R. Lowe u.a.: The Official History of the British Civil Service

: The Official History of the British Civil Service. Reforming the Civil Service, Volume 1: The Fulton Years, 1966–81. London 2011 : Routledge, ISBN 9780367491697 568 S. £ 39.99

: The Official History of the British Civil Service. Reforming the Civil Service, Volume 2: The Thatcher and Major Revolutions, 1982–97. London 2020 : Routledge, ISBN 9781138678224 411 S. € 157,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolai Wehrs, Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Amtliche Geschichtsschreibung hat in Deutschland trotz der jüngsten Welle der Auftragsforschung im Zuge der späten NS-Aufarbeitung einen zweifelhaften Ruf. In Großbritannien dagegen ist das Konzept der „Official History“, bei dem unabhängige Wissenschaftler im Auftrag von Ministerien detaillierte historische Darstellungen verfassen und dazu oft noch vor Ablauf der gesetzlichen Sperrfrist exklusiven Zugang zu offiziellen Dokumenten erhalten, ein etabliertes und wissenschaftlich anerkanntes Genre der Historiographie. Zeithistoriker kennen aus britischen Archiven den typischen Aktenvermerk „Material used by official Historian. DO NOT DESTROY“. Die nun in zwei Bänden vorliegende „Official History of the British Civil Service“ war von der britischen Regierung bereits 2002 bei dem einschlägig ausgewiesenen Verwaltungshistoriker Rodney Lowe von der University of Bristol in Auftrag gegeben worden.1 Der erste Band erschien 2011. Danach verzögerte sich die Arbeit aufgrund der schweren Erkrankung Lowes. Hugh Pemberton, ebenfalls von der University of Bristol, übernahm das Projekt und schloss den zweiten Band bis 2015 ab. Eine weitere Verzögerung zeigt die grundsätzliche Problematik des Genres auf: Das fertige Werk musste zur amtlichen Freigabe beim Cabinet Office eingereicht werden und blieb dort drei Jahre liegen, weil das zuständige Fachreferat gerade aufgelöst worden war. Lowe starb 2018, noch vor dem Erscheinen des zweiten Bandes.

Die Idee, statt eines einzelnen Ministeriums die Staatsverwaltung als Ganzes zum Gegenstand einer institutionengeschichtlichen Untersuchung zu machen, mag auf den ersten Blick überraschen. Im britischen Fall ist sie aber sinnig, denn stärker als andernorts zeichnete sich der Civil Service im Vereinigten Königreich durch Elemente institutioneller Einheit und eine originäre korporative Identität zumindest der höheren Ministerialbürokratie aus. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung wurden und werden Whitehalls Mandarine als ein eigenständiger politischer Akteur in Konkurrenz zur politischen Klasse von Westminister betrachtet, und ihnen wird traditionell ein erheblicher Einfluss auf das Handeln der britischen Regierungen zugeschrieben. Auf der Spitze seines Ruhms in der Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichneten akademische Beobachter den britischen Civil Service ob seiner administrativen Effizienz, seiner demokratischen Integrität und seiner parteipolitischen Neutralität als „rightly the envy of the world“.2 Lowes und Pembrokes Studie fokussiert allerdings auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, und damit auf die Zeit nach der Blütezeit, als der Mythos zu bröckeln begann und immer neue und größere Reformen konzipiert wurden, um den nunmehr als antiquiert betrachteten bürokratischen Apparat in die flexibleren Strukturen eines modernen Managements zu überführen.

