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Titel
Vergangenheit als Zukunft?. Geschichtskultur und Strukturwandel im Ruhrgebiet


Autor(en)
Wagner, Helen
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur
Erschienen
Köln 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
590 S., 34 meist farb. Abb.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Moitra, Montanhistorisches Dokumentationszentrum, Deutsches Bergbau-Museum Bochum

„So wahr es ist, daß ein jegliches in der Natur als schön kann aufgefaßt werden, so wahr das Urteil, die Landschaft der Toscana sei schöner als die Umgebung von Gelsenkirchen“, so Theodor W. Adorno in seiner posthum erschienenen „Ästhetischen Theorie“.1 Adorno wusste, wovon er sprach, war er doch in den 1950er-Jahren intensiv an industriesoziologischen Studien im Ruhrgebiet beteiligt.2 Seitdem scheinen sich allerdings die Auffassungen über Gelsenkirchen und die weitere Umgebung grundlegend verändert zu haben. „Mach mal Ruhrlaub!“, springt es einer/m auf einer Marketing-Website entgegen, die den Tourismus im Ruhrgebiet bewirbt.3 Und 2022 waren es immerhin 3,6 Millionen Tourist:innen, die unter dem Rubrum von „Industriekultur“ und „Industrienatur“ die Relikte von Kohle und Stahl zwischen Hamm und Duisburg in Gestalt von Industriedenkmälern, musealisierten Bergwerken und Hochöfen sowie renaturierten Halden und Wasserwegen aufsuchten.4 Die sich hier abzeichnende Umdeutung der Industrieregion von einer in die Krise geratenen Montan- zur vergangenheitsgesättigten Kultur-, Wissens- und Tourismuslandschaft steht im Mittelpunkt von Helen Wagners an der Universität Duisburg-Essen eingereichten und 2022 publizierten Dissertation, in der sich auch das erwähnte Adorno-Zitat findet (S. 274). Die touristische Inwertsetzung von Industriekultur ist aber nur ein Aspekt in Wagners weitgefächertem Werk. Vielmehr untersucht sie in einem breiten Zugriff die „Entwicklung der geschichtskulturellen Landschaft“ des Ruhrgebiets. Diese versteht sie „nicht als ‚kulturelle Seite‘ der Bewältigung des Strukturwandels“, sondern „als Feld von Zukunftshandeln zum Management dieses Wandels“ (S. 69f.). Es geht also darum nachzuzeichnen, wie die industrielle Vergangenheit des Ruhrgebiets in einem oftmals als Strukturkrise erlebten Zeitraum von mehr als 40 Jahren „entdeckt“, wissenschaftlich, kulturell und politisch mit Bedeutung aufgeladen und teils gezielt funktionalisiert wurde, nicht allein um regionale Identität zu schaffen, sondern um über die Rahmung der Region durch spezifische historische Zuschreibungen Entwürfe für die Zukunft nach der Montanindustrie mitzugestalten.

Wagner begibt sich damit auf ein Forschungsfeld, das in mancherlei Hinsicht bereits gut bearbeitet ist. Doch gelingt ihr nicht nur eine hervorragende Synthese der geschichtskulturellen Einbettung des Strukturwandels und der diesbezüglichen historiographischen Debatten. Vielmehr werden diese selbst in ihrem Funktionszusammenhang als Argumentationsstränge einer Gesellschaft im Umbruch historisiert. Entsprechend siedelt Wagner ihre Arbeit disziplinär im Bereich einer Public History an, die Geschichtskultur mit Bourdieu als soziales Feld untersucht und sich „gleichzeitig als Akteurin innerhalb dieses Feldes“ versteht (S. 62). Vor dem Hintergrund der Debatten um Strukturbrüche „nach dem Boom“ schaut Wagner darauf, wie das Sprechen über Geschichte im Ruhrgebiet Teil gesellschaftspolitischer Debatten um Zukunftsentwürfe und -planungen wird. Das Spektrum der Akteur:innen, die Wagner untersucht, reicht dabei von (häufig, aber nicht nur sozialdemokratischen) Lokal- und Landespolitikern, Raumplanern und Ökonomen, Historikern, Denkmalpflegerinnen und Zukunftsforschern über Mitglieder von Bürgerinitiativen und Geschichtswerkstätten bis hin zu Medienschaffenden, Musikern, Ausstellungsmachern und Protestierenden gegen Betriebsschließungen. Die Heterogenität dieser Gruppen und die unterschiedlichen Kontexte und Motivationen führten zwar zu Deutungskonkurrenzen und Spannungen, die jedoch seit Ende der 1980er-Jahre stark institutionell überformt und kanalisiert wurden.

