Leider wird auch die Geschichte des Journalismus gerne auf naive Weise als eine simple Erfolgsgeschichte gezeichnet. Skandale wie der Fall Relotius in Deutschland geraten schnell in Vergessenheit. Sie scheinen Einzelfälle zu sein; Ausnahmen, die die Regel des guten, aufklärerischen, demokratiefördernden Journalismus letztlich doch bestätigen.
Nach der Lektüre von Andie Tuchers Studie bleibt der Leser ernüchtert, wenn nicht gar schockiert zurück. Die Journalistik-Professorin an der Columbia University in New York, eine Institution, die bekannt ist für ihre engen Beziehungen zum amerikanischen Journalismus, rekonstruiert eine Geschichte von Zynismus und Frivolität im Umgang von Journalist:innen mit den Fakten und der Wahrheit. Das bittere Fazit: Heucheln, verdrehen, lügen zu politischen, wirtschaftlichen und immer auch persönlichen Zwecken sind fester Bestandteil des Journalismus vom 18. Jahrhundert bis heute. Wohlgemerkt geht es nicht um den Journalismus in autoritären Regimen oder Diktaturen, sondern um die USA, eines der Mutterländer des modernen Journalismus und der journalistischen Freiheit.
Es geht auch um Einzelfälle und Skandale. Wenn diese jedoch regelmäßig und im gesamten Spektrum der Medien auftreten, liegen offenkundig strukturelle Missstände vor. So ist auch im amerikanischen Journalismus die Trennung von Meinung und Nachricht bis heute ein virulentes Problem geblieben.
Tucher schreibt mit der Ironie und dem Sarkasmus, der diesem Thema zukommt. Ihre Kernthese: Eine Geschichte der Presse- und Medienberichterstattung als Evolution hin zu mehr Professionalisierung, hin zu immer besserem Journalismus zu verstehen, ist falsch. Bestenfalls könne man die Mediengeschichte in Zirkeln verlaufend sehen, in vielen Ups and Downs. Überdies stellt Tucher einige Grundannahmen überkommener Presseforschung anhand ihrer empirischen Fallstudien richtig. So vertrat die Presse des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nur selten den Anspruch, Wahrheiten zu verkünden. Wenn damals eine aufklärerische Freiheit zu spüren war, dann die, dass der Leser für sich entscheiden möge, was er glauben wollte. „We report; you decide!“, so kann dieser Ansatz extremer Leserermächtigung nach Einschätzung von Tucher auf den Punkt gebracht werden. Auch heute beansprucht diese extreme Individualisierung der Meinungen wieder allüberall Geltung.
Im 18. Jahrhundert kann hinter diesem Ansatz immerhin die Philosophie des Liberalismus (und Kapitalismus) ausgemacht werden: laisser-faire, laissez-allez. Danach würde sich, gleichsam als mediale Variante von Adam Smiths „unsichtbarer Hand“, im Wettstreit der zahlreichen Stimmen des öffentlichen Diskurses die Wahrheit schon irgendwie und irgendwann durchsetzen.
Doch die meisten Medien waren und sind Warenumschlagplätze, auf denen in erster Linie mit bezahlter Werbung gehandelt wurde und wird. Staatliche Disziplinierung, etwa durch die Zensur, blieb in den USA und Großbritannien schwach ausgeprägt. Allein die Angst vor der Konkurrenz, vor anderen Journalisten, zügelte den Journalisten und dessen mitunter groteske Verkündigungen, die sich von den ebenfalls grotesken Versprechungen der Werbung kaum unterschieden. Kurzum: Die Zeitungen (später auch Radio, Fernsehen und Internet) waren und sind bis heute oftmals Mischungen von Entertainment und Humbug auf dem Fundament geschäftlicher und politischer Interessen.
Um dies zu belegen, lässt Tucher zahlreiche Fälle von der „Yellow Press“ des 19. Jahrhunderts über die „Tabloids“ der 1920er-Jahre bis zu Orson Welles’ „War of the Worlds“ Revue passieren; letzterer schlug in Wahrheit nie so ein, wie bis heute gerne kolportiert wird – natürlich durch die Medien selbst. Gerade an solchen scheinbar eindeutigen Fällen zeigt Andie Tucher ihre starken Analysefähigkeiten. Der (Medien-)Trubel im Oktober 1938 um Welles’ Radiosendung zur vorgeblichen Invasion Außerirdischer war nur möglich, so Tucher, da die Nerven von Radiohörern (und Journalisten) durch die wenige Wochen zuvor von den Nationalsozialisten inszenierte sogenannte „Sudetenkrise“ mit einem Europa am Abgrund des Krieges bis zum Äußersten angespannt gewesen waren.
