T. Dorfner u.a. (Hrsg.): Berichten als kommunikative Herausforderung

Cover
Titel
Berichten als kommunikative Herausforderung. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive


Herausgeber
Dorfner, Thomas; Kirchner, Thomas; Roll, Christine
Reihe
Externa (16)
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
198 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marian Hefter, Forschungszentrum Gotha, Universität Erfurt

Der zu besprechende Sammelband, hervorgegangen aus einer 2016 in Aachen veranstalteten Tagung unter dem Titel „Wissen und Berichten“, schreibt sich in die Neue Diplomatiegeschichte ein. Sieben Vorträge liegen nun gedruckt vor. Sie werden gerahmt von einer ausführlichen Einleitung von Christine Roll (S. 9–47) und einem Kommentar von Marian Füssel (S. 160–165), bleiben aber ohne weitere Untergliederung.

Die Aufsätze gehen von methodischen Ansätzen aus, die teils mehr, teils weniger praxeologisch inspiriert sind: Das Quellenmaterial wird häufig ausgehend von den schreibenden Akteuren untersucht, Sprache sowie Material spielen eine Rolle und mediale Qualitäten werden thematisiert. Die Inhalte von Gesandtenberichten, die in der Historiographie oft im Zentrum stehen, werden hingegen bewusst kaum thematisiert – der Band widmet sich nicht dem Berichteten, sondern den Berichten als solchen. In ihrer eingangs formulierten „anspruchsvolle[n] Agenda“ (so die zutreffende Bewertung von Marian Füssel auf S. 160) skizziert Christine Roll die bisherigen Versäumnisse und zukünftigen Chancen einer Auseinandersetzung mit den Berichten: Eine auf Strukturen abzielende Geschichte der diplomatischen Professionalisierung habe allzu oft „die Fülle des Lebens“ (S. 17) ignoriert. Die Idee einer Kulturgeschichte des Politischen, wie sie u.a. von Barbara Stollberg-Rilinger und Hillard von Thiessen auch für die Diplomatiegeschichte als Möglichkeit aufgezeigt wurde, nähere sich hingegen auch den historischen Akteuren und den von ihnen gefertigten Artefakten an. Von diesem Gedanken ausgehend könne eine praxeologisch orientierte Untersuchung der Berichte einen neuen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Diplomatiegeschichte darstellen. Um das nicht standardisierte Vorgehen der Gesandten in der frühen Neuzeit zu begreifen, schlägt Christine Roll vor, das Berichten „als kommunikative Herausforderung“ (S. 32) zu betrachten. In manchen Fällen müsse man auch von „vor-praxeologische[n] individuelle[n] kommunikative[n] Handlungen“ (S. 39) ausgehen. Mit diesem – vielleicht nicht ganz eindeutigen – Begriff bezeichnet Christine Roll Verhaltensweisen, die wegen ihrer ausbleibenden Regelmäßigkeit nicht als Praktiken im engeren Sinne bezeichnet werden können.

Dieses weitgreifende Programm wird durch die einzelnen Beiträge des Bandes dann aber nur sehr bedingt fruchtbar gemacht – hier ist die zeitliche Distanz zu spüren, die zwischen den einzelnen Beiträgen untereinander sowie zur Einleitung liegt. Die offenbar ex post eingeführten „kommunikativen Herausforderungen“, die sich auch im Titel des Bandes finden, kommen in den publizierten Texten nicht explizit vor. Allenfalls können sie aus den einzelnen Aufsätzen herausgelesen werden.1

