Das von Heike Karge vorgelegte Buch beruht auf einer überarbeiteten Fassung ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 2018. Die Autorin, seit 2023 Leiterin des Arbeitsbereichs Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie an der Universität Graz, stellt die Frage, inwieweit der kroatisch-serbische Raum in die europäische Moderne integriert war. Um dieser Frage nachzugehen, widmet sie sich den Diskursen und Praktiken im Zusammenhang mit psychisch Versehrten in Jugoslawien, wobei Soldaten aus den beiden Weltkriegen im Mittelpunkt stehen. Hierbei stützt sie sich sowohl auf veröffentlichte Literatur als auch auf die Auswertung von ungefähr 1.100 psychiatrischen Patientenakten aus dem Zeitraum von 1915 bis 1948. Diese Akten stammen aus den psychiatrischen Krankenhäusern in Stenjevec (nahe Zagreb) und Belgrad. Auf diese Weise entsteht eine facettenreiche Studie, welche die inzwischen sehr reiche Historiographie zum (Kriegs-)Trauma im 20. Jahrhundert um wertvolle Erkenntnisse bereichert.1
Die Studie ist chronologisch aufgebaut und beginnt in Kroatien-Slawonien und im Serbien des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Sie endet in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges im sozialistischen Jugoslawien. In fünf archivgesättigten Kapiteln präsentiert die Autorin ihre zentrale These einer verspäteten Modernisierung („enklavenhafte Modernisierung“, S. 21). Laut Karge setzte sich um 1900 im kroatisch-serbischen Raum die Vorstellung einer organischen Genese von Geisteskrankheiten durch. Der Balkankrieg und der Erste Weltkrieg führten nicht zu einer spezifisch für Soldaten entwickelten Diagnose und zeigen, wie heterogen die Doppelmonarchie mit im Krieg psychisch erkrankten Soldaten umging – unterschiedliche medizinische Traditionslinien führten zu unterschiedlichen Therapieformen. Im Königreich Jugoslawien der Zwischenkriegszeit wurde die Neurose als psychogene Krankheit kontrovers diskutiert, doch letztendlich setzte sich die Schizophrenie als dominante Diagnose durch. Mit dem psychoanalytisch inspirierten Experiment um den Psychiater Hugo Klajn im Zweiten Weltkrieg, bei dem empathische Therapien für Partisan:innen angewendet wurden, etablierte sich kurzfristig eine innovative Praxis: Partisan:innen mit psychischen Beschwerden wurden de facto nicht als Kriegsdrücker aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Gewalterfahrung wurde also ernst genommen. Doch 1945 wurde das Koviner Institut, an dem Klajn arbeitet, abrupt geschlossen. Die jugoslawische Psychiatrie blieb noch mehrere Jahrzehnte einer Sicht verhaftet, die im psychiatrisch kranken Soldaten einen Simulanten sieht, und öffnete sich später als andere europäische Psychiatrien einer US-inspirierten psychogenetischen Interpretation des Traumas.
Mit ihrer Interpretation widerspricht Heike Karge ausdrücklich den Thesen der Historikerin Ana Antić. In ihrem 2017 veröffentlichten Buch „Therapeutic Fascism“ behauptet Antić, dass der Zweite Weltkrieg ein entscheidender Wendepunkt hin zur psychologischen Behandlung von (Kriegs-)Traumata gewesen sei.2 Das hier besprochene Buch zieht dagegen eine konträre Schlussfolgerung, indem es argumentiert, dass es in Jugoslawien – mit wenigen Ausnahmen – nicht zu einer systematischen Auseinandersetzung mit soldatisch-psychischer Beschädigung im und nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen sei.
Es gibt mehrere Gründe für die verspätete Modernisierung dieser südosteuropäischen Gesellschaft, welche die Autorin anhand der Psychiatrie untersucht. Einerseits bleibt die Psychiatrie in diesem Raum bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine Anstaltspsychiatrie, die Patienten hauptsächlich verwahrt und wenig behandelt. Aus diesem Grund kommt es erst sehr spät zu einer Entgrenzung psychiatrischen Handels außerhalb dieses institutionellen Rahmens. Andererseits sahen sich die vorwiegend in urbanen Zentren wie Wien ausgebildeten Psychiater:innen mit einer mehrheitlich ländlichen und bäuerlichen Bevölkerung konfrontiert. Diese Bevölkerung wurde von den Psychiater:innen oft als nicht von Kultur, Zivilisation und Moderne erfasste angesehen, was zu rein organischen Diagnosen wie Schizophrenie führte.
Insgesamt gewährt das Buch spannende Einblicke in die Entwicklung der Psychiatrie im kroatisch-serbischen Raum im 20. Jahrhundert. Es argumentiert überzeugend, wie kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen die psychiatrische Praxis und das Verständnis psychischer Erkrankungen geprägt haben. Die Frage, ob die von Heike Karge betonten Besonderheiten des kroatisch-serbischen Raumes oder die These von Ana Antić, die von einem vom Zweiten Weltkrieg ausgelösten Modernisierungsschub ausgeht, sich durchsetzen wird, bleibt der weiteren Forschung vorbehalten.
Anmerkungen:
1 Didier Fassin / Richard Rechtman, The empire of trauma. An inquiry into the condition of victimhood, Princeton 2009; Jolande Withuis / Annet Mooij (Hrsg.), The politics of war trauma. The aftermath of World War II in eleven European countries, Amsterdam 2010.
2 Ana Antić, Therapeutic Fascism. Experiencing the Violence of the Nazi New Order in Yugoslavia (Oxford Studies in Modern European History), Oxford 2016.