Titel
Memory Crash. Politics of History in and around Ukraine, 1980s–2010s


Autor(en)
Kasianov, Georgiy
Reihe
Historical Studies in Eastern Europe and Eurasia (VII)
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekaterina Makhotina, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Das Buch des ukrainischen Historikers Georgiy Kasianov ist Pflichtlektüre für jeden, der sich an den aktuellen Debatten über die Zukunft der europäischen Geschichte beteiligen will. Jetzt, nach dem Einschnitt vom 24. Februar 2022, liest sich sein Vorwort wie eine unheimliche Prophezeiung: „conflicts about the past become conflicts in the present“ (S. X). Kasianov nähert sich den Konflikten in den Erinnerungskulturen der Ukraine mit einem analytischen, wissenschaftlich-distanzierten Zugang. Seine kluge Kritik der ukrainischen Geschichtspolitik zeigt aber auch, dass man sehr wohl den ethno-nationalistischen Weg der Erinnerungskonstruktion kritisieren kann und soll, ohne damit die Souveränität der Ukraine in Frage zu stellen, wie Putins aggressive Propaganda es seit einem Jahrzehnt tut.

Kasianovs Buch ist eine empirisch gesättigte, fundierte und differenzierte Auseinandersetzung mit der ukrainischen Geschichtspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Der Autor kann als ausgewiesener Experte im Feld der memory studies gelten. In seinen Arbeiten beschränkt sich Kasianov nicht auf die innerukrainische Dimension, sondern bettet die Entwicklung der ukrainischen Erinnerungskultur in transnationale Kontexte ein. Dabei hat er nicht nur Europa im Blick, sondern ebenso den postsowjetischen Raum, Israel und die USA.1

Bestechend ehrlich fällt auch die „Kontextualisierung“ seiner eigenen Position aus: Kasianov macht deutlich, dass seine öffentliche Kritik an der nationalen/nationalistischen Geschichtspolitik ihn selbst zu einem Erinnerungsakteur mache, sodass er sich von der Verantwortung für die Konstruktion historischer Narrative nicht ausnehmen könne. Der ehemalige Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, prägte gar einen besonderen Schmähbegriff für ihn: „kasjanovschina“. Darunter subsumierte Melnyk jede Kritik an der affirmativen staatlichen Geschichtspolitik bezüglich des Holodomors (S. XI).

Das Buch ist in acht Kapitel und drei große Teile gegliedert. Der erste Teil ordnet Konzepte wie Geschichtspolitik oder Geschichtsgedächtnis im Feld der memory studies ein. Dabei bezieht sich Kasianov auf die transnationalen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, den Holocaust zum Gegenstand einer gesamteuropäischen Erinnerung zu machen. Diesem standen jedoch die im östlichen Europa virulenten Narrative gegenüber, zu denen die Überwindung des als „fremd“ betrachteten kommunistischen Erbes sowie die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus gehörten. Bereits in diesem ersten Teil arbeitet der Verfasser ein Grundproblem der neuen nationalen Geschichtsnarrative im Osten Europas heraus: ihre Inkompatibilität mit der jüdischen Erinnerung, für die der Antikommunismus der Mehrheitsgesellschaften mit dem Antisemitismus (einschließlich seiner mörderischen Dimension während des Zweiten Weltkriegs) Hand in Hand ging (S. 56).

Nicht weniger kritisch geht Kasianov mit der Geschichtspolitik in Russland ins Gericht. Vor allem in der Beziehung zu den Nachbarstaaten im Westen sieht Kasianov das gefährliche Potential eines selbstgewählten „russischen Sonderwegs“, der sich mit neo-imperialen Ambitionen verbinde. Allerdings wurde die Perspektive der russischen Besonderheit gerade durch das in Ostmitteleuropa verbreitete Bild von Russland als „konstituierendem Anderen“ verstärkt (S. 82). Wie gefährlich das permanente Hochschaukeln der Erinnerungskonflikte zwischen Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken werden kann, zeigt die heutige Rhetorik des Kremls, die die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zur Rechtfertigung des Kriegs gegen die Ukraine pervertiert.

