Was blieb von Russlands Macht am Nordpazifik, nachdem das Zarenreich Alaska 1867 an die USA verkauft hatte? Mit dieser Frage beschäftigt sich Robert Kindler in seiner nun veröffentlichten Habilitationsschrift. Im Zentrum der Darstellung stehen die Kommandeurinseln, eine Inselgruppe östlich von Kamtschatka, die lediglich ein paar hundert dauerhafte Bewohner aufwies und in St. Petersburg und Moskau zuweilen fast vergessen wurde. Doch in Kindlers Darstellung entpuppen sich die Kommandeurinseln als bedeutender Knotenpunkt im weltumspannenden Netz des Handels mit Robbenfellen und als Kristallisationspunkte russischer und sowjetischer imperialer Machtansprüche gegenüber der US-amerikanischen, britisch-kanadischen und japanischen Konkurrenz im Nordpazifik.
Das Buch umfasst 400 Seiten Lesetext, der aber in verdauliche Häppchen gegliedert ist. In fünf annähernd chronologisch aufeinanderfolgenden Hauptkapiteln behandelt Kindler die Entwicklung vom Beginn des russländischen Ausgreifens in den Nordpazifik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis ins Jahr 2020, wobei der Schwerpunkt der Darstellung auf der Zeit zwischen 1867 und den 1930er-Jahren liegt. Da die Schauplätze der Erzählung ständig wechseln, werden beim Lesen immer wieder neue Perspektiven eröffnet. So lernen wir die Lebensbedingungen der Aleut:innen kennen, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf den Kommandeurinseln angesiedelt wurden, um dort Robben zu töten. Phasenweise genossen sie als unentbehrliche Spezialisten einen bescheidenen Wohlstand, doch meistens lebten sie unter mehr oder weniger elenden Umständen. Immer aber waren sie kolonialer Geringschätzung, imperialem Misstrauen und einem strikten Disziplinarregime unterworfen. Mehrfach vergleicht Kindler die Kommandeurinseln mit den Alaska vorgelagerten Pribilof-Inseln, die 1867 vom Zarenreich an die USA abgegeben worden waren. Die Amerikaner wählten zeitweise andere – und, wie Kindler argumentiert, oft erfolgreichere – Wege zur Verwaltung und Ausbeutung ihrer Inseln. Ein weiterer Schauplatz des Buchs ist das offene Meer. Stets an der Grenze der Legalität agierend, versuchten hier amerikanische, kanadische und japanische Robbenfänger von Schiffen aus ihr Glück bei der Robbenjagd. In der Hoffnung auf einen großen Fang setzten die Jäger ihr Leben aufs Spiel, einige wurden dafür als Volkshelden verehrt. Das Buch gibt darüber hinaus Einblicke in die Verwaltungsstuben auf Kamtschatka und in Wladiwostok, wo man sich um die Gewinne aus dem Fellhandel und um das Prestige des Imperiums sorgte, aber bestenfalls eine rudimentäre Präsenz in der Region sicherstellen konnte. Die Regierung in St. Petersburg und später in Moskau wiederum hatte oft nur eine vage Vorstellung von den Zuständen am Nordpazifik und war meist deutlich schlechter informiert als die Pelzhändler in San Francisco, von denen die Inseln wirtschaftlich abhängig waren. Neben den Bekleidungsmessen in Leipzig und London, wo die Nachfrage nach Robbenpelzen stets zu wachsen schien, bilden die diplomatischen Verhandlungen, auf denen internationale Abkommen zum Schutz der Robben geschlossen werden sollten, weitere Orte des Geschehens.
Die kaleidoskopartige Zusammenschau verschiedener Handlungsstränge ermöglicht eine Vielzahl überraschender Einblicke, erschwert aber an manchen Stellen den Blick auf chronologische Entwicklungen und größere Zusammenhänge. Immer wieder werden für das Verständnis einzelner Episoden notwendige Hintergrundinformationen erst später gebracht. So braucht es mehr als 200 Seiten, bis Kindler die dramatische Abnahme des Robbenbestandes zwischen 1880 und 1910 beschreibt (S. 211), obwohl diese Informationen schon mehrfach zuvor notwendig gewesen wären. Manch Erzählstrang versandet auch unfertig, so etwa die Episode zu Alexander McLean, einem legendären US-amerikanischen Robbenfänger (S. 179–183), oder die Frage, ob die Sowjetunion als Nachfolgerin des Zarenreichs die Fur Seal Convention anerkennen würde (S. 370f.).