Die gefährlichen Verschränkungen von Politik und Journalismus macht Tucher auch am Beispiel von Walter Duranty deutlich. Die Berichterstattung des Moskauer „New York Times“-Korrespondenten über Stalin und die Sowjetunion, sein Beschönigen oder Verschweigen der Millionen Hungertoten in der Ukraine sowie der anderen Verbrechen des Sowjetregimes in jenen Jahren sind für Tucher schlimmster fake journalism, der auch später, als man es besser wusste, weder geahndet noch korrigiert wurde. Gerne erwarten postmoderne Journalisten Entschuldigungen von Politikern zu Jahrzehnte, gar Jahrhunderte alten Verbrechen und Missständen. Ein öffentliches, groß aufgemachtes Bedauern der „New York Times“ zur jahrelangen Irreführung der amerikanischen Öffentlichkeit ist hingegen nicht bekannt.
Das Grundproblem des Journalismus besteht für Tucher jedoch gar nicht darin, dass er massenhaften Humbug verzapft und Lügen verbreitet, sondern in der unkontrollierbaren und unkorrigierbaren Ausübung politischer Macht im Gewand des Journalismus: „But stories about truth are never only about truth; they’re also about power, about control, about desire, about values…journalism was supposed to look like truth, and truth like journalism. But what if falsehood does too?“ (S. 3). Die Lüge als Journalismus verbrämt, lässt sich folgern, findet sich heute vielleicht sogar wieder häufiger als vor 20, 40, 60 Jahren.
Merkwürdige Kontinuitäten führen von Mark Twain zu Truman Capote und Tom Wolfe: Alle drei Edelfedern waren in jungen Jahren skrupellose „fake journalists“, die sich raffiniert als „new journalists“ tarnten und sich schließlich mit dem Sprung in den literarischen Bereich retten und zu Schriftstellern veredeln konnten: Das Arbeiten mit Fiktionen statt Fakten hatten sie in der Tat „von der Pike auf“ gelernt. Kleinere Lichter wie Janet Cooke mit ihren erfundenen Berichten für die „Washington Post“ 1980 wurden gnadenlos hinweggefegt. Fälle wie Relotius gibt es ständig im globalen Journalismus, das „faken“ ist systemimmanent.
Die „guten“ Gegenkräfte verschweigt Tucher nicht. Der Kauf der „New York Times“ 1896 durch Adolph Ochs sei durchaus als eine Wende im amerikanischen Journalismus anzusehen. Zumindest stiegen die journalismusethischen Ansprüche der „Qualitätspresse“: Zeitungen sollten Dozenten sein, Leser waren als Studenten zu betrachten, die es zu verbessern galt.
Nicht nur Institutionen, Strukturen und Personen im Journalismus waren jedoch anfällig für „fake journalism“ oder diesem gar völlig verfallen. Auch bestimmte journalistische Darstellungsformen wie das Interview, das ab dem späten 19. Jahrhundert seinen Siegeszug in der Printpresse antrat, öffneten der Korruption Tür und Tor. Das „Hale-Interview“ Kaiser Wilhelms II. 1908 war ein internationaler Skandal, sorgte für erhebliche Turbulenzen in amerikanischer Presse und Politik, führte die Monarchie als Staatsform in Deutschland an den Abgrund und ließ einen Kriegsausbruch in Europa immer wahrscheinlicher erscheinen.
Als der Weltkrieg wenige Jahre später wirklich kam, bildete er auch medienhistorisch die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. In der Presse wurde nun (wieder) ohne jede Scham gelogen, insbesondere in den Mutterländern des modernen Journalismus, in Großbritannien und den USA. Die Imagination der Deutschen als „Hunnen“, die belgischen Babys die Hände abhackten, oder die Propaganda-Erfindung von deutschen „Leichenfabriken“, in denen aus Kriegstoten Seife hergestellt wurde, all dieser „Humbug“ hielt sich teilweise bis in die 1920er-Jahre. Mit fatalen Folgen für die Berichterstattung über den Mord an europäischen Juden ab 1939: Diesen wollten, während er wirklich stattfand, die meisten amerikanischen und britischen Zeitungsleser und Radiohörer nicht mehr glauben. Wenn sie bruchstückhafte Meldungen darüber lasen oder hörten, hielten sie ihn für einen neuen Aufguss der alliierten Greuelpropaganda des Ersten Weltkrieges. Niemand lässt sich gerne zweimal belügen.
Andie Tucher hat eine wichtige und gut lesbare Studie zu „fake news“ und „fake journalism“ vorgelegt. Zwei Dinge, die aus ihrer Sicht sorgsam getrennt werden sollten, wie sie in ihren Definitionen auf Seite 122 betont. Denn bis heute besteht die Gefahr des Journalismus nicht darin, dass er politische Lügen erzählt, hohle Werbeversprechungen macht und Humbug zu Unterhaltungszwecken verbreitet. Ja nicht einmal darin, dass Fakten und Wahrheiten im Stile eines Donald Trump und seiner Anhänger als „fake“ abgetan werden können. Es geht laut Tucher weniger um das Was als das Wie, nämlich um die potentiell strukturelle Korruption des Journalismus, wodurch all diese Dinge im Gewande des Journalismus daherkommen dürfen. Nicht die „fake news“, sondern der „fake journalism“ sei eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie.