Biographien sind seit einiger Zeit wieder satisfaktionsfähig in der Geschichtswissenschaft. Für die Frage, was sie leisten können, scheint die Biographie eines Historikers besonders aufschlussreich, der seinerseits berühmt ist, aber auch umstritten war für seine biographischen Bücher und Studien. Eine Biographie über Golo Mann (1909–1994) zu schreiben heißt dementsprechend, eine Reflexion des eigenen Unternehmens schon im Gegenstand vorzufinden, und ruft Maßstäbe auf, die Hilfe und Belastung zugleich sein können. Denn Mann gilt, wie eine Gedenkbriefmarke im vergangenen Jahr noch einmal unterstrich, als literarisch überzeugendster deutscher Historiker des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich leitete sich dieser Ruhm zwar nicht in erster Linie von seinen biographischen Studien her; zu einer vielgefragten öffentlichen Person wurde Golo Mann vielmehr durch seine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ von 1958, die in einer damals ungewohnten Weise nationalkritisch war. Biographisch angelegt ist jedoch sowohl Manns erstes Buch über Friedrich von Gentz (engl. 1946, dt. 1947) als auch sein opus magnum „Wallenstein“ von 1971, von seinen vielen Essays zu schweigen. Was man sich an Manns Historiographie leichter klarmachen kann als an den Arbeiten der meisten anderen Historiker, ist nicht zuletzt die Wechselwirkung zwischen Geschichtsbild und Deutung der jeweils dargestellten Geschichte einerseits und dem gebrauchten Stil andererseits, von der Erzählperspektive über die Begrifflichkeit oder Metaphern bis zum Satzbau. „Wallenstein“ hat nicht nur dadurch eine literarische Seite, dass das Buch eine – als solche deutlich gekennzeichnete – fiktionale Passage mit den „Nachtgedanken“ des Generals als innerem Monolog enthält, sondern viel grundlegender, weil es die „Bedeutung der Form“ (Hayden White) bewusst einsetzt und kultiviert.
Für Tilmann Lahmes Golo-Mann-Biographie spielen solche Gesichtspunkte kaum eine Rolle – weder als Problem, das den Porträtierten umtrieb und das dessen Biograph auseinanderzulegen hätte, noch als Problem, das sich ebenso Lahme selbst stellt, wenn er Historiographie als Biographie betreibt. Zwar handelt es sich um eine geschichtswissenschaftliche Dissertation, die 2006/07 in Kiel angenommen wurde (welche Teile gekürzt und welche hinzugefügt wurden, wie es in der Danksagung heißt, wüsste man gerne). Doch Lahmes Biographie ist nicht für andere Historiker geschrieben, geschweige denn für Theoretiker oder Historiker der Historiographie, sondern fürs breitere Publikum, das sich zumal anlässlich des 100. Geburtstags 2009 an einen früher wahrscheinlich selbst gelesenen Autor erinnern lassen mag. Diese Aufgabe erfüllt das gut fünfhundertseitige Buch sehr gut, wie die zahlreichen zustimmenden Rezensionen in Presse und Publizistik des vergangenen Jahres zeigen. Und es leistet dabei Erhebliches, auch wenn es sich nicht, wie im Vorwort suggeriert, um die erste Biographie auf der reichen Materialgrundlage des – von Lahme und Kathrin Lüssi unlängst edierten1 – Briefwechsels Golo Manns und, wichtiger noch, seiner vom Schweizerischen Literaturarchiv in Bern aufbewahrten Tagebücher handelt. (Beides hat auch schon Urs Bitterli in seiner 2004 erschienenen Biographie benutzt, die ähnlich zugeschnitten ist, aber etwas umständlich und stilistisch altväterisch daherkommt.2)
Lahme geht auf die – durchaus belastende – familiäre Herkunft ebenso ein wie auf Golo Manns Kampf um ein eigenständiges, nämlich auf Philosophie und Historie gegründetes intellektuelles Profil samt zunächst sozialistischer Politisierung, er schildert die Erfahrungen des Exils ebenso plastisch wie die Reserve, die der Remigrant zeitlebens gegenüber Deutschland und den Deutschen bewahrte, er lobt Manns publizistisches Engagement für eine neue Ostpolitik bereits in den 1960er-Jahren und zeichnet den Wandel vom Parteigänger Willy Brandts zum merkwürdig ungeschickten Unterstützer des Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß nach. Dies alles wird quellennah und mit – bisweilen übermäßig – vielen Zitaten des Porträtierten dargestellt, sympathetisch, aber nicht distanzlos, recherchestark und daher hochinformativ, gut gegliedert – das heißt nicht zu streng chronologisch – und gut zu lesen sowie mit allermeist differenzierten und abgewogenen Urteilen versehen. Was will man mehr!
