Neben dem Wohlfahrtsstaat und dem globalen Engagement gehörte die ebenso bewährte wie bewehrte Neutralität Schwedens über lange Zeit zu jenen Charakteristika, die den Wesenskern des Landes in der internationalen Arena auszumachen schienen. In der Wissenschaft erfreuten sich Neutralitätsstudien am Beispiel Schwedens beinahe ebenso großer Beliebtheit wie Arbeiten zum vermeintlichen Erzneutralen – der Schweiz. Die hier zu besprechenden jüngeren Veröffentlichungen – zwei Monographien und ein Sammelband – sind Ausdruck und vermutlich auch ein letztes Konjunkturhoch dieses Forschungsinteresses. Mit dem Beitritt Schwedens zur North Atlantic Treaty Organization (NATO), wie er sich im Laufe der kommenden Monate auch formal vollziehen sollte, gibt Schweden im Tandem mit Finnland seine militärische Neutralität und Bündnisfreiheit auf. Die Bündnisfreiheit des Landes – im Sinne des dem Kalten Krieg entlehnten „non-alignment“ – war bereits mit dem Beitritt zur Europäischen Union (EU) 1995 effektiv aufgegeben worden. Damit wird auch die schwedische Neutralitätstradition zu einem ausschließlich historischen Gegenstand. Dies hat insofern Auswirkungen, als in erster Linie politikwissenschaftlich angelegte Studien, wie sie Jelena Radoman und Ryszard Czarny vorgelegt haben, ihren aktuellen, auf die Gegenwartspolitik bezogenen Charakter einbüßen und in der von ihnen vorgenommenen Analyse zumindest stellenweise bereits gleichsam veraltet wirken. Dies entwertet die hier zu besprechenden Untersuchungen keinesfalls, deutet aber den volatilen Charakter diagnostischer Festlegungen oder gar prognostischer Erwartungen an, wenn sie eine Arena internationaler Politik betreffen, der verbindliche und vor allem durchsetzungsfähige Ordnungsvorstellungen seit einigen Jahren gänzlich abhandengekommen zu sein scheinen.
Radomans Studie Military Neutrality of Small States in the Twenty-First Century geht auf eine an der Universität Belgrad entstandene Dissertationsschrift zurück, in der es sich die Verfasserin zur Aufgabe gemacht hat, Schwedens und Serbiens sicherheitspolitische Strategien systematisch zu vergleichen und die Kernfrage zu beleuchten, weshalb beide Staaten auch und gerade im frühen 21. Jahrhundert für „militärische Neutralität“ als strategisches Paradigma optiert hätten – als „Grand Strategy“ gewissermaßen. Hierzu kartiert Radoman einleitend die theoretische Landschaft, in der sie ihre Untersuchung einbettet. In diesem Zusammenhang resümiert sie darüber hinaus den Forschungsstand zur schier endlos ausgeuferten Debatte um Kleinstaaten und Kleinstaatlichkeit im internationalen System und bemüht sich zudem um eine Begriffsbestimmung der ihrer Untersuchung zugrundeliegenden analytischen Kategorie – der militärischen Neutralität.
Dass Kleinstaatlichkeit nicht gleich Kleinstaatlichkeit ist und sich Neutralität als ebenso breit gefächert, mehrdeutig und daher schwer fassbar erweist, macht insbesondere das von ihr gewählte Vergleichspaar deutlich. Es dürfte keine zwei (vormals) neutralen Kleinstaaten gegeben haben, die in Tradition, historischer Erfahrung, ideologischem Selbstbild und politischer Praxis stärker divergier(t)en als Serbien und Schweden. Schwedens arrivierter, sich im Zeitalter der Weltkriege und im Kalten Krieg bewährender Neutralitätstradition und – gravierender noch – dem gleichsam ewig wirkenden Frieden, der die kollektive Befindlichkeit des Landes in den letzten zweihundert Jahren überformt, steht das bellizistisch entgrenzte 20. Jahrhundert Serbiens beziehungsweise Jugoslawiens gegenüber, angefangen mit den Balkankriegen 1912–1913 über die Kriegs- und Okkupationserfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs bis hin zu den jugoslawischen Nachfolgekriegen, deren Nachleben ungebrochen auf die serbische Politik wirkt. Das postjugoslawische Serbien wiederum knüpft nicht unwesentlich an die unter Tito etablierte Block- und Bündnisfreiheit an, sodass auch hier zeitgeschichtliche Präzedenzen sowie Erfahrungs- und Rekursräume vorliegen, wenn auch in weniger ausgeprägtem Maße und bei geringer ausgeprägter Elitenkontinuität als im schwedischen Fall.
Nichtsdestoweniger vergleicht Radoman nicht Äpfel mit Birnen, wie ihr bei oberflächlicher Betrachtung vorgeworfen werden könnte. Klug beschränkt sie ihr Erkenntnisinteresse auf die Leitfrage, wie die fundamentale Differenz ihrer Fallstudien eine gewisse Konvergenz in der sicherheitspolitischen, gleichsam „großstrategischen“ Orientierung beider Staaten ergeben kann. Aus der methodischen Not – so ließe sich klischeehaft feststellen – macht die Verfasserin folglich eine Tugend. Als überzeugend erweist sich Radomans Ansatz in erster Linie aufgrund der beeindruckenden Systematik, mit der sie die Fallstudien entlang eines umfangreichen, ja erschöpfenden Katalogs von Kriterien und analytischen Kategorien durchdringt. Dies vollzieht sich auf drei Ebenen eines Theoriemodells, das sie zu Recht als im besten Sinne „eklektisch“ bezeichnet (S. 33–41): erstens auf einer primär historischen Erfahrungsebene, die den gegenwartspolitischen Horizont in die Geschichte zumal des „langen 20. Jahrhunderts“ (Patrick Cohrs) einbettet und den mit Abstand umfänglichsten Teil der Untersuchung bildet; zweitens auf einer Wahrnehmungsebene, die sich vor allem mit der Perzeption von realen und antizipierten Bedrohungen in beiden Ländern befasst; und schließlich drittens auf einer Ebene der innenpolitischen Dynamik, auf der Radoman sich bemüht, die Entwicklung und Konsolidierung der sicherheitspolitischen Präferenzen nachzuvollziehen, wie sie von den wesentlichen Trägern der politischen Landschaften Schwedens und Serbiens vertreten werden beziehungsweise im Falle Schwedens bis 2022 vertreten wurden.
In der dichten Systematik ihrer Dreiebenenanalyse – und weniger in den von ihr angedeuteten gegenwartspolitischen Implikationen – dürfte der eigentliche Ertrag von Radomans Studie liegen. Dabei erscheint es verzeihlich, dass Schweden weitaus weniger systematisch betrachtet wird als der ihr augenscheinlich wesentlich geläufigere serbische Fall. Besonders deutlich wird dieses Ungleichgewicht auf der innenpolitischen Analyseebene, auf der einer ambitionierten Darstellung der serbischen Innenpolitik der letzten beiden Jahrzehnte ein vergleichsweise magerer Überblick zu den Debatten innerhalb der schwedischen Politik gegenübersteht. Nichtsdestoweniger erweist es sich für den an den Kleinstaatenkosmos Nordeuropas gewöhnten Historiker als erfrischend, Schweden einmal in einem ungewohnten, in vielerlei Hinsicht kontraintuitiven Vergleichskontext wiederzufinden.
