Neoliberale Theorien, Programme und Maßnahmen sind inzwischen zum historischen Forschungsgegenstand geworden. Es liegt dabei nahe, von den Ökonomen auszugehen, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in scharfer Abgrenzung zum expandierenden Wohlfahrtsstaat das marktwirtschaftliche Denken erneuerten und ihre Vorstellungen durch transnationale Netzwerkbildung verbreiteten.1 In ihrer Monografie über urban policy in den Vereinigten Staaten setzt Ariane Leendertz anderswo an, nämlich bei der Situation, in der eine Nachfrage nach neoliberalen Reformangeboten entstehen konnte.
Die zentralen Befunde lassen sich wie folgt resümieren: Während in den 1960er-Jahren Sozialwissenschaften und Politik dem Staat zutrauten, sogar die schwersten Probleme amerikanischer Städte zu lösen, erschöpfte sich dieser von der Autorin als solutionism bezeichnete Optimismus im darauffolgenden Jahrzehnt. Das lag an schwindenden finanziellen Handlungsspielräumen, aber mehr noch an einem Bewusstsein der „Komplexität“ sich gegenseitig überlagernder kurzfristiger Krisenerscheinungen und langfristiger Strukturschwächen. Daraus ergaben sich jedoch nicht zwingend neoliberale Konsequenzen. Während der Präsidentschaft Jimmy Carters (1977–1981) koexistierten marktorientierte Reformen mit wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen, hielt der Bundesstaat an seiner Verantwortung für die Lebensverhältnisse in den ökonomisch gebeutelten Städten fest. Erst unter Carters Nachfolger Ronald Reagan wurde die neoliberal inspirierte Zurückdrängung des Staates zum kohärenten Programm, das durch drastische Einsparungen eminente Wirkungen zeitigte. Statt sich weiter unter erschwerten Bedingungen mit der „komplexen“ urban crisis herumzuschlagen, setzte man nun auf die schlichte, wenngleich durch die Public-Choice-Theorie intellektuell aufgewertete Stimulierung von Gewinninteressen.
Mehrere Kapitel der Studie widmen sich der Thematisierung gesellschaftlicher Komplexität durch die zeitgenössischen Sozialwissenschaften. Anfänglich verfolgte besonders die Policy-Forschung selbstbewusst das Ziel, entsprechend mehrdimensionale politische Handlungsanleitungen zu formulieren und dazu von Systemanalysen und Computersimulationen Gebrauch zu machen. In den Städten sollten Wirtschaftsförderung, Bauplanung und Sozialpolitik ineinandergreifen. Diesen wissenschaftlichen Ansatz versuchte man mancherorts umzusetzen, doch die Ergebnisse gaben Anlass zu Frustration. Zu groß waren sowohl der Abstand zur politischen Praxis als auch die schiere Menge an beteiligten Behörden und Interessengruppen, zu undeutlich die Kausalitäten und zu gravierend die durch Deindustrialisierung und Depopulation verschärften Problemlagen. Wachsende Zweifel an der Möglichkeit, gesellschaftliche Komplexität durch Regierungshandeln bewältigen zu können, mündeten alsbald in Krisendiagnosen und einer regelrechten „Erschöpfung der Policy-Forschung“ (S. 145–151). Nun lag die staatskritische Schlussfolgerung nahe, die Ansprüche und Erwartungen müssten eben zurückgenommen, die Aufgaben und Ausgaben reduziert werden. Dies half der Reagan-Regierung, ihre Demontage der urban policy öffentlich zu legitimieren. Die Public-Choice-Theorie stellte staatliche Institutionen als Monopole dar, identifizierte Bürgerschaft mit Konsum und empfahl den amerikanischen Städten, kommunale Leistungen zu privatisieren und um Unternehmen und kaufkräftige Bevölkerungsgruppen zu konkurrieren.