Lahme selbst wollte vor allem dadurch über das etablierte Bild und speziell über Bitterlis Biographie hinauskommen, dass er Manns Homosexualität offen anspricht und nachweist, dass diese nicht ganz so unausgelebt blieb, wie es Mann suggerierte. Das ist nicht als Indiskretion, sondern als Anerkennung zu verstehen: Homosexuelle oder erotische Neigungen und Beziehungen ähnlich exakt darzustellen (mit Fotos im recht umfangreichen Bildteil), wie es bei Ehepartnern üblich ist, heißt, sie als ‚normal’ auszuweisen – jedenfalls aus heutiger Sicht, denn Lahme zeigt ebenso auf, dass die Diskriminierung Homosexueller einen wichtigen Faktor für die Selbstwahrnehmung Golo Manns als Außenseiter bildete. Anderes war gleichfalls geeignet, ein Außenseiterbewusstsein in ihm Raum greifen zu lassen, von der offenen Zurücksetzung gegenüber den Geschwistern durch den Vater und die Härte der Mutter über das Nachkriegs-Misstrauen gegen den Remigranten bis zu den Angriffen linker Mandarine oder zeitgemäßer wirkender Historiker (Horkheimer/Adorno anlässlich einer gescheiterten Berufung nach Frankfurt, später Wehlers ebenso böses wie unverständiges Wort vom „Goldrähmchenerzähler“) und die Befremdung, die seine Parteinahme für Strauß auslöste. Die Folgen reichten bis zu Depressionen, Tabletten- und Alkoholabhängigkeit.
Manns Außenseiterbewusstsein trotz aller Erfolge bildet sogar, jedenfalls mehr als alles andere, den roten Faden, mit dem Lahme seine Biographie zusammenhält. Golo Mann erscheint in diesem Buch durchaus auch als homo politicus und als Schriftsteller – weniger als Wissenschaftler –, vor allem aber lernt ihn der Leser als psychisch Belasteten kennen, der mit sich und seinen Mitmenschen niemals ganz im Reinen war. Damit lässt sich vieles überzeugend erklären und plausibel zusammenbinden. Doch birgt diese Perspektivenwahl auch die Gefahr einer einseitigen Subjektzentrierung. Dazu verführen schon die von Lahme ausführlich zitierten Tagebücher und Briefe. In ihnen stellt sich alles ‚äußere’ Geschehen sogleich in seinen Wirkungen auf Manns ‚Inneres’ dar, und Lahme tut wenig, um durch andere Perspektiven und Fragestellungen Gegengewichte zu schaffen. Golo Mann stand – das wird keineswegs übergangen – in Kontakt mit vielen Exilanten sowie zahlreichen wichtigen Intellektuellen und Politikern der Bundesrepublik, und zwar nicht bloß eines Lagers. Sie werden jeweils kurz vorgestellt, aber nicht in einen Zusammenhang gebracht, der über ihren Bezug zur Zentralfigur hinausreichte. Die Gelegenheit, mit dieser Biographie zugleich eine politisch-intellektuelle Geschichte der Zeit zwischen 1930 oder 1950 und 1990 zu schreiben, hat Lahme nicht ergriffen. Ihn interessiert das Persönliche, nicht das Symptomatische. Dass sich beides nicht ausschließen muss, zeigen Manns Biographien; so enthält der „Wallenstein“ im Grunde zugleich eine Geschichte und Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges. Demgegenüber fällt mit Blick auf Lahmes Biographie noch einmal auf, dass sie die Geschichtsschreibung des Porträtierten nicht als Herausforderung zur Klärung ihrer eigenen Maßstäbe nutzt.
Zugespitzt: Mit Manns Homosexualität bringt Lahme an die Öffentlichkeit, was der Protagonist selbst im Diskreten hielt (bis zur Revision des § 175 von 1969 gezwungenermaßen), während er das, wofür Golo Mann öffentlich stritt, letztlich aus dessen persönlichem Blickwinkel behandelt. Auch hier lässt sich nach dem Verhältnis von Persönlichem und Symptomatik fragen: Handelt es sich um eine ganz persönliche Schwerpunktsetzung des Historikers Lahme, oder darf man darin ein Symptom sehen für die Haltung unserer Gegenwart gegenüber einem Autor, den viele noch als Zeitgenossen erlebt haben? Darüber lassen sich an solcher Stelle natürlich nur Vermutungen anstellen. Was aber hieße es, wenn Lahmes Biographie ein Symptom wäre? Sie wiese auf eine Tendenz, die scharfen Konflikte der jüngsten Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, das heißt sie weder fortzuführen noch womöglich selbstkritisch aufzuarbeiten, und auch keine neue Position zu beziehen. Zum Streit zwischen Mann und Wehler beispielsweise enthält Lahme sich des Urteils, mit Blick auf Manns Eintreten für Strauß wiederholt er, gemildert, das schon seinerzeitige Kopfschütteln des Juste-milieu. Darüber hinaus wiese seine Biographie auf eine Tendenz, durch den dominanten Bezug auf (vordergründig) Persönliches, Individuelles oder Familiäres, in das man ‚niemandem hineinreden kann’, die politischen oder wissenschaftlichen Fragen hintanzustellen, die des öffentlichen Streites bedürfen. Wahrscheinlich ist diese Strategie besonders gut geeignet, sei sie bewusst oder unbewusst gewählt, um für die Biographie eines Autors, der zu Lebzeiten streitbar und umstritten war, ein großes Publikum zu gewinnen. Es werden dadurch aber auch reichlich (Selbst-)Erkenntnischancen ausgeschlagen. Nötig wäre dies nicht gewesen, denn dass der Geschichtsschreiber über die Gewinnung des Persönlichen oder Individuellen keineswegs das Typische oder Strukturelle verloren geben muss, lässt sich gerade von Golo Mann lernen.
Zeitgleich ist, ebenfalls von Tilmann Lahme herausgegeben, ein Band mit „Erzählungen, Familienporträts, Essays“ von Golo Mann erschienen. Gut ein Drittel der Texte war bisher unveröffentlicht, darunter Radioreden aus der letzten Kriegsphase sowie vier sehr kurze Erzählungen, die, etwas überraschend, nicht aus Manns Jugendzeit, sondern aus den 1960er-Jahren stammen. Anderes wurde bereits mehrfach gedruckt. Irritierend ist Lahmes nicht weiter erläuterte Angabe, er habe die literarischen Skizzen „sanft redigiert und von offensichtlichen Fehlern bereinigt“ (S. 12) – je nachdem, was damit gemeint ist, ein philologisch problematisches bis unhaltbares Verfahren. Die politischen Essays unter anderem über Kennedy, Brandt und de Gaulle lassen den heute konsensfähigen Golo Mann erneut zu Wort kommen, während die Porträts an das nach wie vor kräftige Publikumsinteresse für die Familie Mann appellieren. In einer gewissen Spannung steht der Nach- bzw. teilweise auch Neudruck der letztgenannten Texte freilich zu Lahmes richtigem Hinweis, Golo Mann habe anhaltend darunter gelitten, meist mehr als Sohn denn als er selbst wahrgenommen zu werden.
So bequem es die Zusammenstellung dieses Bandes dem Leser macht: Wer noch nicht viel von Golo Mann kennt, sollte seine Lektüre eher mit den großen Werken oder der Essaysammlung „Zeiten und Figuren“ beginnen. Lahmes Biographie kann dann sehr gut bei der lebensgeschichtlichen Einordnung helfen. Obschon sie noch viel Raum lässt für weitere, schärfer fragende Forschungen, ist sie zweifellos die beste Golo-Mann-Studie, die bislang vorliegt: Als Quellenerschließung wie als Darstellung eine große Leistung, trifft sie den rechten Ton, um heutige Leser für ihren unheldischen Helden zu interessieren.
Anmerkungen:
1 Golo Mann, Briefe 1932–1992. Hrsg. von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi, Göttingen 2006 (rezensiert von Holger Stunz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-081>).
2 Urs Bitterli, Golo Mann – Instanz und Außenseiter. Eine Biographie, Hamburg 2004 (rezensiert von Holger Stunz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-079>).