Den formulierten Leitfragen nahe kommt immerhin der instruktive Beitrag von Matthias Pohlig, der untersucht, wie die englischen Secretaries of State bei der parallelen Nutzung verschiedener Quellen die Vertrauenswürdigkeit von Informationen bewerteten. Er bringt den Kern der Strategie auf die griffige Formel, man habe zwar „neue Informationen – aber nur selten neue Informanten“ (S. 139) gewollt. Vom Absender hingegen geht Michael Kaiser aus: Der Agent Johann van der Veecken unternahm es im Dreißigjährigen Krieg selbst, die Glaubwürdigkeit von Mitteilungen in seinen Berichten durch sprachliche Wendungen zu bewerten, was Michael Kaiser – ohne allerdings andere Texte vergleichend heranzuziehen – als besondere Betonung der Seriosität deutet. Auch wenn Johann van der Veecken sich in seinen Berichten oft auf andere Informanten berief und seine Berichte teils anonymisiert weitergegeben wurden, wird ein lebendiges und aktives Bild von ihm gezeichnet. Das im Titel postulierte „Verschwinden des Schreibers hinter seinen Berichten“ (S. 63) ist daher nur bedingt nachvollziehbar. Auch Florian Kühnel fragt in seinem Text „Zwischen Selbstzeugnis und Ghostwriting“ (S. 90–106), wer für die Erstellung von Berichten zuständig war. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die englischen Berichte zur Hohen Pforte in den meisten Fällen „kollaborativ“ (S. 105) entstanden: Die langjährige Erfahrung der Botschaftssekretäre, die individuellen Interessen der Gesandten und die äußere Situation beeinflussten das Ergebnis.

Die Abhängigkeit der gelebten Diplomatie von den beteiligten Personen betont auch Dorota Dukwicz: Die Ambassadeure Zarin Katharinas II. hätten in Warschau bis 1788 zeitweise mehr „typical competences of governors“ (S. 89) wahrgenommen. Ihre Berichte seien daher eine zentrale Quelle für die politische Geschichte des russisch besetzten Polen-Litauens, während nur „little information about court life, gossips or social life“ (S. 88) enthalten seien. Diese Feststellung wird aber nicht praxeologisch weiter verfolgt, um zu sehen, auf welche Weise die Inhalte der Berichte ausgewählt wurden; der Beitrag bleibt deskriptiv.

Die wichtige Feststellung, dass „nicht nur die Emittenten, sondern auch die Adressaten“ (S. 158) zum Berichtwesen gehörten, macht auch Dorothée Goetze zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung zur „Zirkulation kaiserlicher Gesandtenberichte vom Westfälischen Friedenskongress am Kaiserhof.“ Neben den Relationen, deren offiziellen Weg durch die Administration sie darstellt, betrachtet sie auch die „‚nebenbericht[e]‘“ (S. 154) und deutet diese schlüssig als Möglichkeit, Informationen unter Umgehung des Amtswegs an den Kaiser gelangen zu lassen. Wohl eher ungewöhnlich für eine Arbeit, die mit praxeologischer Orientierung nach dem Umgang mit Briefen fragt, ist die Fokussierung auf die normativen Amtswege und die Arbeit mit edierten Quellen.

Für eine Berücksichtigung der „ancillary paper documents“ (S. 60), die rund um die Gesandtenberichte anfielen, wirbt auch Megan K. Williams in ihrem materialhistorischen Beitrag „Recycled Rags or Dragon Intestines? Paper, Parchment, and Early Modern Dispatches“ (S. 48–62; die Bedeutung dieses Titels bleibt leider unklar). Erst die Verbreitung des in verschiedenen Qualitäten und Preiskategorien zu habenden Papiers habe die Entstehung der ständigen Diplomatie im ausgehenden Mittelalter ermöglicht, so ihre einleuchtende These. Allerdings will ihr zum Eingang gewähltes und immer wieder bemühtes Beispiel nicht recht zum Thema des Bandes passen: Es betrifft ein auf Papier statt auf Pergament geschriebenes Creditiv und somit ein ganz anderes Dokument als einen Bericht.