Im zweiten Teil macht Kasianov auf die Vielfalt der Beteiligten an der Konstruktion des historischen Narrativs aufmerksam. Seine Analyse beschränkt sich nicht auf staatliche Akteure, sondern bezieht auch die lokale Ebene (u.a. in der Donbass-Region) mit ein. Im fünften Kapitel, in dem er sich Historikern als geschichtspolitischen Akteuren zuwendet, verbirgt Kasianov seine Antipathien für jene „Soldaten an der ideologischen Front“ nicht, die von parteitreuen Kommunisten zu überzeugten Nationalisten mutiert sind (S. 189).

Mit großem Gewinn liest man das sechste Kapitel zu Praktiken der Geschichtspolitik im Kontext der Nationsbildung nach der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine 1991. Für Kasianov gehören die Nationalisierung der Vergangenheit und die Durchsetzung eines nationalgeschichtlichen Meisternarrativs zum Standardprogramm für jeden Staat, der die Konsolidierung der Nation als Ziel proklamiert. Was aber, wenn man es, wie im Falle der Ukraine, mit einer transnationalen Vergangenheit und Gegenwart zu tun hat?

Eine Herausforderung für die Ukraine war von Anfang an, so Kasianov, dass hier national/nationalistische und sowjetnostalgische Geschichtsauffassungen koexistierten und konfligierten. Angesichts starker regionaler Unterschiede fiel es schwer, einen gesellschaftlichen Konsens über die Vergangenheit zu formulieren. Deshalb versuchte der Staat nach 2015, seine Geschichtsdeutung von oben aufzuoktroyieren. Diese exkludierende Geschichtspolitik, die auf einer Nationalisierung der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, auf der Heroisierung der nationalistischen „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (UPA) und auf der „Entkommunisierung“ des öffentlichen Raumes basierte, wurde nicht im demokratischen Dialog vorangetrieben, sondern im „sowjetischen Stil“ – also ideologisierend, tabuisierend und stigmatisierend.

Die Probleme, die diese altbekannte sowjetische Praxis der „Aufarbeitung“ der Geschichte mit sich bringt, führt das siebte Kapitel anhand zentraler Erinnerungskonflikte wie Holodomor, Bandera vs. Lenin sowie dem Holocaust vor Augen. Kasianov zeigt, wie Bandera und seine OUN während der Präsidentschaften von Juschtschenko und Poroschenko von staatlichen Erinnerungsakteuren als antikommunistische Freiheitskämpfer präsentiert wurden. Dabei wurde alles Problematische in der Biografie Banderas ausgeklammert; alle Hinweise auf Antisemitismus in der OUN und die Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust wurden aggressiv zurückgewiesen. Kasianov erkennt darin Ähnlichkeiten mit der Mythologisierung Lenins während der Sowjetzeit – Bandera sei geradezu zu dessen visuellem Alter Ego geworden (S. 254). Allerdings werde er nur in der Westukraine als Held gefeiert; schon in der Zentral- und Südukraine sei die Haltung zu ihm deutlich differenzierter.

Ähnliche Ambivalenzen betont Kasianov mit Blick auf die Kanonisierung des Hungermords („Holodomor“) in der stalinistischen Sowjetukraine und dessen Einordnung als Genozid, die gegenwärtig auch die deutsche und internationale Debatte beschäftigt. Er macht darauf aufmerksam, dass bei der Vermittlung des Bildes vom Holodomor als Genozid weitgehend offenblieb, was ein Genozid überhaupt sei. Laut Umfragen von 2006 glaubten damals nur 14 % der Ukrainer, dass die Hungersnot von 1932–33 ausschließlich ethnische Ukrainer betraf. Seither stieg die Zahl derer, die den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk betrachteten, jedoch kontinuierlich an, bis sie 2019 82 % der Befragten erreichte (S. 270).

Mit Sorge sieht Kasianov, dass diese Ethnisierung des Holodomor-Gedenkens einer apologetischen Haltung zu antijüdischen Ausschreitungen in der Ukraine während der deutschen Besatzung Vorschub leiste. Als der ukrainische Geheimdienst (SBU) 2009 eine Liste mit Namen von Holodomor-Tätern veröffentlichte (die sehr viele jüdische Namen enthielt), wurde die Verantwortung für den Holodomor in der Öffentlichkeit den Juden (und Letten) zugeschoben, ethnische Ukrainer hingegen von der Verantwortung ausgenommen (S. 119).

Wohlgemerkt: Kasianov geht es nicht um eine Relativierung von Stalins verbrecherischer Hungerpolitik, sondern darum, wie der Genozid-Begriff politisch funktionalisiert wird. Ein einleuchtendes Beispiel dafür ist dessen zögerliche Anwendung auf die Deportation der Krimtataren 1944. Auf Drängen des krimtatarischen Parlaments nahm sich der SBU 2009 halbherzig einer Ermittlung an, doch erst nach der Annexion der Krim durch Russland 2015 erkannte das ukrainische Parlament die Deportation der Krimtataren als Genozid an.

Im Vergleich zu Holodomor nimmt der Holocaust in der öffentlichen Erinnerungskultur der Ukraine einen peripheren Platz ein. Kasianov macht dies daran fest, dass die einzigen Holocaust-Museen in der Ukraine (in Odessa und Charkiw) auf private Initiativen zurückgehen und durch Spenden finanziert werden. Der Staat unternehme hingegen wenig, um den Holocaust als Teil der ukrainischen „eigenen Geschichte“ zu adoptieren. Vielmehr werde dieses Kapitel der Geschichte primär unter dem Gesichtspunkt der Opferkonkurrenz wahrgenommen. Noch weniger erforscht und erinnert als der Holocaust werde der Genozid an Sinti und Roma während der deutschen Besatzung: Das Gedenken an die ermordeten Roma ließe sich politisch kaum instrumentalisieren, da das Vergessen ihrer Verfolgungsgeschichte mit ihrer alltäglichen Diskriminierung in der Gegenwart einhergehe.

Versucht man die Probleme der ukrainischen Geschichtspolitik seit 1991 zusammenzufassen, ergeben sich drei zentrale Punkte: (1) Die ukrainische Geschichte zeichnet sich im europäischen Kontext durch eine besonders ausgeprägte Heterogenität und Pluralität von ethnischen, konfessionellen und kulturellen Zugehörigkeiten aus. Dies erschwerte die Konstruktion einer kohärenten nationalen Geschichtserzählung, zumal national/nationalistische und sowjetnostalgische Erinnerungsmodelle miteinander konkurrierten. (2) Anstatt historische Narrative im gesellschaftlichen Dialog auszuhandeln, forcierten staatliche Akteure ein homogenes Geschichtsbild als staatliches Ideologieprojekt und betrieben dessen Durchsetzung mit strafbewehrten Erinnerungsgesetzen. (3) Die Erinnerung an den Holocaust war und bleibt peripher: Zum einen, weil sie weder für die nationale noch für die sowjetnostalgische Geschichtsdeutung von Bedeutung war; und zum anderen, weil sie der affirmativen Geschichtsschreibung zuwiderlaufen würde.

Mit der vorliegenden Monographie zur ukrainischen Geschichtspolitik ist Kasianov eine Studie gelungen, die noch lange als Standardwerk gelten dürfte und sich hervorragend in den Forschungsstand zu anderen osteuropäischen Staaten einfügt. Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine ist es eine bittere Ironie, dass dieses Buch sich wie ein Resümee der ukrainischen kollektiven Erinnerung seit dem Ende des Staatssozialismus liest. Die Ukraine tritt nun in ein neues Stadium der Suche nach der nationalen Identität ein. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung der Krieg und der Widerstand gegen den Aggressor die alten Erinnerungskonflikte überwinden wird.

Anmerkung:
1 Diese transnationale Perspektive prägt auch den paradigmatischen Sammelband Georgiy Kasianov / Philipp Ther (Hrsg.), A laboratory of transnational history. Ukraine and recent Ukrainian historiography, Budapest 2009.

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