Mit der thematischen Eingrenzung auf die Reform des Civil Service geht zugleich die methodische Entscheidung für ein primär politik- und verwaltungsgeschichtliches Narrativ einher. Sozialgeschichtliche Informationen etwa zur Rekrutierungsbasis der Ministerialbürokratie werden nur ganz am Rande gegeben. Kulturhistorische Erörterungen etwa zum Wandel der Weltbilder der Staatsdienerschaft fehlen ganz. Die Rolle von Frauen im Civil Service wird in beiden Bänden auf zusammen nur 18 Seiten abgehandelt – in Band 2 gemeinsam mit ethnischen Minoritäten und „those with disabilities“ unter der Überschrift „Other Issues“, S. 297ff. Schon in der Einleitung zum ersten Band verkündet Lowe zudem, „that references should be made to individuals only when developments would otherwise be inexplicable“ (S. 4). Dem figuren- und anekdotenreichen Stil von Peter Hennessys Standardwerk „Whitehall“ soll bewusst nicht nachgeeifert werden.3

Trotz des angekündigten Fokus auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts beginnt Lowe den ersten Band mit einem ausführlichen und inhaltlich brillanten Rückblick auf die Geschichte des Civil Service seit dem 19. Jahrhundert. Die häufig anzutreffende Charakterisierung des Northcote-Trevelyan Reports von 1854 als Gründungsurkunde einer meritokratisch organisierten, professionalisierten Staatsverwaltung wird einmal mehr als Mythos entlarvt.4 Das „golden age“ des Civil Service datiert Lowe auf die Jahre 1916 bis 1956, beschreibt es bei aller Würdigung aber zugleich als eine Geschichte verpasster Gelegenheiten. Vor allem nach 1945 sei es versäumt worden, den bürokratischen Apparat umfassend auf die Erfordernisse eines modernen Interventionsstaats einzustellen. Bereits auf die späten 1950er-Jahre datiert Lowe allerdings die Entstehung eines „reform momentum“ (S. 81), das zudem ganz wesentlich von Initiativen aus der Ministerialbürokratie selbst getragen worden sei. Vernichtend urteilt er dagegen über die extern eingesetzte Fulton-Kommission, deren Report von 1968 üblicherweise als Startschuss des Modernisierungsprozesses im Civil Service gilt. Die Fulton-Kommission sei ganz auf das Klischeebild der höheren Ministerialbürokratie als einer sozial exklusiven Kaste von Gentlemen-Amateuren fixiert gewesen und habe den bereits stattfindenden Wandel gar nicht zur Kenntnis genommen. Dabei habe die Kommission selbst amateurhaft agiert und etwa die zukunftsweisenden Befunde ihrer eigenen „Management Consultancy Group“ schlicht ignoriert. Tatsächlich war der Fulton Report das letzte Reformprogramm für den Civil Service, das mit fabianistischem Impetus ganz auf die weitere Expansion des Staatssektors setzte. Es bleibt dies nicht die einzige Stelle, an der sich Lowe zum Verteidiger der oft so harsch kritisierten Ministerialen aufschwingt. Auch die Schuld für den Reformstau in den in Großbritannien besonders krisenhaft erlebten 1970er-Jahren, als der Civil Service in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend zum Menetekel des vermeintlichen „british decline“ wurde, sieht er im Zweifelsfall eher beim Wankelmut jener Politiker, die sich wie Labour-Premierminister Harold Wilson zwar gerne als Reformer inszenierten, sich aber nicht um die Substanz der Verwaltungsreformen scherten. Die „Official History“ wird an diesen Stellen quasi zur „officials‘ history“, die vor allem die dominierende Sichtweise innerhalb der Ministerialbürokratie selbst reproduziert.