Dieser Entwicklung nähert sich Wagner auf zwei Ebenen. Zunächst widmet sie gut ein Drittel ihrer Studie der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park – einem auf zehn Jahre angelegten Strukturprojekt im nördlichen Ruhrgebiet, das sie gleichsam als Scharnierstelle in der geschichtskulturellen Entwicklung der Region betrachtet. In einem zweiten Hauptteil weitet sich dann der zeitliche Rahmen von der Unterdenkmalschutzstellung des Maschinenhauses der Dortmunder Zeche Zollern 1969 – als erstes anerkanntes Industriedenkmal in der Bundesrepublik – bis zum Jahr 2010, als Essen mit dem UNESCO-Welterbe Zeche Zollverein für das gesamte Ruhrgebiet als europäische Kulturhauptstadt fungierte. Das sind allerdings nur die zeitlichen Eckpunkte dieses zweiten Teils. Anstelle einer linearen Erzählung entscheidet sich Wagner vielmehr dazu, Formen historischer Wissens- und Bedeutungsproduktion quer durch die gesellschaftlichen Akteursgruppen und chronologischen Phasen in Beziehung zueinander zu bringen.

Durchaus mit einem Anspruch auf internationale Strahlkraft sollte die IBA Emscher Park als „Werkstatt für die Zukunft alter Industriegebiete“ dienen, wie es im Planungsmemorandum von 1988 hieß (S. 86). Sie schloss Renaturierungsmaßnahmen sowie die Sanierung und Umnutzung nachindustrieller Brachflächen ebenso ein wie die Designation von „Industriedenkmälern als Kulturträger“ und die Aktivierung historischer Selbstvergewisserung in Form von Ausstellungen und Diskussionsangeboten für die Bevölkerung der vom Strukturwandel betroffenen Gemeinden. Mit 120 Einzelprojekten und einem Budget von über zwei Milliarden DM glich das Vorhaben einem „Aufbau West im Pott“, wie der „Spiegel“ 1999 resümierte (S. 182). Vor allem wurde aber in der Balance aus Gestalten und Bewahren, politischer Steuerung und dem Bemühen um partizipative Elemente ein sozialräumlicher Zusammenhang konstruiert und als übergreifendes, insbesondere historisch begründetes Identitätsangebot für die Region bekräftigt. Und so steht hier nicht die Geschichte der IBA selbst im Vordergrund, sondern die „Entwicklung des geschichtskulturellen Felds in der Zeit der Bauausstellung“, das immer weiter platzgriff, sei es im Erhalt und der Feststellung der Denkmalwürdigkeit lokaler Überreste der alten Industrien, sei es in der Initiierung von Leuchtturmprojekten wie der Ausstellung „Feuer und Flamme“ im Gasometer Oberhausen – dessen Rettung und Unterschutzstellung noch en passant miterzählt wird – oder der Umwidmung der Zeche Zollverein zum weithin sichtbaren Museumsstandort und UNESCO-Welterbe. Diese und andere Initiativen waren keine Selbstläufer, sondern wurden von lebhaften, teils kontroversen Diskussionen um Sinn und Zielgerichtetheit von Erinnerungsarbeit und Geschichtskultur begleitet, was sich auch mit der Frage verband, wessen Geschichte wie repräsentiert wurde. Zwar hatte etwa das 1992 gegründete – und nach wie vor aktive – „Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher“ die „Vernetzung von Laien und professionellen Akteur⁎innen der Geschichtskultur“ zum Ziel, aber dennoch äußerten sich auch Befürchtungen, dies seien lediglich Feigenblätter im „demokratisch postulierten Planungsprozess der IBA“ (S. 154ff.).

Neben der IBA als Zehnjahresprojekt nimmt Wagner auf weiteren gut 200 Seiten die „Produktion von Geschichte als Bedeutung im geschichtskulturellen Feld“ in den Blick und konzentriert sich dabei auf fünf von ihr ausgemachte Praxisformen: „Zeigen“, „Normieren“, „Imaginieren“, „Inszenieren“ und „Wissen produzieren“. Dabei fasst Wagner jeweils unterschiedliche Beispiele historischer Bedeutungsproduktion zusammen. Gerade in der Heterogenität der hier zueinander in Beziehung gebrachten Akteursgruppen und Medien veranschaulicht die Arbeit, in wie vielen gesellschaftlichen Teilbereichen Bilder und Vorstellungen von Geschichte zu Referenzpunkten werden. Im Kapitel „Inszenieren“ etwa werden die Eröffnungsfeierlichkeiten des Kulturhauptstadtjahres 2010 neben die Protestaktionen von Bergleuten 1997 für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und die Auseinandersetzungen um das von Schließung bedrohte Thyssen-Werk in Duisburg-Rheinhausen zehn Jahre zuvor gestellt. Bilder von Arbeit, teils ruhrgebietsspezifisch zugespitzt auf den Begriff „Maloche“ als traditions- und identitätsbildender Selbstbezug der Region, bilden hier den gemeinsamen Nenner, allerdings 2010 bereits inszeniert in historischer Perspektive, 1997 und 1987 dagegen als Kern einer in ihrer Existenz bedrohten Region, die im Kampf um den Erhalt von Arbeit und in der wiederholt bekräftigten „regionalen Solidarität“ (S. 425) vermeintlich zu sich selbst findet. Die Analyse dieser Inszenierungen von unten (Protest) wie von offizieller Seite (Kulturhauptstadt) wird schließlich durch die Inszenierung der Region in Form von historischen Ausstellungen abgerundet, wobei hier der Bogen unter anderem von der Selbsthistorisierung des Duisburger Arbeitskampfes über das „Volks-Museum“ Eisenheim in Oberhausen bis hin zur Neueröffnung des vormaligen Essener Ruhrlandmuseums als Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein geschlagen wird, gewissermaßen erneut als Spannung zwischen Grassroots-Perspektive und Großtanker. Unter dem Stichwort „Imaginieren“ bringt Wagner teils scheinbar disparate, teils kongruente Praktiken zueinander: von Bildern des Ruhrgebiets in Spielfilmen und Fernsehserien (unter anderem „Tatort“, „Rote Erde“ oder „Die Abfahrer“ von Adolf Winkelmann) über mediale Kunstfiguren (Kumpel Anton, Tegtmeier, Herbert Knebel) bis hin zur Praxisform „Veröffentlichung eines Musikstücks“, hier vor allem in Form von Hip-Hop mit Ruhr-Bezug. Die „Konstruktion einer Raumvorstellung“ als Praxisform des Imaginierens, bei der Wagner die Semantik der Begriffe „Metropole Ruhr“, „Ruhrstadt“ sowie „Revier“ und „Ruhrpott“ verfolgt, ist schließlich anschlussfähig an die im Kapitel „Zeigen“ ausführlich analysierten Image- und Marketingkampagnen. Im letzten Kapitel namens „Wissen produzieren“ stehen schließlich solche Praktiken im Fokus, die am ehesten dem Feld der Geschichtswissenschaft zugerechnet werden können: die Publikation (populär-)wissenschaftlicher Texte, das Führen von Oral-History-Interviews und das Anlegen von Archiven. Die bereits zuvor mit Blick vor allem auf die IBA hervorgehobene Stellung der Historikerschaft als Experten zur Deutung und zum Verständnis des Wandels wird hier nochmals besonders unterstrichen. Ausgehend von den geschichtstheoretischen Debatten im Vorlauf zur Gründung des Ruhr Museums, bei denen (ein ums andere Mal) über Industriekultur als Kompensation (Hermann Lübbe), Nostalgie und Zukunftsoffenheit diskutiert wurde, schlägt Wagner auch hier einen Bogen von akademischen Handbüchern und populärwissenschaftlichen Quelleneditionen bis hin zu den postulierten Idealen einer Geschichte von unten und deren praktischer Umsetzung in der Arbeit von Geschichtswerkstätten. Mit dem Aufbau des „Archivs für den Klang des Ruhrgebiets“ seit den frühen 1980er-Jahren, das sich den vergangenen Industrie- und Alltagsklängen der Region widmet und heute in die Sammlung des Ruhr Museums integriert ist, endet Wagner schließlich mit einem „Beispiel für die Verschränkung von bottom-up und top-down betriebener Sammlungs- und Archivierungspraxis“ (S. 487).