So verdienstvoll die beeindruckend akribische Erschließung und Herleitung einer im Falle Schwedens bereits obsolet gewordenen militärischen Neutralität auch ist, scheinen die Ergebnisse der Studie, wie Radoman sie bewährt systematisch zusammenträgt, doch von den Entwicklungen der letzten anderthalb Jahre merkwürdig überholt. Als problematisch erweist sich dabei bereits die Prämisse einer auch nach den 1990er-Jahren fortgesetzten schwedischen Neutralität. Radoman bedarf einer solchen Behauptung naturgemäß, um überhaupt in der Lage zu sein, Neutralitätspraktiken miteinander zu vergleichen. Schwedens sich abzeichnende Abwendung von der eigenen Neutralitätstradition, wie sie unter anderem in den wesentlichen außen- und sicherheitspolitischen Dokumenten der frühen 2000er-Jahre deutlich wird, entgeht ihr zwar nicht, wird jedoch ihres wachsenden Gewichts in der politischen Debatte etwas beraubt. Auch scheint Radomans Erklärung für die schwedische Politik eines militärischen „non-alignment“ revisionsbedürftig. Im Kern sieht sie hier einen „Primat der Innenpolitik“ am Werk und veranschlagt die Dimension der Bedrohungswahrnehmung nicht nur im serbischen, sondern auch im schwedischen Fall als eher gering. Sie räumt dabei zwar ein, dass die einschlägigen schwedischen Strategie-Konzepte Russland seit den 1990er-Jahren durchaus als potentielle Bedrohung und wesentlichen Unwägbarkeitsfaktor in der internationalen Arena ausmachen, geht jedoch in erster Linie davon aus, dass der Zusammenhang zwischen Bedrohungswahrnehmung auf der einen und Fragen von (militärischer) Neutralität und sicherheitspolitischer Orientierung auf der anderen Seite kein kausaler sei: „[…] threat perceptions do not hold a power to explain why states choose to remain outside of alliances“ (S. 243). Dem ist – obgleich mit dem Luxus der Rückschau auf kürzliche Entwicklungen – entgegenzuhalten, dass es eben jenes sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine einstellende Empfinden der Unsicherheit und Bedrohung war, das Schwedens und – pointierter noch – Finnlands Integration in die NATO wesentlich beschleunigt hat. In diesem Empfinden einer gravierend gewachsenen mittelbaren Bedrohung sind sich dabei die wesentlichen gesellschafts- und parteipolitischen Akteure des Landes gleichermaßen einig. In allgemeinerer Sicht machen die sicherheitspolitischen und strategischen Neuorientierungen der letzten Monate darüber hinaus deutlich, dass sich die Kontingenz internationaler Entwicklungen der theoretischen Modellierung im Grunde entzieht, selbst wenn diese so angenehm eklektisch, analytisch rigide und umfangreich kontextualisiert erfolgt wie bei Radoman.
Konventioneller als Radoman geht Ryszard Czarny vor, ein heute in der Slowakei lehrender polnischer Politikwissenschaftler und Jurist, der bereits mit einigen gewichtigeren Studien zu Nordeuropa hervorgetreten ist und in Ostmitteleuropa zu den wenigen dezidierten Spezialisten dieses Felds gezählt werden kann. Während Radomans Studie die fundamentale Transformation des schwedischen Neutralitätsverständnisses seit den 1990er-Jahren skizziert, im Kern jedoch den Begriff der (militärischen) Neutralität prinzipiell zu behaupten versucht, argumentiert Czarny in seiner Monographie Sweden: From Neutrality to International Solidarity auf Grundlage der Annahme, dass die schwedische Neutralität bereits vor 2022 durch die enge Assoziation mit der NATO effektiv abhandengekommen sei. Alternativ erfasst er Schwedens Position als die einer „internationalen Solidarität“, die das Land sich nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend zu eigen gemacht habe. Czarny bewegt sich dabei mehr oder minder auf der Linie der Advokaten einer möglichst engen sicherheitspolitischen Orientierung Schwedens auf die NATO und – ultimativ – eines schwedischen NATO-Beitritts aus dem letzten Jahrzehnt vor 2022, wie sie sich beispielhaft in den Einlassungen des früheren schwedischen Ministerpräsidenten Carl Bildt spiegelt.1 Der russische Krieg gegen die Ukraine hat diesen von Czarny bereits angedeuteten, von Bildt und anderen als unumgänglich empfundenen Prozess mit nicht erwartbarer Intensität beschleunigt.
Bei Czarnys Arbeit handelt es sich um einen ebenso kompetenten wie materialreichen Überblick jener Entwicklungen, die die Grundlage für die sich momentan vollziehende Integration Schwedens in die NATO bilden. Minutiös, ab und an gar etwas zu kleinteilig zeichnet er auf unterschiedlichen Analyseebenen die Gravitationstendenzen nach, die das Land im Verbund mit anderen Neutralen wie Finnland und Österreich 1995 in die EU und in den sich anschließenden Jahrzehnten zunehmend in den erweiterten Kosmos der NATO brachten. Czarny betrachtet diese Prozesse multiperspektivisch und betont neben außen- und sicherheitspolitischen Fragen vor allem, wie zentral der zwischenzeitlich miserable Zustand der schwedischen Wirtschaft und die innenpolitische Dimension für die übergeordnete strategische Ausrichtung waren. Als originär erweisen sich dabei weder der Ansatz noch die Ergebnisse der Studie; als Zusammenschau und breit angelegte Materialsammlung dürfte diese jedoch zweifelsohne hilfreich und insbesondere für ein nicht-schwedischsprachiges internationales Publikum von Interesse sein. Angesichts dessen mag man dem Verfasser die eine oder andere sprachliche Marotte nachsehen, zum Beispiel seine Präferenz, das von ihm in den Blick genommene Land grundsätzlich unter dessen Amtsbezeichnung beziehungsweise deren englischer Übersetzung zu führen, nämlich als „Kingdom of Sweden“ (Konungariket Sverige). Für die etwas eklektisch wirkende Syntax und Grammatik freilich ist Czarny als Nicht-Muttersprachler nicht verantwortlich zu machen. Hier hätte ein sorgsameres Lektorat seitens des Verlages – oder überhaupt das Vorliegen eines solchen – Abhilfe schaffen müssen. Gleiches gilt, wenn auch auf weniger gravierendem Niveau, für die bei Palgrave erschienene Arbeit Radomans. Es ist und bleibt schlicht ein Unding, dass Wissenschaftsverlage es heutzutage offenbar ablehnen, englischsprachige Manuskripte von Nicht-Muttersprachlern einem gewissenhaften Lektorat zu unterziehen.
Der von Nevra Biltekin, Leos Müller und Magnus Petersson herausgegebene Sammelband 200 Years of Peace. New Perspectives on Modern Swedish Foreign Policy divergiert von den monographisch angelegten Studien Czarnys und Radomans. Er geht zurück auf eine Tagung zur historischen Friedensforschung, die am 2020 etablierten Hans Blix Centre for the History of International Relations der Universität Stockholm stattfand. Das Zentrum ist das wohl sichtbarste Indiz dafür, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der internationalen Beziehungen auch in Schweden seine jahrzehntelange Schattenexistenz langsam hinter sich lässt und erneut zum ernstzunehmenden Bestandteil einer sozial- und kulturhistorisch überformten schwedischen Geschichtswissenschaft wird. Auch der vorliegende Sammelband bemüht sich – ganz im Sinne der jüngeren Trends und Tendenzen in der Internationalen Geschichte und der Neuen Diplomatiegeschichte – um eine möglichst breit aufgefächerte Annäherung an seinen Gegenstand, die mehr als zweihundert Jahre umfassende Abwesenheit einer unmittelbaren Kriegserfahrung in Schweden.2 Dieser historische Erfahrungshorizont ist unweigerlich an die von Radoman und Czarny diskutierten Fragen von Neutralität und „non-alignment“ im internationalen System gekoppelt. Wie Konferenzbände im Allgemeinen vereint auch der hier vorgelegte Stärken und Schwächen. Trotz seines recht bescheidenen Umfangs von gerade einmal 170 Seiten – und weit weniger Text – decken die Beiträge eine beeindruckende Bandbreite an Ausprägungen der Pax Suecia ab, wie die Herausgeber die dezidiert schwedische Friedenstradition und -erfahrung seit dem Kieler Frieden und dem Wiener Kongress 1814/15 in ihrer Einleitung bezeichnen. Als exzellent erweist sich diese Einleitung vor allem, weil sie ohne die im Titel angedeutete programmatische Selbstgefälligkeit auskommt, die das schwedische Selbstbild als „humanitäre Großmacht“ im 20. Jahrhundert nachdrücklich geprägt hat.3 Stattdessen bemühen sich die Herausgeber um die sanft dekonstruierende Historisierung einer facettenreichen zweihundertjährigen Friedens- und Neutralitätserfahrung.
Gleiches gilt für das Potpourri – und ein solches ist es unweigerlich – der in dem Band versammelten Beiträge. Zur inneren Kohärenz tragen dabei in erster Linie die beiden einführenden, die Neutralitätslandschaft historisch kartierenden Aufsätze von Leos Müller und Jacob Westberg bei. Müller, von der Prägung her Seefahrtshistoriker und einer der wesentlichen Stichwortgeber der historischen Forschung zur maritimen Welt in Schweden, hat sich in den letzten Jahren mit Studien zur Neutralitätsgeschichte Schwedens hervorgetan und dabei wiederholt auf die Ursprünge des Neutralitätsdiskurses im maritimen Kontext der Frühen Neuzeit hingewiesen.4 Sein Beitrag zu dem vorliegenden Band nimmt die frühe Neutralitätspraxis der Vereinigten Königreiche Schweden und Norwegen zwischen den Revolutionskriegen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem Ende des Krim-Kriegs 1856 in den Blick. Innovativ ist dies insofern, als das 19. Jahrhundert auch in der schwedischen Forschung als eher randständig erscheint und Müller vor allem die gleichsam opportunistische Beweglichkeit der Neutralität der schwedisch-norwegischen Union betont. Entgegen der etablierten Annahme, in Schweden(-Norwegen) eine dauerhaft neutrale Macht vorzufinden, erkennt Müller im Verhalten Stockholms weit eher das eines Gelegenheitsneutralen, dem die eigene Kleinstaatlichkeit im internationalen Raum zunehmend bewusst wird. In Müllers Analyse überwiegt der situative, instabile Charakter von Neutralitätspolitik und -praxis im 19. Jahrhundert, der sich aus einem Bündel außen-, innen- und verfassungspolitischer sowie systemischer Faktoren ergibt. Angesichts dessen korreliert der Beitrag stark mit jüngeren Tendenzen, deren interpretatorischer Kern um die Fragilität schwedischer – und in Verlängerung dessen skandinavischer – Neutralität kreist.5
Während Müller den Ursprüngen schwedischer Neutralität nachspürt, untersucht der von Westberg vorgelegte Beitrag in einer selbstbewussten Tour d’Horizon die Voraussetzungen und Bedingungen jener Pax Suecia. Westberg kommt dabei entgegen, dass die auf recht abstraktem Niveau angesiedelte politikwissenschaftliche Annäherung solche Rundumschläge eher gestattet als eine stärker empirisch orientierte historische Betrachtung. Die Vorteile der Annäherung liegen auf der Hand, als Westberg das Prozessuale und die Transformationen schwedischer Neutralität anhand seiner Beispiele nachvollziehen kann. In der vergleichenden Zusammenschau von Krim-Krieg (1853–1856), den Kriegen um Schleswig-Holstein (1848–1850/52, 1864) und den beiden Weltkriegen wird vor allem der innenpolitische Aushandlungscharakter von Neutralität – fundamental gebunden an eine sich wandelnde internationale Arena – deutlich, innerhalb derer Schweden seine neutrale Praxis als – so setzt Westberg voraus – Kleinstaat zu situieren hatte. Der schematisierende und im Kern nur bedingt historische Vergleich weist indes auch Schwächen auf. Ein Einwand liegt insofern nahe, als der einmal abstrakt kartierte Horizont bei systematischerer Beschäftigung mit den einzelnen Beispielen im Konkreten stets komplexer, ambivalenter, ja schillernder anmutet als in der vogelperspektivischen Draufsicht. Darüber hinaus teilt Westbergs Annäherung eine der Kardinalschwächen der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit: die häufig mangelnde Historisierung der vorliegenden Begrifflichkeiten. Um es anhand eines Begriffes zu veranschaulichen: Nicht nur die hier untersuchte Neutralitätspolitik war einem Wandel unterworfen, sondern zweifelsohne auch der von Westberg augenscheinlich ausschließlich analytisch verstandene internationale Ordnungsbegriff des Mächtegleichgewichts (Balance of Power). Letzterer indes ist zugleich Gegenstand weitgehender Historisierungsbemühungen gewesen, nicht zuletzt aus der Feder Paul W. Schroeders, die bedauerlicherweise an den IB vorbeigezogen sind, ohne entsprechenden Einfluss auf den Binnendiskurs der Disziplin zu entfachen. Lässt sich – so könnte man fragen – der historisch existierende Balance-Begriff um die Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt adäquat mit jenem der 1930er-Jahre vergleichen? Von solchen Defiziten in der Begriffsbildung einmal abgesehen, lassen sich aus dem Versuch einer vergleichenden Gesamtschau, wie Westberg ihn unternimmt, einige substantielle Impulse für das überdisziplinäre Gespräch zu Fragen einer historisch informierten Friedens- und Konfliktforschung beziehen.
Überhaupt bestimmt das Bemühen um vergleichende Betrachtung und Kontextualisierung den Stockholmer Sammelband. Die neueren, im Kern transnationalen Tendenzen in der Geschichte der internationalen Beziehungen spiegeln sich dabei in den Beiträgen von Fredrik Egefur und Anne Hedén. Egefur beschäftigt sich mit der typisch facettenreich aufgefächerten Friedensbewegung in Schweden vor dem Hintergrund der fundamentalen Krise von 1905, jenem Auflösungsprozess der schwedisch-norwegischen Union, an dessen Ende – bei beiderseitiger militärischer Mobilisierung – auch ein Krieg hätte stehen können. Klug leitet er die schwedische Bewegung transnational vergleichend aus den allgemeinen europäischen Entwicklungen ab und macht dadurch deutlich, dass der Gegensatz zwischen einer bürgerlich-liberalen Friedens- und nicht zuletzt Frauenbewegung auf der einen und ihrem sozialistischen Pendant auf der anderen kein ausschließlich schwedisches (oder nordeuropäisches) Phänomen war, sondern sich ab ovo durch sämtliche Gesellschaften Europas vor dem Ersten Weltkrieg zog.
Hedén überträgt diesen fruchtbaren transnationalen Ansatz auf einen in seiner Ambivalenz bemerkenswerten Fall, die schwedische Variante der Lotta-Bewegung (Svenska Lottakåren). Als paramilitärische und doch dem Frieden verpflichtete Freiwilligenorganisation geht die Bewegung auf den finnischen Bürgerkrieg vom Frühjahr 1918 zurück und existiert in Schweden seit 1924. Während Egefur mit der Krise von 1905 als Anlass eine Art Tiefenbohrung vornimmt, vollzieht Hedéns Beitrag die gesamte Geschichte der schwedischen Lotta-Bewegung im 20. Jahrhundert analytisch nach und kontextualisiert diese in ihren transnationalen Außenbeziehungen zu ähnlichen Initiativen in den Nachbarstaaten und auf dem europäischen Kontinent. Dieser längere organisationshistorische Blick erlaubt es ihr, die Transformation einer Bewegung zu rekonstruieren, deren Anfänge im konservativen Milieu lagen und die sich in der Nachkriegszeit um Anpassung an übergeordnete gesellschaftliche Entwicklungen und damit auch um die eigene Modernisierung bemühte.
Dass dem internationalen Vergleich häufig transnationale Ebenen innewohnen (können), zeigt nicht nur Hedén, sondern auch der ambitionierte Beitrag Christopher Seiberlichs. Im Kern betreibt Seiberlich die sanfte Dekonstruktion schwedischer Sonderwegsmythen in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik der „langen 1970er-Jahre“, indem er über den Vergleich deutlich macht, wie stark die von der schwedischen Sozialdemokratie betriebene Politik gegenüber dem globalen Süden in einem westeuropäisch-sozialdemokratischen Kontext wurzelte.6 Die Kartierung dieses transnationalen politischen Kommunikationsraums weist dabei auf das noch umfänglicher angelegte Promotionsvorhaben Seiberlichs hin, in dessen Zentrum die sozialdemokratische Entente der Bundesrepublik Deutschland, der Niederlande und Schwedens in den frühen 1970er-Jahren und ihre globalen Bezüge stehen.
Eine weitere Facette schwedischer Außen- und auswärtigen Kulturpolitik nimmt der Beitrag von Janne Väistö in den Blick, der in den letzten Jahren mit einer Reihe von Arbeiten zur Rolle der schwedischen Sprache in der finnischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert hervorgetreten ist. Die hier entwickelten Betrachtungen gehen dabei auf frühere Einlassungen des Verfassers zurück und weisen überzeugend auf die internationale Komponente hin, die das sensible Feld der Sprachpolitik auch nach der verfassungsrechtlichen Beilegung des sogenannten Sprachenstreits in Finnland 1923 (språkstriden auf Schwedisch beziehungsweise kielitaistelu auf Finnisch) stets besessen hat.7 Dass und mit welcher Vehemenz eine solche Dimension freilich bis in den Kalten Krieg fortexistierte, macht Väistös Untersuchung unmissverständlich deutlich. Über den primär innenpolitischen Antagonismus hinaus kam der Frage nach dem Status des Schwedischen insbesondere im finnischen Schul- und Bildungssystem auch in der Perspektive Stockholms eine kardinale Funktion zu, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmenden Integration Finnlands in die nordische Gemeinschaft.
Die von Biltekin, Müller und Petersson zusammengetragenen Beiträge decken auf engstem Raum eine beeindruckende Bandbreite an Facetten der historischen Außenpolitikforschung ab, leisten aber vor allem eines: Über die häufig vergleichende, mit transnationalen Ebenen ausgestattete Kontextualisierung „entghettoisieren“ sie einen Gegenstand, der – mit wenigen honorigen Ausnahmen – seit Wilhelm Carlgrens Arbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre einer Neuerschließung harrt. Der Sammelband ist dabei zweifelsohne Ausdruck des erneut belebten Interesses an einer modernen Geschichtsschreibung der internationalen Beziehungen. Die mangelnde inhaltliche Stringenz des Bandes, die sich auch durch die vorzügliche Einleitung und ein Nachwort der Herausgeber nicht gänzlich auffangen lässt, erscheint angesichts dessen eher vernachlässigenswert.
Blickt man in der Gesamtschau auf die hier besprochene neuere Forschung zur Außen- und Sicherheitspolitik Stockholms, wird vor allem deutlich, dass sich die schwedische Abkehr von der eigenen militärischen Ungebundenheit und die seit 2022 auch formal betriebene Hinwendung zur NATO nicht als kontextlos-affektive Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine verstehen lässt, sondern weit mehr als ein sich seit den 1990er-Jahren sukzessive vollziehender Prozess, dessen Ursprünge im späten Kalten Krieg zu suchen sind. Zu Recht und mit einer gewissen prognostischen Kraft stellen Biltekin, Müller und Petersson sowie – argumentativ etwas anders gewendet – auch Czarny noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine fest, dass es für die beiden seinerzeit (militärisch) Bündnisfreien der Region – Finnland und Schweden – künftig geostrategisch im Grunde unmöglich sein dürfte, in einem Konflikt jene freiwillig-opportunistische Neutralität zu bewahren, die einem Staat im 19. Jahrhundert beinahe als internationaler Regelfall vergleichsweise leicht von der Hand ging. Ob und inwieweit sich das Abhandenkommen der im 20. Jahrhundert sehr einflussreichen „intermediary bodies“ perspektivisch auf die Mechanismen der internationalen Politik und das internationale System insgesamt auswirkt, bleibt dabei abzuwarten.8
Anmerkungen:
1 Carl Bildt, The End of Scandinavian Non-Alignment, in: The Strategist. Blog des Australian Strategic Policy Institute, 18.10.2018, https://www.aspistrategist.org.au/the-end-of-scandinavian-non-alignment/ (22.10.2023).
2 Auszunehmen sind dabei die schwedischen Freiwilligen, die sich in unterschiedlichen historischen Kontexten zusammengefunden haben und erst in den letzten beiden Jahrzehnten zum Gegenstand näherer Forschung geworden sind. Als Beispiele ließe sich auf die stellenweise auch militärische Solidarität mit Finnland im Zweiten Weltkrieg oder auf die circa 500 schwedischen Freiwilligen in der Waffen-SS verweisen. Vgl. als Überblick Lars Gyllenhaal / Lennart Westberg, Svenskar i krig 1914– 1945, Lund 2008.
3 Als „Glutinous Smugness“ soll der Diplomatiehistoriker Harold Maurice Alvar Keens-Soper das schwedische Auftreten im internationalen Kontext charakterisiert haben. Zitiert nach Greg Simons / Andrey Manoilo, Sweden’s Self-Perceived Global Role. Promises and Contradictions, in: Research in Globalization 1 (2019), S. 1–4, hier S. 1.
4 Leos Müller, Neutrality in World History, London 2019. Vgl. vor allem Kapitel 2 und 3.
5 Vgl. unter anderem die vorzügliche Pionierarbeit von Mart Kuldkepp, Scandinavian Neutrality in the Crimean War, in: Candan Badem (Hrsg.), The Routledge Handbook of the Crimean War, London 2021, S. 165–177.
6 Besonders eindrücklich und im Grunde intellektueller Stichwortgeber dieser Interpretation: Poul Villaume / Rasmus Mariager / Helle Porsdam (Hrsg.), The ‘Long 1970s’. Human Rights, East-West Détente and Transnational Relations, London 2016. Siehe hierzu auch die Rezension von Bernd Rother, in: H-Soz-Kult, 28.09.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-24298 (22.10.2023).
7 Janne Väistö, Finland, Sverige och ‘tvångssvenskan’. I språkfrågans gråzon, in: Historiska och litteraturhistoriska studier 95 (2020), S. 271–295.
8 Im Sinne der Schroeder’schen Begriffsbildung „intermediary bodies“. Vgl. Paul W. Schroeder, Making a Necessity of Virtue. The Smaller State as Intermediary Body, in: Austrian History Yearbook 29 (1998), S. 1–18. Vgl. dazu auch meine Anmerkungen, die den Begriff auf den nordischen Kontext zu übertragen versuchen: Michael Jonas, Intermediary Bodies in International Politics. Conceptual and Historical Observations on Northern Europe’s Small States in the International System in the 19th and 20th Centuries, in: Diplomatica 5,2 (2023), S. 204–224.