Cover
Titel
Rauchen in der Pulverfabrik. Friedrich Dürrenmatts politisches Denken im Kalten Krieg


Autor(en)
Fischer, Michael
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kapp, Literaturarchiv der Akademie der Künste, Berlin

Zum 100. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts (1921–1990) veröffentlichte der Diogenes Verlag 2021 eine revidierte Werkausgabe des Schweizer Schriftstellers in 38 Bänden und eine textgenetische Edition seines späten „Stoffe-Projekts“ in fünf Bänden, die auch online verfügbar ist.1 Wahrlich viel Stoff für Michael Fischers Dissertation über „Dürrenmatts politisches Denken im Kalten Krieg“. Fischer formuliert zwei übergreifende Erkenntnisinteressen, ein im engeren Sinne politisches und ein poetologisches: Das erste bezieht sich auf Dürrenmatts „Suche nach einem ‚dritten Weg‘ jenseits der ideologischen Konfrontation der beiden Supermächte“ (S. 23), das zweite auf die Frage, „mit welchen poetischen Verfahren er in seinen literarischen Werken auf die Narrative, Denkmuster und Ordnungsvorstellungen des Kalten Krieges reagierte“ (S. 14).

Die Fülle des Materials wird in der Studie in vier nicht als solche gekennzeichnete Abschnitte gegliedert, die die Schwerpunkte von Dürrenmatts Beschäftigung mit dem Kalten Krieg abbilden: „Nachkriegszeit“ (1945–1962), „Die 68er-Bewegung“, „Eine neue ‚heisse‘ Phase im Kalten Krieg“ (um 1980) und „Das Ende des Kalten Krieges“ (1980er-Jahre bis 1990). In jedem Abschnitt folgen auf eine historische Einleitung Kapitel zu einzelnen Werken und öffentlichen Interventionen Dürrenmatts: von der Komödie „Die Ehe des Herrn Mississippi“ (1952) bis zu einer Laudatio auf Michail Gorbatschow (1990). Ereignisgeschichte und literarische Analyse sind so mehr nebeneinandergestellt als verschränkt – teils lesen sich die Analysen wie ein ausformulierter Stellenkommentar. Die wesentlichen Argumentationslinien werden dennoch sichtbar.

Im Anschluss an Mary Kaldor, David Eugster und Sibylle Marti2 versteht der Verfasser den Kalten Krieg auch als Kampf um die Imaginationen: „Es entstanden kognitive Raster, welche die Wahrnehmung der Menschen und ihr politisches Denken prägten.“ (S. 14) Diese kulturhistorische Herangehensweise bedingt die Vielfalt der Methoden: Neben „intertextuellen und textgenetischen Interpretationen wird im Sinne einer literatursoziologischen Analyse auch Dürrenmatts Selbstinszenierung im öffentlichen Diskurs thematisiert“ (S. 37). Untersucht werden vor allem Reden und Essays, zwei Theaterstücke, ein Hörspiel und ein Teil des Werkkomplexes der „Stoffe“, „Der Winterkrieg in Tibet“ (1981), in dem autobiographische und politische Reflexionen in eine Erzählung münden. Weitere Texte Dürrenmatts werden punktuell herangezogen, wenn das Thema es erfordert. Quellen sind die einschlägige Historiographie zur Geschichte des Kalten Krieges, die Werke Dürrenmatts und, in geringerem Umfang, auch sein Nachlass.

Dürrenmatt wollte sich mit keinem der Machtblöcke gemein machen. Er verstand sich als Nichtkommunist und Anti-Antikommunist. Als Bürger unterstützte er etwa die 1961 erfolglose Volksinitiative gegen die atomare Aufrüstung der Schweiz, organisierte 1968 eine Veranstaltung gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei, protestierte gegen die Verhaftung Václav Havels, forderte das Recht auf Wehrdienstverweigerung in der Schweiz.

In den fiktionalen Texten, die Fischer analysiert, versuchen sich die Protagonisten dem Zwang zur Befürwortung der einen oder anderen Seite zu entziehen. Dabei kann der Autor eine Entwicklung herausarbeiten: Dominierten bei Dürrenmatt bis in die Mitte der 1950er-Jahre unter dem Einfluss Søren Kierkegaards religiöse Interpretationsmuster, säkularisierte sich der Schriftsteller späterhin. Die mutigen Helden seiner Theaterstücke, die sich die Freiheit des autonomen Denkens und Handelns herausnehmen, werden zu ironischen Figuren. Der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen bewusst, vertreten sie nichtsdestotrotz eine ethische Position. Dabei habe sich Dürrenmatt durchgehend der „Stilmittel der Groteske, der Ironie, der Satire und der Parodie“ bedient (S. 241). Fischer zieht bei dieser Bestimmung immer wieder poetologische Selbstaussagen Dürrenmatts heran, ohne diese allerdings ausreichend zu hinterfragen.3 Deswegen bleiben die Begriffe Groteske, Ironie, Satire und Parodie als Stilmittel oder Gattung bei ihm unscharf.

Auch die untersuchten essayistischen Texte enthalten fiktionale Elemente, etwa Parabeln. Fischer situiert sie in der Geschichte des Kalten Krieges und arbeitet Dürrenmatts Positionen heraus. Einem vorherrschenden Freund-Feind-Schema im Denken begegne Dürrenmatt mit dem Versuch, durch ein „Spiel mit den Fiktionen […] die Politik aus einer anderen, ungewohnten Perspektive zu betrachten und dadurch den Zuhörer oder Leser zum kritischen Nachdenken über die politischen Verhältnisse anzuregen“ (S. 137). Auch bei dieser sicher nicht falschen Einschätzung rekurriert Fischer auf Selbstaussagen Dürrenmatts. Dadurch geraten die Widersprüche in Dürrenmatts Denken etwas aus dem Blick. Gewiss wollte sich Dürrenmatt, wie Fischer schreibt, von einer Totalitarismustheorie, die Kommunismus und Faschismus gleichsetzte, als „ideologische[m] Produkt des Kalten Krieges“ (S. 244) abgrenzen. In dem von Fischer untersuchten „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel“ (1968/69) findet sich dennoch eine Totalitarismustheorie: „Der heutige Kommunismus ist deshalb in vielem ein logisch getarnter Faschismus, ein faschistischer Staat mit einer sozialistischen Struktur.“4

Erst im resümierenden Schlusskapitel wird, wenn auch nur in einem Absatz, Dürrenmatts sonst gelobte Analyse des Kalten Krieges vorsichtig kritisiert: „Die statische Konzentration zweier Positionen, die das binäre System des Kalten Krieges ausmacht, findet sich auch in seinen literarischen Fiktionen wieder. Die modellhafte Fixierung in seinen Gedankenexperimenten auf die Begriffsvariation Freiheit und Gerechtigkeit, Kapitalismus und Kommunismus wirkt teilweise schematisch.“ (S. 242) So richtig die Kritik ist, hätte sie doch am konkreten Text exemplifiziert werden können. Deshalb bleibt unklar, was jeweils die „gewisse[n] Grenzen“ sind, die der „Kalte Krieg auch seinen [d.h. Dürrenmatts] literarischen Imaginationen“ setzte (ebd.). So wären Dürrenmatts nicht nur individuelle kognitive Raster etwa anhand der von Fischer überzeugend nachgewiesenen verschiedenen Formen eigenwilliger Konvergenztheorien herauszuarbeiten, die davon ausgingen, dass beide Systeme sich annähern würden: Sei es, wie in der Komödie „Die Physiker“ (1962), weil die Vertreter beider Systeme gezwungen sind, um die technische Expertise des freiwillig ins Irrenhaus gegangenen Naturwissenschaftlers zu buhlen; oder weil Dürrenmatt sich in den 1970er-Jahren ausrechnete, bei weiter zunehmender Weltbevölkerung würden die ökologischen Grenzen des Wachstums zu einer sozialistischen Verteilung der knappen Ressourcen zwingen (S. 143).5 Am deutlichsten werden Dürrenmatts Grenzen der Imagination in den sein Werk durchziehenden apokalyptischen Bildern. Immer wieder wird das menschengemachte oder kosmisch notwendige Ende der Welt beschworen. Sub specie aeternitatis wird Dürrenmatt alles Irdische fraglich. Alle Systeme konvergieren in einer atomaren Apokalypse oder einer Zukunft, in der die Erde von der expandierenden Sonne geschluckt wird.6 Diese Bilder sind aber nicht nur als Ausdruck seines „schwarzen Humors“ (S. 247) oder mit Verweis auf die christliche Apokalyptik (S. 248) zu erklären, die die Katastrophe als das jeweils Bevorstehende imaginiert, sondern als Ausdruck eines „atomic scare“, dessen politische Indienstnahme Dürrenmatt im Zusammenhang mit dem extensiven Bunkerbau in der Schweiz selbst kritisiert hatte.7

