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Titel
Von "Irren" und "Blödsinnigen". Der Kanton Schwyz und die Psychiatrie im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Dettling, Angela
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv, Bern

Sinnbild der Psychiatrie des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts ist zweifellos die kasernenartige, geschlossene und staatlich getragene Heil- und Pflegeanstalt. Auch die Psychiatriegeschichte war lange – und ist nach wie vor – von dieser Perspektive geprägt und hat der Familienversorgung, aber auch institutionalisierten nicht stationären Behandlungsformen bislang eher wenig Aufmerksam geschenkt. Und noch kaum hat sich die Forschung mit den verschiedenen und teilweise recht weit zurückreichenden Traditionslinien beschäftigt, die als „sozialpsychiatrisch“ im weiten Sinn bezeichnet werden dürfen – also Ansätze, die im lebensweltlichen Milieu weniger eine Krankheitsursache als einen „natürlichen“ Ort der Genesung und der Wiedereingliederung sehen und im Gegenzug die pathogene Wirkung des Anstaltsmilieus unterstreichen.1 Dass die Entwicklung von der Irrenanstalt zu einem funktional differenzierten, jedoch institutionell durchlässigen „segmentierten“ Versorgungssystem keineswegs gradlinig verlief, sondern überaus komplex war, zeigt nicht zuletzt der Blick auf regional unterschiedliche Entwicklungen. Besonders deutlich wird dies im Fall der schweizerischen Psychiatrielandschaft, welche die föderalistische Struktur des Bundesstaats ebenso wie regionale und konfessionelle Ungleichgewichte widerspiegelt. So gründeten Kantone wie Genf oder Bern bereits früh – 1838 respektive 1855 – staatliche „Irrenanstalten“, während andere Kantone bis ins 20. Jahrhundert über keine institutionelle Psychiatrie verfügten.2

Zu diesen Kantonen, die vorzugsweise katholisch geprägt waren, gehörte auch der Kanton Schwyz. Dessen spezifischer Weg zur Psychiatrie beleuchtet die hier zu besprechende Darstellung der Historikerin Angela Dettling, die seit 2006 den Bereich Geschichtsvermittlung des Museums Aargau leitet. Entstanden ist das Buch als Auftragswerk des Schwyzerischen Vereins für Sozialpsychiatrie, der 1906 als kantonaler „Irrenhilfsverein“ gegründet wurde. Als Jubiläumsschrift, die sich an ein breites Publikum richtet und damit nur bedingt den Ansprüchen akademischer Geschichtsschreibung verpflichtet ist, legt die Autorin den Schwerpunkt auf die Vereinsgeschichte. Hauptsächliche Quellenbasis ist denn auch das gut erhaltene Vereinsarchiv. Dennoch wartet die Darstellung mit einigen Erkenntnissen auf, die auch für eine sozial- und kulturgeschichtlich orientierte und methodisch-theoretisch ambitionierte Psychiatriegeschichte, wie sie in der Schweiz seit einigen Jahren betrieben wird, von Interesse sind.

Die erste Hälfte des Buchs deckt den Zeitraum von der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre ab. Seit 1906 warb der Schwyzer Irrenhilfsverein für den Bau einer kantonalen oder regionalen Irrenanstalt, die den in Armenanstalten oder ausserkantonalen Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Geisteskranken eine angemessene Unterkunft bieten sollte. Als Promotoren dieses sozialen Engagements, das sich in ähnlicher Form auch in andern Kantonen feststellen lässt, traten Exponenten der Regierung, aber auch der Ärzteschaft auf. Zudem konnte sich der Verein auf ein verzweigtes Netz aus Korrespondenten und Spendensammlerinnen und -sammlern stützen. Mehrere Anstaltsprojekte, die mit Hilfe eines durch den Verein vermehrten Irrenhausfonds hätten realisiert werden sollen, scheiterten jedoch in den 1930er- und 1950er-Jahren. In der Folge verlegte sich der Verein darauf, die Unterbringung mittelloser Schwyzer Patienten in ausserkantonalen Anstalten zu ermöglichen. Zudem bildete der Hilfsverein auch im Kanton Schwyz ein wichtiges Forum zur Popularisierung von psychiatrischen Deutungsmustern und Anliegen.

Im zweiten Teil verfolgt die Autorin den Wandel des Tätigkeitsfelds des Vereins, der zu Beginn der 1960er-Jahre begann, ambulante und dezentrale Fürsorgestellen einzurichten. Diese bildeten das Rückgrat eines 1965 initiierten sozialmedizinischen respektive sozialpsychiatrischen Diensts. Auch diese Einrichtungen wurden zunächst privat getragen, dann jedoch zunehmend durch Kantons- und Gemeindebeiträge finanziert. Seit den 1980er-Jahren sind sie integraler Bestandteil der kantonalen Psychiatrieplanung. Bezeichnenderweise sah der Vereinspräsident das Projekt einer kantonalen Anstalt bereits 1963 in weite Ferne gerückt; 1976 strich der Verein den Anstaltsbau dann definitiv aus dem Zweckartikel der Statuten. Ab den 1980er-Jahren erfuhren die ambulanten Angebote erneut einen starken Ausbau: Drogenberatungsstellen wurden geschaffen, zugleich machte die steigende Zahl der Konsultationen personelle Aufstockungen und verschiedene Reorganisationen notwendig. Ende der 1980er-Jahre kamen betreute Wohnheime und Angebote im halbstationären Bereich hinzu. 2000 wurde ein kinder- und jugendpsychiatrischer Dienst geschaffen. Zwei Jahre später erfolgte – gleichsam als Bilanz der knapp vierzig Jahre zuvor erfolgten Weichenstellung – die Umbenennung des Vereins in Schwyzerischen Verein für Sozialpsychiatrie.

Offen deklariert die Autorin den populärwissenschaftlichen Charakter sowie den geographisch und thematisch beschränkten Fokus der Untersuchung. Dass die kritische Reflexion der Erkenntnisse und deren Kontextualisierung streckenweise noch hätten vertieft werden können, soll ihr deshalb keineswegs vorgehalten werden. Vielmehr sollen hier abschließend einige Anknüpfungsmöglichkeiten hervorgehoben werden, welche die flüssig geschriebene, wenn auch im zweiten Teil manchmal etwas langatmige Darstellung für die weitere Forschung bietet: So zwingt das Fehlen einer zentralen Anstalt im Kanton Schwyz die historische Beobachterin und den historischen Beobachter geradezu dazu, Psychiatrie als ein regionales Versorgungssystem und nicht allein als eine „totale“, primär durch Ärztepersönlichkeiten geprägte (universitäre) Institution zu analysieren. Zudem verdeutlicht der Blick auf einen katholischen Landkanton, dass auch die moderne Psychiatrie das Produkt unterschiedlicher Entwicklungspfade ist, die von zivilgesellschaftlichem Engagement ebenso wie von wissenschaftlichen Experten geprägt waren. Schließlich zeichnet die Untersuchung ein eher prosaisches, aber umso plausibleres Bild einer „Sozialpsychiatrie“ ländlichen Zuschnitts, das die viel zitierte, aber bisher kaum im Detail erforschte „De-Institutionalisierung“ der Psychiatrie seit den 1960er-Jahren ebenso als Ergebnis pragmatischer, durch knappe Ressourcen mitbestimmte Weichenstellungen wie als Resultat neuer Krankheitsverständnisse und Subjektivierungsformen erscheinen lässt. Noch konziser herauszuarbeiten wären dann allerdings die Bedingungen, unter denen ein Setting, das in institutioneller Hinsicht prekär blieb, ein besonderes Innovationspotenzial zu entfalten vermochte. Gerade im Fall der (schweizerischen) Psychiatriegeschichte kann sich aber – und dies zeigt das Buch von Angela Dettling eindeutig – der Blick von der Peripherie aufs Zentrum durchaus lohnen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Franz-Werner Kersting (Hrsg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003.
2 Vgl. zur Schweizer Psychiatrie im ländlichen Raum: Simon Steiner, Mit warmem Herz und kühlem Wissen. Der Appenzellische Verein für Unterstützung armer Geisteskranker und sein Engagement für eine kantonale „Irrenanstalt“, in: Appenzeller Jahrbücher 135 (2007), S. 56–71; Catherine Fussinger, Une psychiatrie „novatrice“ et „progressiste“ dans un canton périphérique et conservateur: un réel paradoxe, in: Claudia Honegger u.a., Wissen, Gender, Professionalisierung. Historisch-soziologische Studien, Zürich 2003, S. 169–186; Paul Höck, Die Entwicklung der institutionellen Psychiatrie im Kanton Zug, Zürich 1994.

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