Spätestens seit dem Historikerstreit 1986/87 rückte das schillernde Konzept der „Normalität“ auch hierzulande in den Blickpunkt gesellschaftsgeschichtlicher Debatten über eine Historisierung der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Einen wichtigen Anstoß dafür lieferte Detlev J.K. Peukerts Aufsatz Alltag und Barbarei, ein inzwischen kanonisch gewordener Text von 1987, der die Alltagserfahrungen von Normalität im „Dritten Reich“ und die Kontinuitäten deutscher Normalitätsdiskurse nach 1945 zu interpretieren versuchte.1 In der Rechtsgeschichte wurde der Begriff erstmals Anfang der 1990er-Jahre aufgegriffen. So konnte ein Team um den Berliner Strafrechtler Klaus Marxen am Beispiel von Urteilen des Volksgerichtshofs zeigen, dass die Verschränkung von Terror und Normalität nicht nur bis zum Schluss ein konstitutives Merkmal juristischer Darstellungs- und Argumentationstechniken blieb, sondern dass damit für die beteiligten Juristen auch stark selbstentlastende Effekte verbunden waren.2
Benjamin Lahusens Studie zur Normalität der ordentlichen Gerichtsbarkeit im „Dritten Reich“ und während der alliierten Besatzungszeit, die überarbeitete Fassung seiner juristischen Habilitationsschrift, knüpft an diese frühen Arbeiten an, wählt jedoch einen anderen methodischen Zugang und thematischen Fokus. Statt danach zu fragen, wie die Weimarer Justiz eigentlich den Sprung in das Zeitalter von Ernst Fraenkels „Doppelstaat“ schaffte, betrachtet Lahusen die Entwicklungen zwischen 1943 und 1948. Ausgangspunkt der Untersuchung ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Justitium, so der Fachbegriff für den erzwungenen „Stillstand der Rechtspflege“, und den vielfältigen Bemühungen der Justiz zur Aufrechterhaltung eines scheinbar „normalen“ Geschäftsbetriebs im Schatten der Gewalt. Vermessen wird also einerseits eine zeitliche und politisch-geografische Zone, die für große Teile des deutschen Juristenstands eine Phase des Umbruchs und der (Selbst-)Verwandlung darstellte. Andererseits soll unter dem Stichwort „Von Stalingrad zur Währungsreform“3 ein älteres Paradigma der NS-Forschung und der Sonderwegs-Debatten für eine Zeitgeschichte des Rechts fruchtbar gemacht werden. Dabei geht der Autor von der diskussionsbedürftigen These aus, die auch juristisch vorangetriebene Entrechtung großer Bevölkerungsgruppen sei während der letzten beiden Kriegsjahre bereits abgeschlossen gewesen (S. 33), während das Entstehen neuer, teilweise antagonistischer Ordnungssysteme erst ansatzweise ausgebildet war. Als Grundlage der Untersuchung dienen vor allem Gerichtsakten, die Lahusen in Deutschland, Polen, Belgien, Israel und den Niederlanden ausgewertet hat.
Wie die jüngere Forschung zur Geschichte des Luftkriegs in Deutschland gezeigt hat, brachten die Bombardierungen einen spezifischen Modus der staatlichen und kommunalen Krisenbewältigung hervor, der auf verstärkte Selbstmobilisierung und Identifikation mit einer imaginierten „Heimatfront“ zielte. An diesem Prozess war auch die Justiz in entscheidender Weise beteiligt. So schildert das erste Kapitel unter der Überschrift „Die Freuden der Pflicht: Dienstbetrieb im Endkampf“, wie sich deutsche Gerichte in der letzten Kriegsphase zu Instanzen eines „volksgemeinschaftlichen“ Überlebenswillens aufschwangen. Um den Rechtspflegebetrieb trotz nicht nachlassender alliierter Angriffe aufrechterhalten zu können, wichen die Behörden größerer und mittelgroßer Städte auf provisorische Ersatzquartiere aus. Teilweise geschah dies mehrfach in kurzen Zeitabständen. Dabei wetteiferten die Gerichtspräsidenten förmlich darum, das eigene Organisationstalent bei der Bewältigung der zahllosen kriegsbedingten Herausforderungen gegenüber dem Reichsjustizministerium herauszustellen. So vermeldete der Berliner Generalstaatsanwalt nach schweren Luftangriffen stolz, man habe, „noch in den Rauchschwaden“ stehend, in den wenigen verbliebenen Räumen Strafverhandlungen durchgeführt (S. 62). Auch als am 13. Februar 1945 das Dresdner Justizgebäude dem Erdboden gleichgemacht wurde, führte dies nicht etwa zur Einstellung des Justizbetriebs. Noch Ende April, also wenige Tage vor der Kapitulation, verhandelte das Amtsgericht in einer Mietsache. Strittig war, ob der Vermieter eines Mehrfamilienhauses in seinem Garten weiterhin Staudenpflanzen und einen Goldfischteich dulden müsse (S. 70).