Michael Fischer hat eine eingängig geschriebene Studie vorgelegt, die sich als Nachschlagewerk zu Dürrenmatts Stellungnahmen im Kalten Krieg eignet. Man erfährt Grundlegendes über seine Kritik am Selbstbild der Schweiz als Hort der Neutralität und seinen Versuch, mittels liberaler Äquidistanz zu allen ideologischen Formationen jenseits des „imaginären Krieges“ einen „dritten Weg“ zu finden. Das Buch bietet das Material, durch einen Vergleich mit anderen Intellektuellen diesem „Schlagwort“, dem so schwer „eine klare Bedeutung zuzuschreiben“ ist (S. 25), Kontur zu verleihen.8

Anmerkungen:
1 Vgl. Manfred Orlick, Die Wiederentdeckung eines Jahrhundertautors. Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt, in: literaturkritik.de, 04.01.2021, https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27506 (16.05.2022). Dürrenmatts Stoffe-Projekt online: https://fd-stoffe-online.ch (16.05.2022).
2 Mary Kaldor, Der imaginäre Krieg. Eine Geschichte des Ost-West-Konflikts. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Aus dem Englischen von Michael Haupt und Thomas Laugstien, Hamburg 1992; David Eugster / Sibylle Marti (Hrsg.), Das Imaginäre des Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen 2015.
3 Zeitgenössisch wies Peter von Matt in einem Text zu Dürrenmatts 60. Geburtstag 1981 darauf hin: „Man darf nie meinen, die vielzitierten Stellen, in denen Dürrenmatt seine Poetik formuliert, enthielten diese Poetik tatsächlich ganz.“ Wiederabgedruckt als: Peter von Matt, Von Bildern heimgesucht. Zu Friedrich Dürrenmatt, in: ders., Der Zwiespalt der Wortmächtigen. Essays zur Literatur, Zürich 1991, S. 88–94, hier S. 90f.
4 Wiederabgedruckt in: Friedrich Dürrenmatt, Gesammelte Werke, Bd. 7: Essays, Gedichte, Zürich 1996, S. 619–690, hier S. 668f.
5 Auch hier verlohnte ein genauerer Blick, wird dieses Gesetz der großen Zahl doch vom Protagonisten in „Der Winterkrieg in Tibet“ als falsch bezeichnet und lächerlich gemacht. Friedrich Dürrenmatt, Der Winterkrieg in Tibet, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6: Stoffe, Zusammenhänge, Zürich 1996, S. 11–168, hier S. 100.
6 Dürrenmatts Blick in das Weltall, mit dem er immer auch irdische Verhältnisse erklären will, ist beeinflusst vom Kalten Krieg. Seine Metaphorologie projiziert den Wirtschaftsliberalismus in die Sterne: „Ein Energiegleichgewicht stellt sich dann ein, wenn sich das Angebot nach der Nachfrage richtet. Bei einem Blauen Riesen, einer Sonne mit einer schwachen Konvektionszone […] übertrifft das Angebot die Nachfrage, ein Konkurrenzkampf ohnegleichen findet im Innern eines solchen Sterns statt.“ Ebd., S. 110f. Vgl. dazu auch Monika Schmitz-Emans, Der Metaphoriker als Ptolemäer zweiter Ordnung. Zur Semantisierung von Gestirn und Sternbild bei Friedrich Dürrenmatt, Italo Calvino und Cees Nooteboom, in: Maximilian Bergengruen / Davide Giuriato / Sandro Zanetti (Hrsg.), Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006, S. 295–311.
7 Für ein breiteres Spektrum solcher Literatur siehe Emilia Fiandra, Von Angst bis Zerstörung. Deutschsprachige Bühnen- und Hördramen über den Atomkrieg 1945–1975, Göttingen 2020; rezensiert von Christoph Deupmann, in: H-Soz-Kult, 25.03.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93079 (16.05.2022). Einige Werke Dürrenmatts sind in diesem Buch auch berücksichtigt.
8 Da Fischers Fokus meist auf Dürrenmatt gerichtet ist, bleiben andere Positionen unterbelichtet. Den „innenpolitischen Gegensatz von links und rechts“ nur als Spiegelung der „Polaritäten des Kalten Krieges“ (S. 117) zu deuten, ist so pauschal wie die Rede vom nach 1968 vorherrschenden „Linkskonformismus“ (S. 132, S. 243) im Kulturbetrieb.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch