R. Merivirta u.a. (Hrsg.): Finnish Colonial Encounters

Cover
Titel
Finnish Colonial Encounters. From Anti-Imperialism to Cultural Colonialism and Complicity


Herausgeber
Merivirta, Raita; Koivunen, Leila; Särkkä, Timo
Reihe
Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 336 S., 21 SW-Abb.
Preis
€ 106,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Rhode, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Diskussionen der letzten Jahrzehnte zum Thema europäischer Kolonialismus haben gezeigt, dass Kolonialismus mehr ist als Besitz und Herrschaft über entfernte, überseeische Territorien. Studien, die den Kolonialismusbegriff breiter fassen und auch Faktoren wie mentale Verfasstheiten, die wirtschaftliche und kulturelle Eingebundenheit in koloniale Expansionen sowie Ideologien der Superiorität und / oder Zivilisierungsmission ernst nehmen, haben die Illusion einer kolonialen Unschuld oder eines Exzeptionalismus europäischer Länder ohne Kolonialbesitz überzeugend dekonstruiert.1 In diesen Forschungszweig reiht sich auch der angezeigte Sammelband ein, in dem zehn Autoren und fünf Autorinnen Finnland, das zwischen 1809 und 1917 Teil des Zarenreichs war und nach dem Ersten Weltkrieg unabhängig wurde, ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Es sei vorausgeschickt, dass sie dies auf eine äußerst instruktive und erhellende Weise tun. Besonders interessant ist der Fall Finnland dadurch, dass sich Finnen vornehmlich als Opfer schwedischen und russischen Imperialismus / Kolonialismus betrachten und auch die Historiographie lange Zeit diesem Deutungsmuster folgte. Erst seit etwa 2015 wendet sie sich der anderen Seite, der Verflechtung und der Komplizenschaft, zu.

Die Autorinnen und Autoren des Bandes, internationale Historikerinnen, Kultur- und Literaturwissenschaftler aus Nordeuropa, Namibia, Südafrika und Japan, stehen für diese neuen Forschungstrends. Ihre Ergebnisse zeigen, wie fruchtbar es sein kann, vermeintlich vom Kolonialismus unberührte europäische Länder genauer zu betrachten. Theoretisch lassen sich die Studien von den Klassikern der postcolonial studies (Edward Said, Homi Bhabha) leiten. Der Band ist dreigeteilt. Der Zusammenhang zwischen Nation beziehungsweise Staat und Kolonialismus (Teil I) wird durch die Beiträge der Autorenteams Pekka Rantanen, Petri Ruuska und Timo Särkkä, sowie Mika Suonpää und Matti Välimäki und durch Einzelbeiträge von Janne Lahti und Jukka Nyyssönen abgedeckt. Ihre Studien zeigen, dass die seit den 1890er-Jahren intensiver verfolgte Russifizierungspolitik im Großfürstentum Finnland und die soziale Benachteiligung von Landlosen von zum Teil entgegengesetzten Lagern des Parteienspektrums in einen globalen (anti-)kolonialen Diskurs eingebettet wurden („African slavelands“ als Bezeichnung für die von Landlosen bewohnten finnischen Gebiete, S. 55) und der finnische Nationsbildungsprozess in Abgrenzung zum Imperialismus des Zarenreichs vonstattenging. Zugleich wurden auch finnische Selbstkonzepte im Rahmen kolonialer Agency entworfen, zum Beispiel gegenüber Petsamo (Pečenga), einem Gebiet, das 1920 dem unabhängigen Finnland zugesprochen, als „neue Kolonie“ imaginiert und als weites, menschenleeres und an Wild und Fischen überreiches Land beschrieben wurde. Damit bedienten sich die Agenten dieser Entwürfe bewusst oder unbewusst der Konzepte eines Siedlerkolonialismus, wie Janne Lahti auf der Basis von Reiseliteratur überzeugend nachweisen kann. Die lokale Bevölkerung wurde dabei häufig als psychisch und körperlich „anders“ konstruiert und in die zeitgenössischen Rassendiskurse eingeordnet. Zu solchen Konstruktionen trug bekanntlich nicht nur die Reiseliteratur bei, sondern auch wissenschaftliche Schriften. Den Beitrag von Wissenschaftlern zur Produktion kolonialen Wissens (colonial science) untersucht Jukka Nyyssönen auf der Basis einer 1929 veröffentlichten Studie zu den Skoltsami in Petsamo des Anthropogeographen Väinö Tanner (1881–1948). Nyyssönen fragt danach, wie Tanner, der als zugewandter und empfindsamer Beobachter der Skoltsami gilt, dieser Gruppe während seiner Forschungen begegnete und wie er zu den Kolonisierungsprojekten stand. Nyyssönen kommt zu einem differenzierten Ergebnis: Während der schwedischsprachige Finne Tanner gegenüber nationalen finnischen Superioritätsdiskursen immun blieb und auch deshalb der Kultur der Skoltsami wertschätzend begegnete, bestand er auf „a typical colonialist presumption of (scholarly) authority“ und war „incapable of presenting the Skolt Sami as anything other than on the lowest developmental rung.“ (S. 137)

Den kolonialen Begegnungen in Finnland (Teil II) sowie außerhalb des Landes (Teil III) sind die weiteren Sektionen des Bandes gewidmet. Leila Koivunen kommt mit ihrer Untersuchung der als „Queensland Cannibals“ vermarkteten „Ausstellung“ einer Gruppe australischer Menschen, die 1886 in Helsinki und im heute russischen Wyborg gezeigt wurde, zu einem vielschichtigen Ergebnis hinsichtlich der Intensität finnischer kolonialer Praktiken und Diskurse. So wurde die Ausstellung in Helsinki von circa 8 Prozent der Bevölkerung besucht und medial breit aufbereitet. Die Werbeschriften kopierten dabei unkommentiert ein koloniales und rassistisches Vokabular. Zugleich stieß der Prozess einer einfachen Übertragung bewährter Muster aus westlichen großstädtischen Kontexten in Helsinki und Wyborg auch an seine Grenzen. Denn einige Journalisten äußerten Kritik gegenüber dieser Form der Unterhaltung oder deuteten die Tatsache, dass der ausgestellte Junge sich gegen das Anfassen durch Besucher gewehrt hatte, nicht als Ausdruck „wilder“ Gewalt, sondern parallelisierten sie mit anderen Fällen ungerechter Behandlung im lokalen Rahmen.

