Seinen legendären Ruf hatte es schon in der Weimarer Republik: Das Berliner Institut für Sexualwissenschaft, kurz nach der Revolution von 1918/19 von dem jüdischen Arzt und Pionier der deutschen Homosexuellenbewegung Magnus Hirschfeld gegründet, gewann als weltweit erste Forschungsstätte ihrer Art rasch internationale Ausstrahlung. Es avancierte zum Hauptquartier der deutschen Sexualreformbewegung und zog zugleich wie keine zweite wissenschaftliche Institution den Hass antisemitischer und demokratiefeindlicher Kräfte auf sich. Neun Jahrzehnte nach seiner Zerstörung durch das NS-Regime legt Rainer Herrn eine fulminante, erstmals wirklich umfassende Gesamtdarstellung vor. Das Mammutwerk zieht eine Bilanz der schwierigen Bemühungen, die 1933 in alle Welt zerstreuten Quellen zu sammeln, und wirft ein neues Licht auf die Theorie- und Praxisarbeit der Institutsbelegschaft.
Als dieser Band im Sommerprogramm des Suhrkamp Verlags auftauchte, durfte man gespannt sein. Rainer Herrn, seit 1991 Mitarbeiter der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG) in Berlin, hatte ein solches Werk erstmals Mitte der 1990er-Jahre angekündigt, ursprünglich als Begleitband zu einer Ausstellung. Aber, um dies vorwegzunehmen: Irgendwelche Schwere der Anstrengung ist dem lange erwarteten Werk nicht anzumerken. Ebenso wenig lassen sich die Schichten seiner Entstehung noch erahnen. Man hält im Gegenteil ein glänzend eingängig geschriebenes Werk in der Hand, was dem mitunter komplexen Gegenstand unbedingt zugutekommt.
Das liegt auch an einer Konzeption, die allen Regeln der Kunst führender Publikumsverlage folgt, aber auch seinen bekannten Preis hat. Wer mit der Einbettung in aktuelle (Forschungs-)Diskussionen rechnet, wird enttäuscht. Das Werk startet einigermaßen unvermittelt ohne ein solches akademisch übliches Geländer. Durchgehend werden erzählerische und analytische Elemente unaufdringlich miteinander verknüpft. Auf Forschungskontroversen geht Herrn indes nur ein, wo es ihm vollkommen unverzichtbar erscheint.
Die mit 60 Seiten angemessen ausführliche Einleitung gilt der Vorgeschichte. Das geschieht über eine wissenschafts- und kulturhistorisch fundierte Nachzeichnung der Werdegänge des späteren Gründers und einiger seiner Mitstreiter:innen im wilhelminischen Kaiserreich. Diese Abschnitte profitieren von bereits andernorts entfalteten Einsichten Herrns zum verwickelten Verhältnis von Sexualforschung und -politik in Hirschfelds Wirken.1
Diese Verklammerung erhielt schon 1897 mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), der historisch ersten Organisation für die Rechte Homosexueller, Konturen. Herrn verhandelt sie mitsamt der Genese von Hirschfelds berühmter Theorie von den sexuellen Zwischenstufen im Rang eines „Denkstils“. Plausibel wird dieser Zugriff bereits im Licht der außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte dieses Mediziners, der zeitlebens in außeruniversitären Strukturen agierte. Hirschfelds zentrale Theoreme mochten umstritten sein. Aber sie fanden schon vor dem Ersten Weltkrieg in praktisch allen relevanten Lehrbüchern einen Platz, bevor sie in der Weimarer Republik in popularisierter Form kulturelles Allgemeingut wurden, aber eben auch „wissenschaftliche Leitidee für die meisten Mitarbeiter“ (S. 31) blieben. Eingefasst in das Motto „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“, drückte Hirschfeld damit nicht nur dem WhK seinen Stempel auf, sondern schuf, so Herrn, auch eine regelrechte „Sexualwissenschaft Hirschfeld’scher Prägung“, deren Entstehung zugleich im Umfeld der „sozialen Bewegungen“ der Jahrhundertwende verortet werden müsse (S. 48).
Die Institutsgeschichte wird weitgehend entlang von Stationen erzählt, die Herrn bereits anderswo zu ihrer Periodisierung vorgeschlagen hat.2 Zu differenzieren sind demnach die Gründerjahre, die von sexualpolitischer Umsetzungseuphorie gekennzeichnet waren und bis zur Inflation reichten (Kap. I); sodann eine Phase der „Ernüchterung“ ob der inzwischen erfahrenen Grenzen sowohl einer universitären als auch einer staatlichen Anerkennung (Kap. II); dem folgte eine harte Kurskorrektur ab 1926, in der Hirschfeld konsequent auf Sexualpolitik und aufklärerische Breitenwirkung in der Bevölkerung setzte (Kap. III); schließlich die wechselvollen, hier treffend mit „Entscheidung“ überschriebenen Jahre zwischen Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, die den Beinahe-Triumph einer Abschaffung des Paragraphen 175 zur Jahreswende 1929/30 einschließen und den Institutsbetrieb ab Ende 1930 ohne seinen Direktor zeigen: Von einer Vortragsreise quer über den Globus kam Hirschfeld aufgrund des in Berlin inzwischen allgegenwärtigen SA-Terrors nicht mehr nach Deutschland zurück (Kap. IV).
Ein ausleitendes Kapitel befasst sich mit der Institutszerstörung im Mai 1933, über deren propagandistische Inszenierung Herrn vor einigen Jahren ebenfalls wichtige neue Erkenntnisse vorgelegt hat.3 So hatte die „Aktion wider den undeutschen Geist“ von der Institutsplünderung ihren Ausgang genommen, und noch bei der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz spielte das Institut eine zentrale, „ja, geradezu zum Symbol des auszulöschenden Weimarer Geistes stilisiert[e]“ (S. 487) Rolle. Den Ursprüngen des „Feindbilds Hirschfeld“ geht Herrn bestechend weit ausholend nach (Kap. V) und endet mit der Nachzeichnung der Lebenswege enger Mitarbeiter:innen nach 1933, von denen beinahe alle Opfer von Vertreibung, Verfolgung oder dem Holocaust wurden.
Die fachhistorisch in vielerlei Hinsicht eruptive Zäsur von 1933 ist auch der wesentliche Grund für die enormen Quellenprobleme, die für eine einst so weltberühmte Forschungseinrichtung zunächst frappierend vielfältig anmuten mögen. Wenn indes in den Fußnoten prima vista selten auf Archivmaterial verwiesen wird, täuscht dieser Eindruck. Denn das Buch basiert quellenmäßig ganz wesentlich auf den seit nunmehr vier Jahrzehnten anhaltenden Recherchen der MHG, die inzwischen in sorgfältig edierten Quelleneditionen großenteils zugänglich gemacht wurden.4 Diese Quellen finden sich bedeutend ergänzt um eine breitgefächerte Auswertung der Öffentlichkeitsarbeit des Instituts in der deutschen Presselandschaft. Dies erweist sich als lohnenswertes Unterfangen, denn infolge des Aufbaus eines Museums, einer zunehmend populären Publizistik, der 1926 gegründeten „Weltliga für Sexualreform“ u.a.m. war das Institut medial geradezu dauerpräsent. Hier wird denn auch schnell deutlich: Manches hätte weit ausführlicher behandelt und insgesamt wohl auch mehr in den Rahmen einer politischen Kulturgeschichte gestellt werden können. Aber fraglos gelingt es Herrn, ein so dichtes und lebendiges Bild der schier unglaublichen Breite der Institutsarbeit zu zeichnen, wie es bisher noch nicht geschehen ist.
Weitere Recherchen hat Herrn der forensischen Tätigkeit gewidmet und dabei Neues aufgetan. Diese Abschnitte offenbaren einen verblüffend klaren Zusammenhang zwischen argumentativen Veränderungen in der sexualtheoretischen Reflexion und ihrer unmittelbaren Nutzanwendung vor Gericht – dem strafmilderndem Effekt mittels Erkennen auf Schuldunfähigkeit: „Da es in der Weimarer Zeit nicht gelang“, so Herrn, „die von der Sexualreformern geforderten Änderungen des Strafrechts umsetzen, dürfte es Hirschfeld für legitim gehalten haben, die vorhandenen Spielräume zu nutzen, um seine Gerechtigkeitsvorstellungen zu realisieren. Insofern ist Hirschfelds forensische Tätigkeit Sexualpolitik mit anderen Mitteln.“ (S. 188) Ob dem Sexualwissenschaftler indes – woran Herrn keinen Zweifel zu haben scheint – bewusst war, wie sehr seine Sexualtheorie zusehends einen forensisch „passgerechte[n]“ (S. 168) Zuschnitt erhielt, ist eine andere Frage. Sie lässt sich in gleicher Weise stellen mit Blick auf eine weitere, den Strategen herausstellende Lesart, nämlich ob der klassifizierenden Wortschöpfung „Transvestitismus“ die Überlegung zugrunde lag, bewegungspolitische „Konflikte entschärfen zu können, indem er die durch ihre besondere Effemination auffallenden Transvestiten von den Homosexuellen abspaltete“ (S. 41).
Thesenfreudig also bis in die Nahaufnahme, bestens über bewegungs- und medizinhistorische Kontexte informierend, bietet dieses zuweilen mit Mut zur Lücke geschriebene Werk weit mehr, als man von einer überblicksartigen Darstellung erwarten kann. Es macht an vielen Stellen überaus greifbar, warum von Magnus Hirschfeld immer häufiger als einer Jahrhundertgestalt die Rede ist. Ausgerechnet aber manche Einlassung zum bigger picture wissenschaftsideologischer Kontinuitäten im 20. Jahrhundert vermag weniger zu überzeugen. Das trifft zumindest in Teilen auf die Behandlung zweier Problemkomplexe zu, die die Beschäftigung mit Hirschfeld schon länger kontrovers bestimmen.