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht „Neustadt am Wassersturz“, eine fiktive Gemeinde in der südwestdeutschen Provinz. Anhand von Personalakten und zusammengetragenen Fallgeschichten aus dem Zivil- und Strafrecht entwirft der Autor das Panorama einer Allerweltsjustiz und ihrer oftmals skurrilen Auswüchse. Danach blieb trotz „totalem Krieg“ im Grunde alles beim Alten: Statt heroischer Pflichterfüllung dominierten eine gewisse Behäbigkeit, fehlende juristische Finesse und Pragmatismus, während sich die ideologische Selbstmobilisierung der „Volksgemeinschaft“ in einer geradezu obsessiven Streitlust über die Kehrwoche erschöpfte (S. 93). In starkem Kontrast dazu steht das folgende Kapitel, das sich unter der Überschrift „Die Parzellierung des Todes“ mit den Grundbuchakten der ehemals polnischen Stadt Auschwitz befasst. Hier zeichnet Lahusen einfühlsam und mit detaillierter Aktenkenntnis nach, wie sich Eigentumsfragen seit Baubeginn eines von der IG Farben geplanten Werks zur Herstellung synthetischen Kautschuks zu einem Standortfaktor ersten Ranges und einem Politikum entwickelten. Angesichts von Investitionen, die zweistellige Millionenbeträge erreichten, betrachtete die Firmenleitung die fehlende grundbuchmäßige Erfassung der Grundstücke als rechtlich untragbaren Zustand (S. 129). Erst Ende 1943 eilte Reichsjustizminister Thierack dem bedrängten Chemiegiganten zur Hilfe, indem er das „rechtlose Interregnum“ kurzerhand durch die Aufteilung des Stadtgebiets in zwei Grundbuchbezirke beendete (S. 130).
Das vierte Kapitel ist dem scheinbar „normalen“ Lebensweg des „Bilderbuchjuristen“ Hans Keutgen gewidmet (1912–1999), der gegen Kriegsende als letzter Richter des Sondergerichts Aachen amtierte. Wie viele andere belastete Juristen wurde er schon kurz nach dem Zusammenbruch reaktiviert. Obwohl nachweislich an Todesurteilen beteiligt, ließ die britische Militärregierung den kriegsversehrten 33-Jährigen bereits im August 1945 erneut als Richter zu. In den 1950er-Jahren überstand er die DDR-Braunbuchkampagne unbeschadet, und die 1965 erhobene Strafanzeige eines NS-Verfolgten wurde vom Oberlandesgericht Köln ohne weitere Ermittlungen eingestellt. Und als ob dies nicht schon genug gewesen wäre, erhielt der frühere Sonderrichter kurz nach Kriegsende für eine zeitweilige Abordnung nach Bautzen und Umgebung eine Trennungsentschädigung von knapp 1.000 Reichsmark ausgezahlt. In den 1970er-Jahren folgte dann ein entsprechend angepasstes Ruhegehalt – letzteres ein später Dank des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaats für seine Beamten. Das fünfte Kapitel betrachtet die Rückzugsbewegungen der deutschen Justiz während der letzten Kriegsphase. Im Fokus stehen hier insbesondere die Vergegenständlichung des Rechts sowie der Umgang mit Akten, Gerichtsinventaren und Büroutensilien. So verfügte das Reichsjustizministerium angesichts der herannahenden Frontlinien, die Akten unter allen Umständen für die juristische Nachwelt zu erhalten. Eine weitere Maßnahme war die Einrichtung von Ad-hoc-Sondergerichten, die für auf der Flucht verübte Plünderungen zuständig waren.
Im sechsten Kapitel stellt Lahusen dann nochmals klar, dass von einem Justitium oder einer „Stunde Null“ in Bezug auf die deutsche Justiz nicht die Rede sein könne. Ungeachtet der Potsdamer Beschlüsse habe sich der Wiederaufbau der Rechtspflege am Ende als „eine Art Wettlauf“ zwischen Ost und West vollzogen (S. 237). Beiden Seiten sei es in erster Linie darum gegangen, die Funktionstüchtigkeit der Gerichte so rasch wie möglich wiederherzustellen. Das siebte und letzte Kapitel ist schließlich der Frage gewidmet, wie die Transformation der Kriegs- in eine Friedensnormalität gelang. Den Mittelpunkt der Untersuchung bildet das sogenannte Kriegsverfahrensrecht, dessen Vorschriften während des Zweiten Weltkriegs dafür gesorgt hatten, große Bereiche der Rechtsordnung auf den Modus der Heimatfront umzustellen. Da es die alliierten Siegermächte den deutschen Spruchkörpern zunächst strikt untersagt hatten, auch nur implizite Erklärungen zur Fortdauer oder zum Ende des Kriegs abzugeben, suchten sich diese mit rhetorischen Ausweichformeln zu behelfen. Erst als sich im Juli 1952 Bundestag und Bundesrat nach langwierigen Beratungen auf das sogenannte Zuständigkeitsergänzungsgesetz geeinigt hatten, wurde es den Gerichten ermöglicht, die de facto eingetretene Beendigung des Kriegszustands juristisch in den Griff zu bekommen, ohne damit alliierte Vorbehaltsrechte herauszufordern.
