Die von Bert Becker vorgelegte Studie zu Frankreich und Deutschland im Südchinesischen Meer zwischen 1840 und 1930 entwickelt eine interessante neue Perspektive auf das Verhältnis von imperialer Machtentfaltung zweier europäischer Nachbarstaaten im Fernen Osten und wachsendem wirtschaftlichem Wettbewerb, der zwischen transnational agierenden Kaufleuten und Unternehmern rund um das „asiatische Mittelmeer“ (Denys Lombard) ausgetragen wurde. Als Hauptschauplätze des Geschehens hat Becker zum einen Hongkong, seit dem Ersten Opiumkrieg (1839–1842) eine britische Kronkolonie in China, die sich rasch zu einem bedeutenden neuen Umschlagplatz des Welthandels entwickelte, zum anderen die Hafenstädte Saigon und Haiphong in Französisch-Indochina sowie die französische Konzession Guangzhouwan nordöstlich der Insel Hainan an der Küste Chinas ausgewählt. Er stellt also nicht etwa die französische und die deutsche Einflusssphäre in Ostasien nebeneinander, um sie systematisch miteinander zu vergleichen, sondern er konzentriert sich – abgesehen von Hongkong – ganz auf das expandierende französische Kolonialreich und fragt nach der Entfaltung des Wettbewerbs zwischen den jeweils einheimischen und neu hinzukommenden Kaufleuten und Schifffahrtsgesellschaften unter den maßgeblich von der französischen, geostrategisch motivierten Außen- und Kolonialpolitik geprägten Bedingungen. Mit dem Südchinesischen Meer nimmt Becker eine Weltregion in den Blick, in der es schon seit Jahrtausenden – wie in einem einleitenden Kapitel knapp und konzise umrissen wird – einen lebhaften innerasiatischen Handel gab, an dem sich persische, arabische, jüdische, indische, malaiische und vor allem chinesische Kaufleute und Seefahrer beteiligten; die seit dem späten 17. Jahrhundert und vermehrt dann im 19. Jahrhundert in diese Region eindringenden europäischen, amerikanischen und japanischen Schifffahrts-, Handels- und Industrieunternehmen trugen jedoch zu tiefgreifenden wirtschaftlichen Veränderungen bei.
Die eigentliche Darstellung, die auf einer breiten, in europäischen wie asiatischen Archiven teils ganz neu erschlossenen Quellenbasis beruht, gliedert sich in vier Kapitel zu Hongkong (S. 47–121), Saigon (S. 123–234), Haiphong (S. 235–384) und – knapper gehalten – Guangzhouwan (S. 385–-445). Hatten sich in Hongkong frühzeitig deutsche Kaufleute angesiedelt und erlangten neben den britischen Häusern am Ende des langen 19. Jahrhunderts eine starke wirtschaftliche Stellung, so blieben französische Kaufleute in der britischen Kronkolonie – trotz einiger namhafter Firmen, wie die von Auguste Raphael Marty oder Louis Sculfort – nahezu unbedeutend. Im südvietnamesischen Saigon dagegen, das 1859 von den Franzosen besetzt wurde und die wichtigste Hafenstadt in den Provinzen des Mekong-Deltas war, die wiederum nur zwei Jahre später als Cochinchina ganz unter französische Herrschaft gelangten, konnten französische Kaufleute besser Fuß fassen. Sie kamen in erster Linie – wie beispielsweise Denis Frères – aus Bordeaux, richteten neue Schifffahrtslinien nach Hongkong, Singapur und anderen Häfen der Region ein, importierten neben britischer Kohle wachsende Mengen an französischen Industrieprodukten und exportierten vor allem Reis. Daneben etablierten sich in Saigon aber auch britische und deutsche Firmen, wie etwa Kaltenbach, Engler & Co., aus denen Speidel & Co. hervorgingen. Sie alle knüpften Verbindungen zu den in Saigon traditionell stark präsenten chinesischen Kaufleuten, profitierten von ihren wechselseitigen, im Wettbewerb miteinander vorangetriebenen Geschäften und stabilisierten zugleich – über steigende Steuern und Abgaben – die französische Kolonialherrschaft. Becker gelingt es in diesem Kapitel hervorragend, die Auswirkungen des in Europa ausgetragenen deutsch-französischen Krieges von 1870/71 auf das Verhältnis der verschiedenen wirtschaftlichen Akteure in Cochinchina zu zeigen. Nach dem deutschen Sieg stand zeitweilig sogar die Abtretung Cochinchinas statt Elsass-Lothringens an das Deutsche Reich zur Debatte, was unter deutschen Kaufleuten, die unter den Bedingungen des „partizipierenden Kolonialismus“ (Bert Becker) in Cochinchina bisher gute Geschäfte gemacht hatten, umstritten war und von Reichskanzler Otto von Bismarck letztlich auch abgelehnt wurde. Schon im Frühjahr 1871 durften deutsche Schiffe und Kaufleute nach Saigon zurückkehrten, sahen sich nun allerdings mit vermehrten politischen Interventionen und einem von wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten geprägten Umfeld konfrontiert.
