E. Rogan: Der Untergang des Osmanischen Reichs

Cover
Titel
Der Untergang des Osmanischen Reichs. Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten 1914–1920


Autor(en)
Rogan, Eugene
Erschienen
Darmstadt 2021: Theiss Verlag
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eberhard Demm, CERAAC, Université Grenoble Alpes

Es handelt sich um die Übersetzung des 2015 veröffentlichten englischen Originals.1 Es dürfte wohl niemanden geben, der für dieses Buch bessere Voraussetzungen mitbrachte als Eugen Rogan. Er ist im Nahen Osten aufgewachsen, spricht fließend Türkisch und Arabisch und konnte sich als Leiter des Middle East Centre am St. Antony’s College der Universität Oxford mit zahlreichen namentlich genannten Kollegen beraten. Darüber hinaus wurde er bei den Vorarbeiten für sein Buch von zwei türkischen Doktoranden entscheidend unterstützt (S. 542f.). Leider hatte der Autor offenbar keine deutschen Doktoranden, und so berücksichtigte er nur deutsche Veröffentlichungen, die in englischer Übersetzung vorliegen. Ähnlich sieht es bei den Akten aus: er konsultierte zwar britische, amerikanische und selbst neuseeländische Archive, verzichtete aber auf Recherchen in den reichhaltigen Beständen der deutschen und türkischen Archive (S. 11, 571f.)2 und zitierte wichtige Dokumente, wenn überhaupt, nur aus zweiter Hand.

Das Buch umfasst 13 Kapitel und einen „Schluss“: Nr. 1 und 2 erörtern die Vorgeschichte von 1908 bis 1914, Nr. 7 die Situation der Armenier, Nr. 11 den arabischen Aufstand und der Schluss die Friedensverträge, alle anderen Kapitel behandeln fast ausschließlich die militärischen Operationen. So erfährt man auf 43 Seiten, wie die Türken eine anglo-indische Armee bei Kut-el-Amara einkesselten, belagerten und schließlich gefangen nahmen (S. 315-358). Allerdings vernachlässigt Rogan wegen seiner Ignoranz deutscher Quellen wichtige Aspekte. Dafür zwei Beispiele.

Der Autor berichtet über die erfolgreichen Bemühungen der Engländer und Franzosen, Araber und Inder aus ihren Kolonien im Krieg einzusetzen (S. 99-101) und geht anschließend auch auf die Pläne der Deutschen ein, muslimische Kriegsgefangene an die osmanische Front zu schicken. Er beschreibt, wie gut sie im sog. „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Zossen behandelt und für den Jihad indoktriniert wurden (S. 102-105). Allerdings lässt sich seine Behauptung, „ein stetiger Strom indischer und nordafrikanischer Soldaten verließ Deutschland in Richtung Istanbul, um sich dem Krieg des Sultans anzuschließen“ (S. 104), nicht aufrecht erhalten. Die große Mehrheit der algerischen Kriegsgefangenen in Wünsdorf wollte nicht für die Osmanen kämpfen3, und die ca. 2.000 Freiwilligen wurden in der Türkei schlecht behandelt. Daher desertierten viele und endeten schließlich in türkischen Gefangenenlagern. Im Frühjahr 1917 wurde daher die Jihad-Propaganda in Wünsdorf eingestellt und die Kriegsgefangenen zur Arbeit in Landwirtschaft und Industrie herangezogen.4

Auf Grund einer arabischen Kriegserinnerung und ungenannter türkischer Tagebücher erwähnt Rogan die gelegentliche Abneigung der Türken gegenüber arabischen und deutschen Kriegskameraden (S. 394, 450), berücksichtigt aber nicht die in zahlreichen deutschen Kriegserinnerungen überlieferten Konflikte zwischen deutschen und türkischen Offizieren, die manchmal militärische Operationen behinderten und 1918 im Kaukasusgebiet sogar zu blutigen Zusammenstößen führten.5

Trotz solcher Vorbehalte sind die rein militärischen Vorgänge erschöpfend und mit großer Sachkenntnis analysiert worden. Allerdings lässt sich die Niederlage der Türken und damit der Untergang des Reiches nicht monokausal durch eine altmodische Schlachtengeschichte erklären. Rogan behandelt wirtschaftliche und gesellschaftliche Begleitumstände höchstens punktuell, und man muss sich anderweitig über sie informieren, z. B. im Buch von Leila Tarazi Fawaz:

Über die katastrophale Infrastruktur, wo z.B. Hilfsgüter auf ihrem Weg von Istanbul an die palästinensische Front siebenmal auf unterschiedliche Eisenbahnsysteme oder gar auf Kamele umgeladen werden mussten.6 Die miserable Ausrüstung und Verpflegung der Soldaten, die zu Erkrankungen, permanenter Unterernährung und manchmal gar zum Verhungern führte.7 Die unzureichende medizinische Betreuung verwundeter und an Seuchen erkrankter Soldaten, die mehr Verluste verursachte als die Schlachten.8 Nicht zuletzt die grassierende Korruption: hohe Beamte und Offiziere verschoben und verkauften für die Armee bestimmte Rohstoffe, Arzneien und Nahrungsmittel.9

Im Kapitel über die Situation der Armenier (S. 209-240) berichtet Rogan kurz über die Kämpfe zwischen türkischen Truppen und armenischen Aufständischen (S. 221-225), ansonsten schildert er vor allem die Deportation und Ermordung der meisten Armenier durch die türkischen Behörden (S. 225-240). Dabei bemüht er sich sichtlich um Objektivität, weist auf die stark bedrohte Lage der Türkei im Jahre 1915 sowie auf das militärische Engagement türkischer Armenier auf Seiten der Russen hin (S. 215f., 239f.). Er vergisst auch nicht den sonst kaum erwähnten Umstand, dass ein Übertritt zum Islam Armeniern vielfach das Leben rettete (S. 231, 237, 239).

Der „arabische Aufstand“ (S. 359-407) ist ein großes Wort für ein recht begrenztes Unternehmen. Der Scherif Hussein von Mekka konnte mit englischem Gold nur die Beduinenstämme des Hedschas dafür mobilisieren, auch arabische Gefangene der Engländer und arabische Offiziere der osmanischen Armee beteiligten sich nur selten (S. 398f.). 10 Rogan analysiert ausführlich die widersprüchlichen Vereinbarungen der Engländer: sie versprachen Hussein die Unabhängigkeit der arabischen Gebiete mit vage definierten Grenzen, einigten sich gleichzeitig im geheimen Sykes-Picot-Abkommen mit Frankreich über ihre Aufteilung in „Einflusssphären“, d.h. in künftige Kolonien, und sicherten außerdem den Juden eine „Heimstätte“ in Palästina zu.

In Kapitel 2 berichtet der Autor über die diplomatischen Verhandlungen zwischen der Türkei und den europäischen Mächten im Frühjahr und Sommer 1914. Zunächst geht er auf die Bemühungen des türkischen Marineministers Ahmed Cemal um eine Allianz mit der Entente ein. Dabei zitiert er mehrfach – leider ohne Seitenangaben – aus dessen Erinnerungen an seinen Besuch in Paris im Juli 1914, als er im französischen Außenministerium mit den Worten „Sie müssen uns in die Entente aufnehmen“ vergeblich um eine Allianz gebeten habe ( S. 62). Allerdings hatten bereits Mustafa Aksakal sowie ein englischer Rezensent diese Initiative Cemals nachdrücklich bezweifelt.11 Nach den französischen Dokumenten, die weder Aksakal noch Rogan konsultierten, gab es aber kein formelles Bündnisersuchen Cemals, sondern nur eine vorsichtige Sondierung.12 Dafür übergeht Rogan einen anderen Allianzfühler des türkischen Innenministers Mehmed Talaat im Mai 1914 beim russischen Außenminister Sergej D. Sasonow in Livadia auf der Krim13, nimmt stattdessen aber Scheinverhandlungen des türkischen Kriegsministers Ismail Enver ernst, die dieser nach Abschluss der geheimen Allianz mit Deutschland zur Kaschierung der türkischen Kriegsvorbereitungen mit russischen Diplomaten in Istanbul führte (S. 74f.).14

Rogan geht auch auf die deutschen Hoffnungen ein, nach der Ausrufung des Jihads durch den Sultan-Kalifen, die Muslime in den britischen und französischen Kolonien zum Aufruhr aufzuhetzen und so die Entente entscheidend zu schwächen (S. 72). Dabei zitiert er den Freiherrn Max von Oppenheim, zeitweilig Legationsrat im deutschen Konsulat in Ägypten, bezeichnet ihn als den „Prophet[en] der deutschen Islampolitik“ und erwähnt sein islamisches Propagandabüro, das er zu Beginn des Krieges in Berlin errichtete (S. 72f.). Nun hatte Oppenheim allerdings schon viel früher und radikaler als in Rogans Zitat dem Auswärtigen Amt den Jihad als Waffe gegen die Entente empfohlen, doch drangen diese Anregungen nicht an die Öffentlichkeit.15 Es war vielmehr der einflussreiche liberale Politiker Friedrich Naumann, der in seinem Bestseller Asia von 1899 bis 1913 den Jihad und die Allianz mit dem Sultan propagiert und auf die Stoßrichtung „Kampf gegen Großbritannien“ im künftigen Weltkrieg zugespitzt hatte.16 Allerdings stellten die Deutschen bald fest, dass die Mehrheit der Muslime kaum dem Jihad folgte, und Rogan meint, dass auch heute die Angst vor dem islamistischen Fanatismus übertrieben ist (S. 529).