Die übrigen Kapitel sind der Regierungspraxis selbst gewidmet. Leendertz‘ wichtigste Protagonistin ist dabei Patricia Roberts Harris, Ministerin für Housing and Urban Development unter Jimmy Carter (und erste afroamerikanische Ministerin überhaupt). Unter ihrer maßgeblichen Beteiligung wurde eine National Urban Policy formuliert, die dem während der Republikanischen Präsidentschaften Richard Nixons und Gerald Fords bereits unter Beschuss geratenen Politikfeld neuen Schwung verleihen sollte. Der Unterschied zu den 1960er-Jahren war, dass die Ziele nun defensiver ausfielen. Sie richteten sich statt auf Wohnungsbau und Stadtentwicklung auf Schaffung und Erhalt von Arbeitsplätzen, berufliche Weiterbildung sowie die Konsolidierung der kommunalen Finanzen, und dies weniger flächendeckend als vielmehr konzentriert auf besonders bedürftige Städte. Auch diese bescheidenen Ambitionen blieben jedoch angesichts sparpolitischer Vorgaben Carters, Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Ministerien und Behörden, gegenläufiger Interessen der suburbanen Wählerschaft und mangelnder legislativer Umsetzung weit von einer Verwirklichung entfernt. Ronald Reagan setzte dagegen eindeutig auf Ausgabenreduzierung und Deregulierung, mit der Intention, die Städte zu Kürzungen und Privatisierungen zu zwingen. Unter seiner Regierung wurden die relevanten bundesstaatlichen Institutionen durch entsprechende Personalpolitik gezielt geschwächt. Der neue, ebenfalls afroamerikanische Minister Samuel Pierce sah sich explizit als Förderer der Immobilienwirtschaft – was ihn dann wieder dazu bewog, ein Subventionsprogramm, das vor allem Büro- und Hotelneubauten zugutekam, gegen prinzipientreue marktliberale Kritik zu verteidigen. Pierces Nähe zur Immobilienwirtschaft mündete in einen regelrechten Korruptionssumpf, ermöglicht durch das Fehlen effektiver Kontrollmechanismen und häufige Wechsel zwischen Department of Housing and Urban Development und Lobbyismus.
Ariane Leendertz hat eine lesenswerte Monografie zu Sozialwissenschaften und Politik in den Vereinigten Staaten der 1960er- bis 1980er-Jahre vorgelegt. Die Beziehung zwischen beidem scheint trotz mancher persönlichen Kontakte lose gewesen zu sein, im Sinne einer Parallelität von Problemdiagnosen und Reformideen statt einer wirklichen Verkopplung. Daher stehen die wissens- und politikhistorischen Kapitel des Buches eher nebeneinander, als dass sie tatsächlich „verschränkt“ wären (so der auf S. 12 formulierte Anspruch). Sie sind aber jeweils fundiert, plausibel und interessant, und es verdient alle Anerkennung, dass sich die Autorin nicht damit begnügt, Wissensgeschichte durch gelegentliche Nachweise politischen Einflusses zu ergänzen, sondern sich auf die Verwicklungen des Regierens im föderalen System der Vereinigten Staaten und im Kontext der 1970er-Jahre einlässt.
Jedoch liegt im Verhältnis zwischen dem Titel sowie den weit ausgreifenden Ausführungen in Einleitung und Schlussbetrachtung einerseits und dem Hauptteil des Buches andererseits ein gewisses Spannungsverhältnis. Leendertz‘ Forschungsbeitrag liegt in der genauen Rekonstruktion der neoliberalen Wende in der Stadtpolitik des amerikanischen Bundesstaates, die sie später als andere Historiker:innen ansetzt. Ihr Argument, die unter Carter verfolgte urban policy habe sich hinsichtlich ihrer Intentionen und Methoden markant von der Aufgabe des staatlichen Problemlösungsanspruchs unter Reagan unterschieden2, kontrastiert etwa mit der jüngst von Gary Gerstle vorgelegten Interpretation einer umfassenden „neoliberal order“, die seit den 1970er-Jahren an die Stelle der „New Deal order“ getreten sei.3 Das ist in seiner Differenziertheit überzeugend, beißt sich allerdings gerade deshalb mit dem Anspruch, eine Geschichte „des“ Neoliberalismus vorzulegen, deren Relevanz über die Vereinigten Staaten hinausgehen soll. Denn wer Leendertz’ Betonung des kontingenten, sich eben nicht zwingend aus der Erschöpfung des Staates ergebenden Charakters der Reagan Revolution folgt, könnte einwenden, in Westdeutschland und anderen kontinentaleuropäischen Ländern habe es schlicht keine annähernd vergleichbare Zäsur gegeben.
In diesem Sinne anschlussfähiger sind die – auch aufgrund eingeschränkten Quellenzugangs kursorischeren – Ausführungen zur Clinton-Administration. Diese verband die neoliberale Betonung eigenverantwortlicher Individuen mit eher linken Vorstellungen von Freiheit und Gemeinschaftlichkeit, bekannte sich aber zur modernisierenden Rolle des Bundesstaates und versuchte, die Städte wieder stärker zu unterstützen – soweit dies angesichts des massiven Haushaltsdefizites sowie des republikanischen Widerstands im Kongress überhaupt möglich war. Dass neoliberale Maßnahmen an Bedeutung gewannen, sich aber nicht jede Kooperation mit dem Privatsektor „per se als neoliberal klassizifieren“ lässt (S. 418), ist eine angenehm nüchterne Einschätzung, die auch auf die meisten westeuropäischen Länder zutreffen dürfte. Zudem überschnitten sich dort neoliberale Botschaften in ähnlicher Weise wie in den Vereinigten Staaten der 1990er-Jahre mit „rechten“ wie „linken“ Haltungen: dem moralischem Konservatismus Margaret Thatchers, dem feministischen Autonomiediskurs und dem Drang ethnischer Minderheiten, ihr empowerment in die eigene Hand zu nehmen.4 Analysiert man solche Mischungsverhältnisse, kann man die – von Leendertz aufgrund ihres Schwerpunktes auf Sozialwissenschaften und Regierungshandeln nur am Rande angesprochene – Frage beantworten, warum das, was als ausgesprochenes Elitenprojekt begann, überhaupt auf breitere kulturelle Resonanz stoßen konnte. Das gilt auch für die Geschichte des Neoliberalismus in den amerikanischen Städten, zu der Budgetkürzungen, Privatisierungsmaßnahmen und subventionierte Unternehmungsansiedlungen gehören – aber eben auch eine Mittelschicht, die ein Interesse daran entwickelte, Mietwohnungen käuflich zu erwerben und selbst für saubere Parks und sichere Straßen zu sorgen.5
Anmerkungen:
1 Vgl. hier nur Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hrsg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge, Mass. 2009; Quinn Slobodian, Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Frankfurt am Main 2019.
2 Vgl. dagegen die kritischeren, die Kontinuitäten zur Reagan-Ära hervorhebenden Bewertungen bei Thomas J. Sugrue, Carter’s Urban Policy Crisis, in: Gary M. Fink / Hugh Davis Graham (Hrsg.), The Carter Presidency. Policy Choices in the Post-New Deal Era, Lawrence 1998, S. 137–157; Tracy Neumann, Privatization, Devolution, and Jimmy Carter’s National Urban Policy, in: Journal of Urban History 40 (2012), S. 283–300.
3 Gary Gerstle, The Rise and Fall of the Neoliberal Order. America and the World in the Free Market Era, Oxford 2022; Kurzversion: ders., The Rise and Fall (?) of America’s Neoliberal Order, in: Transactions of the Royal Historical Society 28 (2018), S. 241–264.
4 Florence Sutcliffe-Braithwaite, Neo-Liberalism and Morality in the Making of Thatcherite Social Policy, in: Historical Journal 55 (2012), S. 497–520; Leena Schmitter, “…entscheiden wir alleine”. Feministische Selbstbestimmung und neue Reproduktionstechnologien in den 1980er und 1990er Jahren, in: Regula Ludi / Matthias Ruoss / Leena Schmitter (Hrsg.), Zwang zur Freiheit. Krise und Neoliberalismus in der Schweiz, Zürich 2018, S. 215–235; Camilla Schofield / Florence Sutcliffe-Braithwaite / Rob Waters, “The Privatisation of the Struggle”: Anti-Racism in the Age of Enterprise, in: Aled Davies / Ben-Jackson / Sutcliffe-Braithwaite (Hrsg.), The Neoliberal Age? Britain since the 1970s, London 2021, S. 199–225.
5 Benjamin Holtzman, The Long Crisis. New York City and the Path to Neoliberalism, New York 2021; Teilergebnisse u.a. in: ders., „I am Not Co-Op!“ The Struggle over Middle-Class Housihng in 1970s New York City, in: Journal of Urban History 43 (2017), S. 864–885.