Lena Oetzel untersucht das Zusammenwirken von Diarien und Relationen der kursächsischen Gesandtschaft in Westfalen und deutet die beiden parallelen Berichtstrukturen als „narratives Zentrum“ (S. 121). Um dieses herum lagerten sich bei den Absendern wie in Dresden weitere Dokumente an. Nur eine gemeinsame Betrachtung, so das Ergebnis der Untersuchung, erlaubt es, ein schlüssiges Bild vom Kongressgeschehen sowie dem Verhalten der Gesandten zu zeichnen. Warum die Kurfürsten neben den thematisch-appellativen Berichten auch ein chronologisches Diarium forderten, wird allerdings nicht eigentlich klar; der Nutzen, den die Gesandten aus der Doppelstruktur zogen, aber ausführlich interpretiert.

Solche Betonungen der Vielgestaltigkeit und vielfachen Abhängigkeit paralleler diplomatischen Korrespondenzen sind die Stärke des Bandes. Der akteurszentrierte Zugriff, eine der Grundlagen praxeologischer Theorien, zieht sich entsprechend durch den gesamten Sammelband: Kongressgesandte und ständige Botschafter kommen ebenso vor wie ein Agent und kommerzielle Nachrichtensammler. Sicher interessant wäre es gewesen, sich auch den in einer einzigen Mission verschickten Gesandten zu widmen: Diplomatische Berichterstattung geschah ja nicht nur in Regelmäßigkeiten, sondern auch einmalig oder über eine eng begrenzte Zeit. Diese Perspektive hätte auch eine Möglichkeit geboten, die spezifischen Herausforderungen der Mündlichkeit aufzunehmen. Diese wird zwar erwähnt (S. 35, 97, 158), nicht aber thematisiert. Auch die Auswahl von Informationen, eine der von Christine Roll genannten zentralen Herausforderung für die Berichtenden (S. 36), kommt in den Beiträgen nicht explizit vor. Hierbei mag auch eine Rolle spielen, dass von den im Jahr 2016 in Aachen gehaltenen 14 Vorträgen nur die Hälfte in dem Band zu finden ist.

Was der Titel des Sammelbands suggeriert und die Einführung als zukünftiges Programm entfaltet, hat also mit dem tatsächlichen Inhalt der Beiträge nur hin und wieder etwas gemein. Zwar nehmen die meisten Beiträge sehr wohl Anleihen aus den Theorien zur Praxeologie – doch ist meist der „Bezug [...] eher locker“ (S. 163), wie es Marian Füssel in seinem prägnanten Kommentar formuliert. In ihm wirft er die Frage auf, inwieweit eine konsequente Praxeologie für die frühneuzeitliche Diplomatiegeschichte überhaupt anwendbar wäre. Das Verhältnis von historischer Theorie und „einem pragmatischen Eklektizismus“ (S. 164), so der Tenor seines Beitrags, ist auch auf dem Feld der Praxeologie oft nicht hinreichend geklärt.

Insgesamt hinterlässt der Sammelband also einen gemischten Eindruck: Die Aufsätze zeigen, dass das diplomatische Berichten von situativen Faktoren abhängig und keinen abstrakten Normen unterworfen war – keine unbedingt neue, aber doch eine wohl noch nicht überall angekommene Erkenntnis. So können die zahlreichen Beispiele auch wertvolles Vergleichsmaterial für Studien zu anderen Fällen bieten. Besonders bedeutend sind aber das ex post von Christine Roll entworfene Programm zur Auseinandersetzung mit Gesandtenberichten und der Kommentar von Marian Füssel: Während jenes unter Anleihen an praxeologische Überlegungen konkrete Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet, die noch fruchtbar zu machen sind, schärft dieser den Blick allgemein für methodisch-theoretische Überlegungen.

Anmerkung:
1 Darauf, dass das Programm so erst nachträglich ausgefaltet worden ist, deuten im Vergleich auch die Ankündigung und der Bericht zur Tagung hin: Thomas Dorfner, Terminankündigung: Wissen und Berichten. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive, in: H-Soz-Kult, 17.02.2016, https://www.hsozkult.de/event/id/event-80060 (30.03.2022), sowie Markus Laufs, Tagungsbericht: Wissen und Berichten. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive, in: H-Soz-Kult, 25.06.2016, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6579 (30.03.2022).

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