Es war das Interesse an diesem unscheinbaren, 2006 fast vergessenen Gesetz, das den Autor ursprünglich dazu bewog, sich näher mit den normalisierenden Funktionen der ordentlichen Justiz und deren Rolle in der Übergangsphase von Krieg und Frieden zu beschäftigen. Auch wenn nicht alle Befunde der Studie überraschen, bekräftigt sie grundsätzlich den Wert alltagsgeschichtlicher, mikrohistorischer und epochenübergreifender Perspektiven auf den Nationalsozialismus und dessen Nachleben, wie sie sich seit einigen Jahren in der Forschung immer mehr durchgesetzt haben. Zudem wirft das Buch ein Licht auf die verqueren Binnenlogiken und Selbstrechtfertigungsstrategien eines Justizsystems, das inmitten allgemeiner Agonie und Auflösung an den bewährten Formeln Autorität, Berechenbarkeit und Stabilität festzuhalten suchte. Angesichts der Tatsache, dass dies in packender, höchst anschaulicher Weise geschieht, war der erste Platz auf der Sachbuch-Bestenliste vom September 2022 völlig berechtigt.4
Auf der anderen Seite gibt die Publikation Anlass, noch einmal intensiver über den epistemischen Nutzen des Normalitäts-Konzepts und dessen Grenzen nachzudenken. Abgesehen davon, dass es sich um eine Erzählung „von oben“ handelt, die zum Teil standardisierte Selbstbilder und Selbstmythologisierungen der deutschen Justizeliten reproduziert5, verbleibt die Untersuchung fast ausschließlich in einem nationalgeschichtlichen Rahmen. Zu fragen wäre daher, ob und wie sich das gezeichnete Bild einer vermeintlich selbstgenügsamen, Stabilität suggerierenden Justiz verändert hätte, hätte sich der Autor dafür entschieden, den Einfluss deutscher Rechtspolitik und Rechtsprechung in den besetzten Ländern sowie die Interaktion mit nichtjuristischen deutschen und ausländischen Akteuren stärker zu berücksichtigen. Zu vermuten ist auch, dass eine intensivere Beschäftigung mit den alliierten Reformdiskussionen zum deutschen Rechtswesen und mit vergleichbaren Bestrebungen gegenüber Japan zu einer differenzierteren Bewertung geführt hätte.6 Und schließlich lädt Benjamin Lahusens anregende Studie auch dazu ein, sich in Anlehnung an konzeptionelle Diskussionen, die unter anderem von Michael Wildt und Bernhard Gotto vorangetrieben wurden, kritisch mit der analytischen Tragfähigkeit von „Normalität“ als Transformationsbegriff und dynamischem Konzept auseinanderzusetzen. Denn nur so lässt sich verstehen, warum Justiz und Verwaltung sogar nach den ordnungspolitischen Umbrüchen an dem Normalitätsdiskurs festhielten, obwohl sich die ihm zugrunde liegenden Werte und Bezugspunkte doch grundlegend und irreversibel verändert hatten.
Anmerkungen:
1 Detlev J.K. Peukert, Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches, in: Dan Diner (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 51–61.
2 Klaus Marxen, Einführung, in: ders. / Holger Schlüter, Terror und „Normalität“. Urteile des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs 1934–1945, Düsseldorf 2004, S. 1–7.
3 Martin Broszat / Klaus-Dietmar Henke / Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, 3. Aufl. 1990.
4 Siehe https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article240708627/Sachbuecher-des-Monats-WELT-Bestenliste-fuer-September-2022.html (22.11.2022).
5 Die sich hartnäckig haltende Opferlegende vom „großen Sterben am Reichsgericht“ (August Schäfer, Deutsche Richterzeitung 1957), die Lahusen übernimmt (S. 236), kann inzwischen als widerlegt gelten. Aus internen Korrespondenzen des BGH-Richters Walther Uppenkamp, Anfang der 1950er-Jahre Sprecher einer Vereinigung ehemaliger Reichsgerichtsräte, geht hervor, dass diese Gruppe immerhin an die 70 Personen umfasste; diese Information verdanke ich Prof. Dr. Michael Kißener (Mainz), Ko-Leiter eines Forschungsprojekts zur Geschichte des Bundesgerichtshofs.
6 Vgl. dazu R.W. Kostal, Laying Down the Law. The American Legal Revolutions in Occupied Germany and Japan, Cambridge, Mass. 2019.