Anmerkungen:
1 Eugene Rogan, The Fall of the Ottomans. The Great War in the Middle East, 1914–1920, London 2015.
2 Die Zitate aus den Dokumenten des Auswärtigen Amtes in Kapitel 2 stammten aus der Sekundärliteratur und wurden etwas ungeordnet von den Übersetzern aus den deutschen Akten hinzugefügt, vgl. den Hinweis in Anm. 19 auf S. 547 sowie die Anm. 28, die sich nicht auf einen Text Oppenheims von 1906, sondern auf sein Schreiben von 1914 bezieht.
3 Gilbert Meynier, Les Algériens dans la première guerre mondiale, URL: <https://orientxxi.info/l-orient-dans-la-guerre-1914-1918/les-algeriens-dans-la-premiere-guerre-mondiale,1157> (17.10.2021).
4 Margot Kahleyss, Muslime in Brandenburg – Kriegsgefangene im 1. Weltkrieg. Ansichten und Absichten, Berlin 2000 [1998], S. 25–32; Eberhard Demm, Censorship and Propaganda in World War I. A Comprehensive History, London 2019, S. 134.
5 Eberhard Demm, Zwischen Kulturkonflikt und Akkulturation. Deutsche Offiziere im Osmanischen Reich, in: ders., Von Wilhelm II. zu Wilhelm dem Letzten – Streiflichter zur Wilhelminischen Zeit, hrsg. v. Nathalie Chamba, Nordhausen 2018 [zuerst 2005], S. 213–248, hier S. 218–240; Jehuda L. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe. Die preußisch-deutschen Militärmissionen in der Türkei 1835–1919, Düsseldorf 1976, S. 227–229, S. 241; Hans Werner Neulen, Adler und Halbmond. Das deutsch-türkische Bündnis 1914–1918, Berlin 1994, S. 181–189.
6 Leila Tarazi Fawaz, A Land of Aching Hearts. The Middle East in the Great War, Cambridge, Mass. 2014, S. 190; Friedrich Kreß von Kressenstein, Mit den Türken zum Suezkanal, Berlin 1938, S. 209f.
7 Fawaz, Land, S. 91–93, S. 177, S. 193; Demm, Kulturkonflikt, S. 229.
8 Ebd., S. 232f.; Fawaz, Land, S. 113, S. 200ff.; Helmut Becker, Äskulap zwischen Reichsadler und Halbmond. Sanitätswesen und Seuchenbekämpfung im türkischen Reich während des Ersten Weltkrieges, Herzogenrath 1990, passim.
9 Fawaz, Land, S. 121–160; Die Gründe des Zusammenbruchs der Türkei Herbst 1918, Memorandum vom 4.11.1918 des Generals Hans von Seeckt, seit Ende 1917 Stabschef des türkischen Feldheeres, in Wallach, Militärhilfe, S. 257–276, hier S. 262–265.
10 Nach Mesut Uyar, Ottoman Arab officers between nationalism and loyalty during the First World War, in: War in History 20 (2013), S. 526–544, blieben die meisten loyal, hier S. 537–538.
11 Mustafa Aksakal, The Ottoman Road to War in 1914. The Ottoman Empire and the First World War, Cambridge 2008, S. 90; Efraim Karsh, review in Times Literary Supplement, 13. 5. 2015, URL: <https://www.researchgate.net/publication/276857924_review_of_Eugene_Rogan’s_The Fall of the Ottomans> (17.10.2021).
12 Cemal erklärte am 13.7.1914, „que la Turquie doit désormais s’orienter vers la Triple Entente“, allerdings erst nach einer friedlichen Lösung von Grenzstreitigkeiten mit Griechenland, Documents diplomatiques français (1871–1914), Series 3: 1911–1914, Bd. 10, Paris 1936, Nr. 504, S. 727–729, Zitat: S. 727; vgl. Demm, Censorship, S. 129.
13 Ulrich Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1914–1918, New York 1989 [zuerst 1968], S. 20; Neulen, Adler, S. 26.
14 Trumpener, Germany, S. 25, mit deutschen Aktenbelegen.
15 Oppenheim, Memorandum vom 5.7.1898; vgl. Demm, Censorship, S. 129f.
16 Friedrich Naumann, Asia, Berlin, 7. Aufl. 1913, S. 31 [zuerst 1899]; vgl. Eberhard Demm, Friedrich Naumann, Die Hilfe und die orientalische Frage, in: ders., Von Wilhelm II. [zuerst 2011], S. 249–271, hier S. 261f.