Dagegen erfolgte die Kolonisierung der Vorstellungen finnischer Kinder (children’s minds) ganz im Einklang mit den Stereotypen europäischen Siedlerkolonialismus, wie Raita Merivirta mit ihrer Untersuchung eines Fortsetzungsromans der berühmten finnischen Märchen- und Kinderbuchautorin Anni Swan (1875–1958) zeigen kann. Die Stereotypen untätiger, fauler und hässlicher Schwarzer, ein Kontinuum in Swans Darstellung der first nations, bettet Merivirta sowohl in die Darstellungen geographischer Lehr- und Handbücher der Zeit wie in den europäischen Rassendiskurs ein, in dem Finnen als einer vermeintlich „mongolischen Rasse“ die Zugehörigkeit zu den „nordischen Rassen“ verwehrt wurde. Diese Klassifizierung konnte im Roman durch die Fiktion einer finnischen Siedlerfamilie als weiße Zivilisationsträger konterkariert werden. Eine andere Form der mentalen Kolonisierung stellten Karten der finnischen Missionsgesellschaft dar, die diese ebenso wie ihre zweisprachigen (finnischen und schwedischen) Periodika unter eine breite Leserschaft brachte. Johanna Skurnik zeigt mit einer detaillierten Analyse dieser Karten, wie stark die finnische Leserschaft mit Missionsprojekten europäischer Kolonialmächte in Afrika vertraut gemacht wurde und an ihnen mental partizipierte. Die Gründung einer eigenen finnischen Mission in Owambo 1868 wirkte auch auf die Karten zurück, die, nun mit mehr Details ausgestattet, dazu dienten, der Leserschaft die Orientierung im deutsch besetzten „Owamboland“ zu erleichtern und den Raum mit finnischen Typonymen zu besetzen.

Der Repräsentation Owambos in der Missionsfotografie widmet sich ein Beitrag von Napandulwe Shiweda im dritten Teil des Bandes. Shiweda kommt, gestützt durch exemplarische Fotografien, die im Band reproduziert wurden, zu dem Ergebnis, dass die Fotografien zwar Teil eines kolonialen Projektes waren, in dem die lokale Bevölkerung als Beleg für den missionarischen Fortschritt inszeniert wurde, dass aber ein Teil der Fotografierten (kings and noblemen) den Darstellungsmodus beeinflussen konnte. So wird auch in dieser Studie eine binäre Betrachtung zwischen Kolonisierern und Kolonisierten vermieden. Eine methodisch hochreflektierte Fallstudie zur Siedler- und nationalen Identität des finnischen Amateurfotografen, Erzsuchers, Jägers, und zeitweiligen rhodesischen Soldaten Carl Theodor Eriksson (1874–1940) präsentiert Timo Särkkä, der über eine dichte Beschreibung Erikssons koloniale Verflechtungen analysiert. Dabei zeigt sich, dass die Kategorie der Herkunft und Ethnizität nicht vollständig dekonstruiert werden kann, sondern als generativer Faktor ernst zu nehmen ist („these concepts confer explanatory power not simply because they are generalizable but because they are also generative.“, S. 324) Die Produktivität dieser Kategorie zeigt sich auch in der Studie von Wm. Matthew Kennedy und Chris Holdridge. Sie können darlegen, wie die Migration einiger hundert Menschen, die Finnland im 19. Jahrhundert Richtung Südafrika verlassen hatten, während der „Burenkriege“ identitätsbildend nach Finnland zurückwirkte und einige nationalkulturelle Projekte dort befeuerte. Auch die Mikrostudie zu Mobilität während und nach dem Ersten Weltkrieg von Aleksi Huhta, der den Entscheidungen eines finnischen Arbeiters im Kontext des russischen Imperialismus, europäischen Kolonialismus im Kongo und finnischer mental maps von Kanada in den 1920er-Jahren nachgeht, verdeutlicht, wie stark koloniale und imperiale Orientierungen auf die Entscheidungen eines Mannes wirkten, der auf der Suche nach Landbesitz nach Kanada emigrierte und dieses ausschließlich in Kategorien der „Whiteness“ wahrnahm.

Die im Band versammelten Beiträge internationaler Expertinnen und Experten, die sich zum Teil aufeinander beziehen, bestechen durch die Klarheit der Darstellung und Stringenz der Argumentation. Sie werden der Komplexität der theoretischen Konzepte wie des menschlichen Lebens gerecht und sind gleichermaßen von Neulingen wie von Experten des Kolonialismus mit großem Gewinn zu lesen. Man wünscht sich mehr solche klug konzipierten Bände, minutiös durchgeführten Studien und luzide dargelegten Ergebnisse.

Anmerkung:
1 Siehe hierzu auch Michael W. Dean, Imperial Ambitions: The Campaign for Czechoslovak Colonies on the Eve of the Paris Peace Conference, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 71 (2022), S. 81–100; Bernhard C. Schär, Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900, Frankfurt am Main 2015; Patricia Purtschert / Harald Fischer-Tinné (Hrsg.), Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins, Basingstoke 2017.