerliche Herkunft führte in der DDR in aller Regel zu einer gewissen Distanz zum Staat. Doch auch der Staat förderte diese Distanz, indem er unliebsame Personenkreise bewusst ausgrenzte. Einige bürgerliche Intellektuelle haben diese Ausgrenzung offensiv erfahren, was die Spannung in ihrem Verhältnis zum Staat letztendlich weiter vergrößerte. Dieser Aspekt einer möglichen (subversiven) Ausgrenzung von staatlicher Seite fehlt in Fair-Schulzes Analyse der bildungsbürgerlich-marxistisch Intellektuellen, sollte aber ebenfalls hinterfragt werden.

Trotz kleiner Kritikpunkte: Fair-Schulzes biographische Analysen geben einen lohnenden Einblick in den noch wenig erforschten Bereich von Anpassung und Subversion geistiger Eliten der DDR. Sie bieten darüber hinaus viele Anknüpfungspunkte zu weiteren Analysen – für vergleichende Perspektiven wie auch für weitere Einzelstudien, etwa über protegierte Ärzte und Naturwissenschaftler in der DDR oder bildende und darstellende Künstler.

Anmerkung:
1 Erste Studien dazu liegen bereits vor, vgl. u.a. Manfred Hettling / Bernd Ulrich, Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005.

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