Von der französischen Zollpolitik wurden ausländische Firmen in Saigon und anderen Häfen Französisch-Indochinas, zu dem nach der Tonkin-Krise von 1882/83 auch die mittleren und nördlichen Provinzen Vietnams zählten, nun beispielsweise bewusst benachteiligt. Das Haus Speidel & Co. in Saigon mit seiner 1884 etablierten und gut florierenden Niederlassung in Haiphong hielt das jedoch nicht davon ab, kräftig in den Ausbau von Reismühlen zu investieren; und zur Diversifizierung ihrer Geschäfte setzten Speidel & Co. neben dem Reishandel offenkundig verstärkt auf den (weiterhin zollfreien) Import französischer Produkte. Leider gewähren die in öffentlichen Archiven überlieferten Dokumente, insbesondere die von Becker zahlreich neu erschlossenen Berichte der deutschen und französischen Konsuln und Regierungsstellen, die stellenweise vielleicht mit etwas zu stark überbordender Freude und ohne Rückbezug auf die übergeordnete Fragestellung ausgebreitet werden, keinen näheren Einblick in die unternehmerischen Kalküle dieser bisher wenig beachteten Firma – ein generelles Problem der Forschung zu den Kaufleuten des 19. Jahrhunderts. Für die vorliegende Studie ist das Unternehmensarchiv von Jebsen & Jessen im dänischen Aabenraa, in dem Überlieferungen sowohl der Reederei von Michael Jebsen als auch der Tochtergesellschaft Jebsen & Co. in Hongkong zu finden sind, deshalb ein Glücksfall, den Becker insbesondere für das Kapitel zu Haiphong zu nutzen weiß.
In diesem Herzstück des Buches gelingt es dem Autor, nicht nur die Ursachen, Hintergründe und Implikationen der wachsenden politischen Spannungen zwischen den Großmächten in Ostasien zu verdeutlichen. Er veranschaulicht auch die Dynamik des zunehmend durch politische Ambitionen überlagerten und durch staatliche Subventionen verzerrten Wettbewerbs zwischen den französischen, britischen und deutschen sowie den in Haiphong besonders stark vertretenen chinesischen Kaufleuten und Schifffahrtsgesellschaften. Die von chinesischen Handelsgilden ausgehenden wiederholten Boykotte der staatlich subventionierten französischen Schifffahrtsgesellschaft Marty et d’Abbadie bzw. ihrer Tochtergesellschaft Compagnie de Navigation Tonkinoise, die deutsche und britische Anbieter wie Michael Jebsen oder Butterfield & Swire zu nutzen versuchten, bevor sie sich – unter Einwirkung der Konsulate und diplomatischen Vertretungen ihrer Länder – auf wettbewerbsbeschränkende Abkommen verständigten, sind dafür Paradebeispiele. Die Antwort der chinesischen Kaufleute in Haiphong war die Gründung einer eigenen Dampfschifffahrtsgesellschaft, die Schiffe günstigerer Anbieter charterte, u.a. aus Norwegen, sodass schließlich sowohl Michael Jebsen als auch Butterfield & Swire ihre Frachtraten herabsetzten, während allein Marty et d’Abbadie weiter auf staatliche Subventionen setzten; diese wurden ihnen allerdings nicht mehr unbesehen gewährt.
Anders als in Saigon und Haiphong erfüllten sich die wirtschaftlichen Erwartungen in die französische Konzession Guangzhouwan, die der chinesischen Regierung im Mai 1898 abgerungen wurde und die zur Umsetzung großangelegter Eisenbahn- und Bergbauprojekte in den südchinesischen Provinzen genutzt werden sollte, so gut wie gar nicht. Das lag nicht nur am mangelnden Interesse französischer Kaufleute, Unternehmer und Investoren, die das wirtschaftliche Potenzial des Hinterlandes gering einstuften, sondern auch an der französischen Politik. Diese orientierte sich schon 1902 um und suchte die eigenen imperialen Ambitionen und den Flottenausbau mit Rücksicht auf eine inzwischen geschmiedete Allianz mit Russland und Großbritannien nicht länger mit Priorität voranzutreiben, sondern setzte in Ostasien nunmehr ganz auf die Konsolidierung Französisch-Indochinas. Nach dem Abzug der französischen Truppen aus Guangzhouwan blieb dort selbst die Schifffahrt mehr oder weniger dem freien Wettbewerb überlassen, in dem sich die Firmen Jebsen sowie Butterfield & Swire gegenüber französischen Anbietern durchzusetzen wussten.
Becker ist mit seinem Buch eine innovative, auf breiter Kenntnis der deutsch-, englisch- und französischsprachigen Literatur sowie der einschlägigen Archive in Europa und Asien beruhende, bestens recherchierte und zu weiteren Forschungen anregende Studie gelungen. Am Beispiel des Südchinesischen Meeres verdeutlicht sie die enge Verflechtung von imperialer Politik und wirtschaftlichen Interessen verschiedener Akteure bis in die 1920er-Jahre hinein, die sich keineswegs allein unter machtpolitisch-nationalen Gesichtspunkten strukturieren lassen, auch nicht nach der Zäsur des Ersten Weltkrieges. Dem Buch sind deshalb – trotz des prohibitiven Ladenpreises für die gedruckte Ausgabe – möglichst viele, sowohl unternehmens- als auch globalhistorisch interessierte Leser zu wünschen!