Cover
Titel
Empires. Eine globale Geschichte 1780–1920


Autor(en)
Hirschhausen, Ulrike von; Leonhard, Jörn
Erschienen
München 2023: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
736 S., 40 Abb., 10 Karten
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Berger, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Die Autor:innen des hier vorgelegten, es sei vorweggenommen, exzellenten Bandes zu den europäischen Imperien des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv und immer wieder vergleichend und transnational mit dem Thema des europäischen Imperialismus, gleichermaßen im Osten und im Westen Europas. Sie haben eine lange Vorgeschichte als gemeinsames, überaus erfolgreiches Autor:innenteam, und diese Eingespieltheit des gemeinsamen Schreibens zeigt sich auch in diesem Band, der nicht zuletzt einen absoluten Lesegenuss darstellt. Immer wieder sind es die wunderbaren, erzählerisch auf hohem Niveau ausgebreiteten Vignetten zu diversen Aspekten des europäischen Imperialismus, die den Leser in den Band hineinziehen und ihm spannende Geschichten vermitteln, die allerdings ebenfalls einen hohen analytischen Wert haben und allgemeine Befunde zur Geschiche des Kolonialismus in der Welt des 19. Jahrhunderts veranschaulichen.

Der Band wird zusammengehalten durch starke thematische und konzeptionelle Schwerpunktsetzungen, die die Agency der Kolonisierten hervorheben, die mitnichten nur Objekte einer europäischen Kolonialpolitik waren. So scheinen immer wieder Momente auf, in denen die festgezogenen Grenzen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, zwischen kolonialen Zentren und Peripherien, durchlässig und brüchig werden. Das Zentrum des Buches ist die ethnische Vielfalt der europäischen Imperien des 19. Jahrhunderts. Gerade der Umgang mit ethnischer Differenz produzierte Krisen, die die Empires in Frage stellten. Der Leser wird daran erinnert, dass Empires den Normalfall der staatlichen Entwicklung im Europa des 19. Jahrhunderts darstellen. 1914, so liest man, gehörten 84 Prozent der Welt Imperien an, aber es waren eben auch immer labile Gebilde, auf vielfältigen Formen von Aushandlung und Kompromissen ebenso begründet wie auf schierer Gewalt.

In ihrem Einleitungskapitel liefern die Autor:innen eine auf fünf Kriterien beruhende idealtypische Definition von Empires: a) räumliche Ausdehnung/territoriale Größe, b) ethnische, politische und rechtliche Vielfalt, c) weiche Grenzen/fluktuierende Grenzräume, d) spezifische Machthierarchien mit einem durchaus fluiden Verhältnis von Zentrum und Peripherien und e) Vorstellungen langer Dauer. Im Anschluss zeigen sie fünf Handlungsfelder auf, auf denen Empires die Spannungen zwischen Freiheit und ethnischer Vielfalt verhandelten: 1) Erorbern und Erschließen, 2) Herrschen und Verhandeln, 3) Glauben und Repräsentieren, 4) Prosperieren und Profitieren, 5) Kämpfen und Verteidigen. Das Buch verbindet dabei intra-imperiale mit trans-imperialen Perspektiven und hat ein waches Auge für die vielfältigen Formen von Transfers und Verflechtungen sowohl innerhalb als auch zwischen unterschiedlichen Empires.

Die Autor:innen begründen ihren Fokus auf das „lange“ 19. Jahrhundert mit einem grundlegenden Wandel der globalen Kontexte von Empires seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Der Aufstieg des „fiscal-military state“, die Erosion der Macht außereuropäischer Empires, die zunehmende Expansion europäischer Empires, die Entwicklung eines atlantischen Revolutionsraumes seit den 1770er-Jahren, die Legitimationskrise des spanischen Kolonialreichs, die auf einen neuen Typus von Empire verwies, sowie der Wiener Kongress von 1815 mit seiner Maxime der „territorialen Konzentration als Voraussetzung für innere Stabilität und äußere Sicherheit“ (S. 31) markierten allesamt eine Schwelle zu den modernen europäischen Empires des 19. Jahrhunderts.