Die Struktur der Arbeit, die abgesehen vom Kapitel über die IBA auf eine chronologische Erzählung verzichtet, erschien dem Rezensenten zunächst gewöhnungsbedürftig. Viele der als Praxisformen historischer Bedeutungsproduktion untersuchten Momente – von Geschichtswerkstätten und Oral History bis zu Denkmalpflegediskussionen und Museumsgründungen – hätten auch im zeitlichen Ablauf gut dargestellt werden können, mit der Schwerpunktanalyse der IBA Emscher Park als einem von mehreren integrierten Fokuspunkten. Tatsächlich erlaubt aber Wagners alternatives analytisches Vorgehen, das geschichtskulturelle Feld des Ruhrgebiets im Strukturwandel viel breiter gefächert in den Blick zu nehmen und das Akteursfeld bedeutend zu erweitern. Auf diese Weise können Grassroots-Perspektiven, künstlerische Produktionen, Marketingkampagnen, Theoriedebatten wie politische Diskurse – und häufig die Verschränkung mehrerer dieser Ebenen – in einem gemeinsamen Rahmen betrachtet werden. Neben der greifbar werdenden Verortung geschichtskultureller Vielfalt gelingt der Arbeit aber vor allem die kritische Historisierung eines heute zuweilen allzu homogen erscheinenden Bildes von Industriekultur, das, wie die Autorin mit Stefan Berger resümiert, allenfalls einer „depolitisierten Selbstbestätigung“ dient (S. 505). Wagner kann dagegen zeigen, wie stark und auf wie vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen die geschichtskulturelle Praxis im Ruhrgebiet phasenweise politisch aufgeladen war und kontrovers diskutiert wurde. Dabei bieten zahlreiche ihrer Fallstudien wertvolle Vignetten und Nahsichten, die sie stets in einen größeren kulturhistorischen Kontext einzubetten vermag. Zwar steht insgesamt die Geschichtskultur des Ruhrgebiets im Mittelpunkt, doch weist Wagners Blick immer auch darüber hinaus und leistet einen wichtigen Beitrag sowohl zum Verständnis des Geschichts- und Museumsbooms der 1980er- und 1990er-Jahre als auch zur kritischen Aufarbeitung der Geschichtskultur rund um Arbeit und Industrie.

Anmerkungen:
1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 112.
2 Vgl. Johannes Platz, Die Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Demokratie in der frühen Bundesrepublik 1950–1960, Diss. Universität Trier 2008, online unter: https://ubt.opus.hbz-nrw.de/opus45-ubtr/frontdoor/deliver/index/docId/557/file/Die_Praxis_der_kritischen_Theorie.pdf (31.10.2023).
3 Ruhr Tourismus GmbH (Hrsg.), in: Mein Ruhrgebiet, https://www.ruhr-tourismus.de/ (31.10.2023).
4 Vgl. Ruhr Tourismus GmbH (Hrsg.), in: Metropole Ruhr. Touristische Jahresbilanz 2022, 17.02.2023, https://presse.ruhr-tourismus.de/pressreleases/metropole-ruhr-touristische-jahresbilanz-2022-3232590 (31.10.2023).

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