Den entscheidenden Wendepunkt bringt in Lowes Darstellung ganz eindeutig das Jahr 1979 mit dem Regierungsantritt von Margaret Thatcher (weshalb die Unterteilung der Bände entlang des Jahres 1981 trotz der in diesem Jahr erfolgten Auflösung des Civil Service Departments nicht recht einleuchtet). Wie Lowe überzeugend herausarbeitet, konnten die unter der Thatcher-Regierung mit maßgeblicher Hilfe von Beratern aus der Privatwirtschaft entwickelten Reformimpulse vor allem deshalb so nachhaltig wirken, weil die Premierministerin im Unterschied zu ihren Vorgängern bei dem Thema am Ball blieb und den Vordenkern der Reform in der ihr direkt zugeordneten „Efficiency Unit“ ausreichend politische Rückendeckung gab. Nachhaltige Veränderung brachte insbesondere der „Next Steps“-Report von 1988, der die Ausgliederung eines Großteils der rein exekutiven Aufgaben der Staatsverwaltung in semi-autonome „Executive Agencies“ vorsah und der in den Folgejahren mit atemberaubender Konsequenz implementiert wurde. Zum Ende des Untersuchungszeitraums 1997 arbeiteten bereits 76,6 Prozent aller Beschäftigen des Civil Service in Executive Agencies. Deutlich wird freilich auch, dass die Reform des Civil Service von Thatcher vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Kostenreduktion und daher einseitig als Bürokratieabbau betrieben wurde. Zum eigentlichen Helden des zweiten Bandes der Studie avanciert daher der oft übersehene Thatcher-Nachfolger John Major. Erst dieser habe mit der „Citizen Charter“ von 1991 die Zielrichtung der Reformpolitik konsequent auf die zu steigernde Qualität der Leistungen der Staatsverwaltung ausgerichtet und mit der Initiative „Competing for Quality“ im selben Jahr den Wettbewerbsgedanken in die Kultur des bürokratischen Apparats eingeführt. Hugh Pemberton erzählt das in den von ihm verfassten Kapiteln des zweiten Bandes primär als Erfolgsgeschichte. Als eines der „poster children“ des „new public management“ (S. 362) habe der britische Civil Service in den 1990er-Jahren noch einmal als globales Vorbild gewirkt. Pemberton räumt aber ein, dass das gehäufte Outsourcing von immer mehr staatlichen Dienstleistungen an private Anbieter eher ideologisch motiviert als sachlich begründet war.

Vergleichsweise ungeschoren kam in der Revolution der Thatcher-Major-Jahre das Senior Management des Civil Service davon, das sich nach der Ausgliederung der exekutiven Aufgaben eigentlich wieder verstärkt der politischen Beratung der Minister widmen sollte. Wie Pemberton aber aufzeigt, sorgte sich gerade die Spitze der Ministerialbürokratie angesichts des Veränderungstempos und der zunehmenden Balkanisierung des Civil Service ab Mitte der 1990er-Jahre zunehmend um die Einheit des Dienstes und seinen unverzichtbaren Kern. Um verstärkt Manager aus der Privatwirtschaft für die Leitung von Executive Agencies zu gewinnen, hatte die Major-Regierung erstmals befristete Beschäftigungen sowie Elemente von „performance-related pay“ auch im Senior Management des Civil Service ermöglicht. Damit wurden Sicherheiten und Privilegien infrage gestellt, die traditionell die Attraktivität der Ministeriallaufbahn ausgemacht hatten, während die zur selben Zeit explodierenden Verdienstmöglichkeiten für Spitzenmanager auf dem freien Markt auch mit solchen Mitteln nicht einzuholen waren. Der seit Northcote-Trevelyan 1854 formulierte Anspruch, für den Staatsdienst nur „the most promising young men of the day“5 zu rekrutieren, erschien so immer realitätsferner.