Gemeint ist der Streit um die Bedeutung seiner eugenischen Überzeugungen sowie die Frage, wie es sich erklärt, dass der liberale Sexualforscher Hodentransplantationen als „Umpolungs“-Eingriffe homo- und bisexuellen Männern empfahl, als die Endokrinologie seine Thesen über ein konstitutionelles Ursachengeflecht sexueller Orientierungen experimentell zu belegen schien. In beiden Fällen leuchtet Herrn Hirschfelds Denkwelt überzeugend aus, um am Ende dann aber doch eine vorrangig auf dessen humanitäre Intention abhebende Gegenposition zu in den 1980er-Jahren formulierten Thesen von Volkmar Sigusch und Gunter Schmidt einzunehmen. Die beiden Sexualforscher hatten in diesen Beispielen emblematische Belege für die Abgründe der Wissenschaften in der Moderne gesehen – und dies gerade angesichts der offenkundigen Indolenz dafür, wie nah im eigenen Denken und Handeln Humanität und Inhumanität hätten beieinander liegen können.5 Heute muss man sagen: In dieser frühen Interpretation steckt anders, als Herrn warnt, keine Gefahr, „billige[n] Nutzen […] aus der Droge des nachträglichen Besserwissens“ zu ziehen (S. 68 u. 229). Es handelt sich vielmehr um Einordnungen, die sowohl durch die empirische Forschung zur Praxis der NS-Eugenik als auch in der ideenhistorischen Literatur – man denke allein an die ertragreiche, an Zygmunt Baumans Thesen zum modernen „Gärtnerstaat“ anschließende Diskussion zum Verhältnis von Moderne und Wissenschaft – an Plausibilität gewonnen, nicht verloren haben.
Rainer Herrns „Der Liebe und dem Leid“ reiht sich ein in die Galerie sexualhistoriographischer Standardwerke, die in den angesehensten deutschen Publikumsverlagen unterkommen konnten. Diese Galerie ist noch nicht allzu voll. Beim Blick auf die vergangenen zwanzig Jahre kommt man auf kaum mehr als eine Handvoll Titel. Innerfachlich wurden diese zwar durchaus über den Tellerrand der Subdisziplin hinaus wahrgenommen – in besonderem Maße trifft dies auf Dagmar Herzogs „Politisierung der Lust“ zu.6 Dies änderte jedoch nur wenig an der grundsätzlichen Randständigkeit sexueller oder gar sexologiehistorischer Themen in der etablierten Zunft, die sich hierzulande nach wie vor schwer damit tut, Zugänge aus dieser Richtung in ihre eigenen Fragestellungen zu integrieren. Das sollte sich ändern. Umso mehr, als inzwischen international ein wachsendes akademisches Interesse an Sexologiegeschichte beobachtet werden kann7, ist zu hoffen, dass dieser schillernde Suhrkamp-Band genau dazu beiträgt.
Anmerkungen:
1 Siehe insbes. Rainer Herrn, Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft, Gießen 2005.
2 Rainer Herrn, Vom Traum zum Trauma. Das Institut für Sexualwissenschaft, in: Elke-Vera Kotowski / Julius H. Schoeps (Hrsg.), Magnus Hirschfeld. Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Berlin-Brandenburg 2004, S. 173–199.
3 Rainer Herrn, Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft und die Bücherverbrennung, in: Julius H. Schoeps / Werner Treß (Hrsg.), Verfemt und Verboten. Vorgeschichte und Folgen der Bücherverbrennungen 1933, Hildesheim 2010, S. 113–168.
4 Siehe v.a. Magnus Hirschfeld, Testament Heft II. Hrsg. u. annot. von Ralf Dose, Berlin 2013; Hans Bergemann u.a. (Hrsg.), Magnus Hirschfelds Exil-Gästebuch, Berlin 2019.
5 Gunter Schmidt, Helfer und Verfolger. Die Rolle von Wissenschaft und Medizin in der Homosexuellenfrage, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 3 (1984), S. 21–32; Volkmar Sigusch, „Man muß Hitlers Experimente abwarten“, in: Der Spiegel Nr. 20/1985, S. 244–250.
6 Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005.
7 Dieser Trend mit engen Bezügen zur deutschsprachigen Sexualforschungsgeschichte hält nach wie vor an. Siehe zuletzt Heike Bauer u.a. (Hrsg.), Visual Histories of Sex. Collecting, Curating, Archiving (= Radical History Review Nr. 142, 2022); Richard Kühl, Der Große Krieg der Triebe. Die deutsche Sexualwissenschaft und der Erste Weltkrieg, Bielefeld 2022; Laurie Marhoefer, Racism and the Making of Gay Rights. A Sexologist, his Student, and the Empire of Queer Live, Toronto 2022.