Das Buch beruht auf einer beeindruckenden Breite an Quellenbeständen: Archive der Verwaltung in St. Petersburg, Moskau, Wladiwostok und auf Kamtschatka, aber auch in Washington, London und Berlin, sowie Bestände von Bibliotheken und wissenschaftlichen Institutionen auf drei Kontinenten liegen der Arbeit zugrunde. Auf diese Weise kann Kindler ein facettenreiches Bild der Kommandeurinseln, des globalen Pelzhandels und der russischen Machtansprüche am Nordpazifik zeichnen. Lediglich die japanische Perspektive wird nur kurz angerissen. Mit seinem Fokus auf den Nordpazifik und dem imperial- und globalgeschichtlichen Zugang schließt Kindlers Buch in mancher Hinsicht an Martina Winklers Studie „Das Imperium und die Seeotter“ an.1 Kindler allerdings greift auch mikrogeschichtliche Ansätze sowie Fragestellungen aus der Umweltgeschichte und der Wirtschaftsgeschichte auf, während Winkler die Wahrnehmung des Raums ins Zentrum ihrer Untersuchung stellt. Zudem endet Winklers Darstellung mit dem Verkauf Alaskas. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Handel mit Seeotterfellen bereits an Bedeutung verloren, während Robbenfelle nun zu einem gefragten Gut am internationalen Modemarkt wurden. Kindler kann zeigen, dass manches auch über die Zäsur von 1867 hinweg unverändert blieb. Nach dem Verkauf Alaskas und der Abwicklung der Russisch-Amerikanischen Kompagnie traten andere Konzessionsnehmer deren Erbe an. Diese Privatunternehmen erhielten das Monopol im Robbengeschäft und verpflichteten sich im Gegenzug, Zahlungen an den Staat zu leisten, auf den Inseln eine rudimentäre Infrastruktur aufrechtzuerhalten, und die Aleut:innen zu versorgen. Auch in den verbliebenen russländischen Gebieten kam zunächst mit der Alaska Commercial Company eine amerikanische Firma zum Zug. Doch selbst als ab 1891 russländische Firmen beauftragt wurden, blieb der amerikanische Einfluss in der Region enorm, und zwar bis in die 1930er-Jahre, wie Kindler zeigt. So bildet denn auch die „fragmentierte Autorität“ (S. 14f.) Russlands, die vor Ort schwach ausgeprägt war und stets gegen ausländische Konkurrenten behauptet werden musste, den roten Faden des Buchs.
Die zentrale These der Arbeit lautet, dass das Zentrum des Imperiums in St. Petersburg bzw. Moskau bis in die 1930er-Jahre zwar stets am lukrativen Handel mit den Robbenfellen verdienen wollte, aber kaum je selbst in der Lage war, die Region zu verwalten, zu versorgen und ökonomisch in Wert zu setzen. Es war daher dauerhaft auf die Zusammenarbeit mit ausländischen, vor allem amerikanischen Firmen angewiesen. Paradoxerweise war es dann aber genau diese ausländische Präsenz, die im Zentrum Ängste vor imperialem Kontrollverlust aufkommen ließ und das Zarenreich und später die Sowjetunion dazu zwang, zumindest eine minimale Präsenz in der Region aufzubauen. Die großen historischen Umbrüche wie der Verkauf Alaskas, die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg sowie der Zerfall der Sowjetunion führten regelmäßig zum Zusammenbruch des lokalen wirtschaftlichen und administrativen Systems. Es dauerte jedes Mal Jahre, bis wieder eine funktionierende Verwaltung aufgebaut und die Anbindung an das Zentrum sichergestellt werden konnte. In solchen Phasen ging der Bestand an Robben teilweise dramatisch zurück, weil der Staat illegale Jagdpraktiken nicht unterbinden konnte. Doch auch die reguläre Jagd hatte katastrophale Folgen. Bereits um 1900 standen die Robbenherden erstmals vor dem Aussterben. Kindler präsentiert die Fur Seal Convention von 1911, die zwischen dem Zarenreich, den USA, Japan und Großbritannien abgeschlossen wurde, als Rettung im letzten Augenblick, und darüber hinaus auch als einen Meilenstein des Völkerrechts (S. 297).
Es fällt auf, dass Kindler immer wieder die Unzulänglichkeit der zarischen wie auch der sowjetischen Verwaltung thematisiert, denen er mehrfach attestiert, gescheitert zu sein. Positive Entwicklungen hingegen werden oft nicht angesprochen und lassen sich nur daraus erschließen, dass es später (wieder) schlechter wurde. So heißt es, dass die Aleut:innen ab den 1970er-Jahren „zunehmend marginalisiert“ wurden (S. 382). Das setzt voraus, dass sie in den Jahrzehnten zuvor zumindest begrenzten Einfluss besessen haben mussten – was in dem Buch aber nicht angesprochen wird. Ähnlich verhält es sich mit der Entwicklung der Robbenbestände, die sich zwischen 1917 und 1937 „nur“ verdoppelten (S. 370). Nach der ausführlichen Darstellung des Chaos und des Machtvakuums während und nach dem Bürgerkrieg erstaunt es, dass es den Behörden offenbar trotzdem gelungen war, die illegale Robbenjagd zu unterbinden und die Bestände zu stabilisieren. An solchen Stellen scheint es, dass Kindler manchmal auf notwendige Zwischentöne verzichtet, um seine (grundsätzlich überzeugende) These von Russlands „fragmentierter Autorität“ noch stärker zu untermauern. Dessen ungeachtet hat Kindler ein gutes und wichtiges Buch vorgelegt. Es zeigt die imperien- und kontinenteübergreifende Bedeutung einer oft vergessenen Region auf, bewegt sich analytisch auf hohem Niveau und ist dabei sehr flüssig geschrieben. Es ist zu hoffen, dass das Buch große Verbreitung findet.
Anmerkung:
1 Martina Winkler, Das Imperium und die Seeotter. Die Expansion Russlands in den nordpazifischen Raum. 1700–1867, Göttingen 2016.