Die 31 Essays und ein kurzes Vorwort umfassende Sonderausgabe des Potsdamer Almanachs ZeitRäume mit dem Titel „Public Historians. Zeithistorische Interventionen nach 1945“ ist seinem Begründer Martin Sabrow gewidmet, der von 2004 bis 2021 das Leibniz-Institut für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) leitete. Der über 450 Seiten starke Band ist somit drei in einem: eine Festschrift für den scheidenden Direktor, ein Überblick zu den verschiedenen Facetten der Public History und ein Who is Who am ZZF. Implizit oder explizit werden in den meisten Essays die verschiedenen Formate und Funktionen angesprochen, mit denen Martin Sabrow unermüdlich in die Öffentlichkeit gewirkt hat: als Autor, Berater, Interviewpartner, Kommentator, Kurator, Organisator, Redner und nicht zuletzt als Mitbegründer des deutschlandweit ersten MA-Studiengangs Public History, der 2008/09 an der Freien Universität Berlin gestartet worden war und in den darauffolgenden Jahren viele andere deutsche Universitäten inspirierte.
Die Herausgeber:innen Frank Bösch, Stefanie Eisenhuth, Hanno Hochmuth und Irmgard Zündorf gliedern das Buch in drei Teile: „Öffentliche Geschichte im Wandel“, „Akteure“ und „Debatten“. Der erste Teil besteht aus einer Reihe von Überblicksbeiträgen, vertiefenden Fallstudien und kritischen Interventionen. Frank Bösch und Jürgen Kocka liefern Überblicksdarstellungen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit in (West-)Deutschland, Konrad H. Jarausch tut dies am Beispiel der USA. Christoph Kleßmann, Dominik Rigoll und André Steiner analysieren speziellere Themen oder Bereiche der öffentlichen Präsenz von Geschichte. Thomas Lindenberger befasst sich kritisch mit der Aufarbeitung von Diktaturen. Achim Saupe analysiert das Zeitschichten-Paradigma Reinhart Kosellecks. Andreas Ludwig beleuchtet die Praxis des zufälligen Sammelns von Artefakten. Anja Tack und Kristin Meißner setzen sich am Beispiel von Berlin und Potsdam mit der Rolle von Geschichte in urbanen Räumen auseinander.
Die akteurszentrierte Perspektive im zweiten Teil suggeriert, dass Public History auch nach 1945 eine Männerdomäne war, denn nur einer von zwölf Texten ist einer Public Historian gewidmet: Christine Bartlitz analysiert in ihrem Beitrag das 2007 von der Historikerin Eva Schöck-Quinteros initiierte Theaterprojekt „Aus den Akten auf die Bühne“. Alle anderen Essays sind Porträts öffentlichkeitswirksamer Männer: Karl Dietrich und Theodor Bracher (von Jutta Braun), Gunter Demnig (von Thomas Schaarschmidt), Isaac Deutscher (von Mario Keßler), François Furet (von Jan Claas Behrends), Günter Gaus (von Peter Ulrich Weiß), Raul Hilberg (von René Schlott), Helmut Kohl (von Rüdiger Graf), Heinz G. Konsalik und Guido Knopp (von Christoph Classen), Reinhard Rürup (von Rüdiger Hachtmann), Ernst von Salomon (von Tilmann Siebeneichner) und Timothy Snyder (von Jens Gieseke). Waren Frauen nach 1945 wirklich nur Konsumentinnen von Public History?
Der dritte Teil bietet Einblicke in ausgewählte Arenen, in denen über die Beziehungen zwischen Geschichte und Öffentlichkeit debattiert wurde. Christopher Neumaier zeigt, wie konservative Public Historians das Bild der Familie in der frühen Bundesrepublik prägten. Hanno Hochmuth analysiert die inzwischen legendäre Fernsehdiskussion aus dem Jahr 1984 zwischen Jürgen Kocka, Ernst Nolte und Thomas Lindenberger über die damals immer noch neue und zum Teil heftig angegriffene Alltagsgeschichte. Ralf Ahrens fragt nach den Chancen und Risiken einer Public Business History in den verschiedenen Ausführungen, die sich seit den 1980er-Jahren herauskristallisierten. Jürgen Danyel bietet eine autosoziobiografisch anmutende Wiederbegegnung mit einem eigenen Zeitschriftenaufsatz. Stefanie Eisenhuth analysiert den Wandel der öffentlichen Erinnerung an das Jahr 1989. Irmgard Zündorf rekapituliert die Arbeit der Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Dominik Juhnke beschäftigt sich mit der Rekonstruktion des Glockenspiels in Potsdam. Winfried Süß fasst den öffentlichen Streit um das Hohenzollernvermögen zusammen.
So bietet das elegant gestaltete Buch einen bunten Strauß anregender Beiträge. Besonders lesenswert sind aus meiner Sicht die Essays von Jürgen Danyel (S. 373–383), Jens Gieseke (S. 318-333) und Thomas Lindenberger (S. 63–75).
Jürgen Danyel liest einen Aufsatz wieder, den er 1995 für die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ als Beitrag zur damals intensiven Debatte, wer die Geschichte der DDR schreiben dürfe, beigesteuert hat.1 Indem er, Mitglied „jener illustren Truppe an positiv evaluierten ostdeutschen Historiker:innen, die 1992 am neugegründeten, von Jürgen Kocka geleiteten Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam“ (S. 373) gearbeitet haben, über seine eigene Beteiligung an der Debatte und ihren breiteren Kontext, das Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen Historiker:innen insgesamt und den sich wandelnden Stellenwert seiner eigenen Herkunft nachdenkt, gibt er wichtige Denkanstöße für die Historisierung des ZZF.
Jens Gieseke unterzieht Timothy Snyders crossmediales und global wirksames Projekt On Tyranny (2016) einer kurzweiligen und kritischen Analyse: Snyder nehme „eine solitäre Position als public historian“ (S. 318) ein, indem er eine neue Form der öffentlichen Präsenz von Geschichte als unmittelbare Handlungsanweisung für mündige Bürger angesichts des Trumpismus etabliere, um die Wiederholung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts abzuwehren. Gieseke rekapituliert die Entstehungsgeschichte von Snyders „20 Geboten“, analysiert ihren Inhalt und weist auf die wichtigsten Merkmale ihrer intermedialen Verbreitung durch Snyder und seine Anhänger:innen hin – insbesondere, aber nicht nur auf Twitter. Angesichts des „neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit“ werden die von Gieseke aufgeworfenen Fragen die Geistes- und Sozialwissenschaften in den kommenden Jahren mit ziemlicher Sicherheit verstärkt beschäftigen.2
Die während der Covid-19-Pandemie in der Öffentlichkeit grassierenden Diktaturvergleiche veranlassen Thomas Lindenberger zu einer kritischen Reflexion über die Grenzen der deutschen Diktaturaufarbeitung. Die Routine und Serialität der politisch verwalteten Geschichtskultur, so Lindenberger, führten seit den Nullerjahren in eine Sackgasse, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetze: „Ritualisierung und Oberflächlichkeit des Dargebotenen drängten vor allem in den massenmedial verbreiteten Doku- und Reenactment-Produktionen die wissenschaftlich fundierte oder auch nur gut beratene Informationsvermittlung in den Hintergrund.” (S. 66) Zugleich entwickelte sich die historische Aufklärung über die NS- und SED-Diktatur „zu einem Großversuch der volkspädagogischen Unterweisung in Sachen Demokratie als fragloser Alternative zur Diktatur“ (S. 67) und „auf der Ebene der nationalen Repräsentation, der Jubiläumsfeiern mit ihren Medienhypes und Subventionierungszwängen, dominierte gutgemeinte Diktaturdämonisierung als Unterpfand der erreichten Demokratiefähigkeit“ (S. 71), während die Demokratiegeschichte in der Öffentlichkeit kaum als Herrschaftsform und somit Konfliktgeschehen verhandelt werde. Insgesamt lässt sich die Intervention von Lindenberger als ein Aufruf zur Aufarbeitung der Aufarbeitung lesen.
Die Sonderausgabe des Potsdamer Almanachs ZeitRäume bietet insgesamt synthetische Einblicke in die verschiedenen außeruniversitären Resonanzräume, in denen Historiker:innen vor allem, aber nicht nur in (West-)Deutschland agierten, beleuchtet ausgewählte nichtakademische Beiträge zur Ausgestaltung öffentlicher Geschichte und zeigt, wie weit das Feld der Public History tatsächlich ist.
Anmerkungen:
1 Jürgen Danyel, Die Historiker und die Moral. Anmerkungen zur Debatte um die Autorenrechte an der DDR-Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft (1995), S. 290–303.
2 Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022.