Nur am Rande spielt in der Erzählung von Lowe und Pemberton der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der parteipolitischen „Special Adviser“ eine Rolle, die ab den 1970er-Jahren in Whitehall Einzug hielten und, frei von der Neutralitätsverpflichtung des Civil Service, mit der politischen Beratung der Minister bald die letzte originäre Aufgabe der höheren Ministerialbürokratie faktisch für sich monopolisieren sollten. Allerdings erlebten die Special Adviser ihren großen Durchbruch erst ab 1997 unter „New Labour“ – und damit nach dem Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie.6 Unentschieden zeigen sich Lowe und Pemberton in der Frage, inwiefern der schon zu Thatchers Zeiten erhobene Vorwurf einer indirekten Politisierung des Civil Service zutraf. So mancher leitende Ministerialbeamte mag angesichts der geforderten „Can do“-Mentalität wohl zögerlich geworden sein, seinen Ministern auch unangenehme Wahrheiten ins Gesicht zu sagen. Überhaupt werden mit fortschreitender Erzählung immer stärker die Grenzen des verwaltungsgeschichtlichen Narrativs deutlich. Dass der Ansehensverlust des Civil Service seit den 1970er-Jahren auch auf anhaltende Schmähungen durch Politik und Medien (am nachhaltigsten in der populären TV-Satire Yes Minister) zurückzuführen war, kann Pemberton am Ende des zweiten Bandes zwar beklagen (S. 359). Mangels kulturgeschichtlicher Kontextualisierung kann er das Phänomen aber weder erklären noch dessen Folgen für die korporative Identität der höheren Ministerialbürokratie ausleuchten.

Aus rein verwaltungsgeschichtlicher Perspektive setzen Lowe und Pemberton mit ihrer zweibändigen Studie zweifellos neue Maßstäbe. Ihre detaillierte und kenntnisreiche Durchdringung gewaltiger Quellenmengen nötigt ebenso Bewunderung ab wie die souveräne Überschau in den großen Linien der Argumentation. Das gilt vor allem für den ersten Band, der zudem auch über einen exzellenten wissenschaftlichen Apparat verfügt. Im zweiten Band häufen sich allerdings Redundanzen. In Lowes Fall mag das daran liegen, dass er die von ihm geschriebenen Teile vor seinem Tod nicht mehr überarbeiten konnte. Bei Pemberton scheint es dagegen ein Stilmittel zu sein, ebenso wie eine gewisse Weitschweifigkeit bei der Wiedergabe nachrangiger Quellen. Noch gravierender ist, dass die Quellen im Anmerkungsapparat des zweiten Bandes durchgängig ohne Archivsignaturen angegeben werden. Auf ein Problem für künftige Historiker weist Pemberton im Vorwort des zweiten Bands selbst hin: Ab circa 1994 wird die aktenmäßige Dokumentation des Regierungshandelns zunehmend lückenhaft. Pemberton führt das nicht allein auf die Digitalisierung zurück (auch in der britischen Staatsverwaltung wurden E-Mails in den ersten zehn Jahren nicht systematisch archiviert), sondern sieht es auch als Ausdruck einer gewissen Nachlässigkeit in Verfahrensfragen, die mit dem neoliberalen Mantra von „value for money“ in die Ministerialbürokratie einzog (Vol. II, S. XVI). Wer den Wust an obskuren WhatsApp-Messages aus der Hand prominenter Special Adviser gesehen hat, durch den sich 2023 die „UK Covid-19 Inquiry“ kämpfen musste, ahnt, was da heranrollt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Rodney Lowe, The Welfare State in Britain since 1945, 3. Aufl., Basingstoke 2005 (1. Aufl. 1993); ders., Adjusting Democracy. The Role of the Ministry of Labour in British Politics, 1916–1939, Oxford 1986.
2 Herman Finer, The British Civil Service, London 1937, S. 50; vgl. allgemein Nikolai Wehrs, Elitenherrschaft im Zeitalter der „Massendemokratie“. Der Civil Service und die politische Kultur Großbritanniens im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 61 (2021), S. 373–398.
3 Peter Hennessy, Whitehall, London 1989.
4 Vgl. auch John Greenaway, Celebrating Northcote/Trevelyan. Dispelling the Myths, in: Public Policy and Administration 19 (2004), S. 1–14.
5 Zit. nach: The Northcote-Trevelyan Report, in: Public Administration 32 (1954), S. 1–16, hier S. 7.
6 Vgl. Andrew Blick, People Who Live in the Dark, London 2004.

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