Die insgesamt fünf Hauptkapitel des Buches entwickeln sich logisch entlang der fünf erwähnten Spannungsfelder und beginnen mit „Erobern und Erschließen“. Hier geht es um Kolonialkriege und Steuern sowie um neue Technologien, die Menschen und Güter mobiler machten. Der Siedlerkolonialismus im britischen und russischen Empire wird ebenso umfassend behandelt wie Kolonialkriege im Zarenreich und in den britischen Kolonien Afrikas. Die unterschiedlichen Steuerregimes in den unterworfenen Gebieten und der Widerstand gegen sie werden von Oberitalien über Indien bis Afrika analysiert. Schließlich werden imperiale Infrastrukturen dargestellt – vom Suezkanal (und den ihn begleitenden Arbeiterprotesten) bis hin zu verschiedenen Eisenbahnprojekten in unterschiedlichen Regionen der Welt. Eine Fallstudie zur transnationalen Existenz von Fürst Michail Woronzow und zur Besiedelung von Russlands Süden runden das erste Großkapitel ab.

In „Herrschen und Verhandeln“ geht es dann um die Dynamik und das oftmals ungeplante Chaos imperialer Herrschaft im britischen, französischen, osmanischen, russischen und Habsburgerreich. Das Kapitel beginnt mit diversen Krisen imperialer Herrschaft seit den 1840er-Jahren. Immer wieder erscheinen die lokalen Faktoren in einer unendlichen Diversität regionaler Verhältnisse sowie die religiöse und ethnische Vielfalt als zentrale Komponenten vieler imperialer Konflikte. Die „Praktiken des Rechts“ (S. 179) werden einerseits aus der Logik imperialer Herrschaftssysteme und andererseits aus dem Bemühen der Kolonisierten, das Recht zu einem Instrument ihrer diversen Ansprüche zu machen, heraus erklärt. Schließlich geht es um Sprache, Bildung und Schule – einerseits Herrschaftsinstrumente des imperialen Zentrums, andererseits Hort von Widerstand und Gegenöffentlichkeit. Eine Geschlechter- und Frauengeschichte des Kolonialismus wird in der Konstruktion von Frauenbildern und im Kampf um Frauenrechte beleuchtet. Auch das zweite Großkapitel endet, wie schon das erste mit einer biografischen Fallstudie – Franz Seraph von Stadion und sein Bemühen um „Vielfalt als Krisenvorbeugung“ (S. 250) zwischen Wien, Triest und Galizien wird ausführlich vorgestellt.

„Glauben und Repräsentieren“ beschäftigt sich mit den Bemühungen diverser Empires, die Zustimmung der Kolonisierten zur Form des Empire zu gewinnen. Hier spielte die Suche nach verbindenden Symbolen eine wichtige Rolle. Die Religion und die Monarchie waren die wichtigsten Klammern in den diversen Versuchen, Loyalität zum Empire zu generieren. Von Jamaica bis Kasan und vom österreichischen Kaiser bis zu den britischen Emperors reichen die Beispiele. Der Umgang mit religiöser Differenz steht ebenso im Mittelpunkt wie die Formen monarchischer Repräsentation. Besonders faszinierend ist die Vorstellung imperialer Stadtlandschaften (insbesondere Saloniki und Shanghai), die als „Räume der Differenz, Foren der Moderne und Arenen des Konflikts“ vorgestellt werden (S. 329). Am Ende des Kapitels wird die „Feministin, Sozialreformerin, Missionarin“ (S. 364) Pandita Ramabai zwischen Indien, Großbritannien und den USA vorgestellt.

„Prosperieren und Profitieren“ handelt von diversen Formen der wirtschaftlichen Durchdringung von Empires, dem enormen Anwachsen des Welthandels, globaler Arbeitsmigration und der Herausbildung von weltwirtschaftlichen Strukturen. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht ein global agierender Kapitalismus, der nicht zuletzt ethnisch strukturiert war. Das Kapitel analysiert unterschiedliche Unternehmerkulturen (Kalkutta, Bombay, Russland), führt ein in die zentrale Rolle der Baumwolle als imperiale Ressource und schaut sich die Ethnisierung sozialer Konflikte in diversen Migrationsbewegungen und Arbeitsregimes an (indische Vertragsarbeiter in Südafrika, Streiks in der Habsburgermonarchie). Es endet mit dem Fallbeispiel von Silas Hardoon als Unternehmer in Shanghai, der wiederum die Transnationalität von Empire-Existenzen, hier zwischen jüdischer Diaspora, britischem Recht und chinesischer Kultur, unterstreicht.

Im letzten substanziellen Kapitel der Arbeit, „Kämpfen und Verteidigen“ wird zunächst die Beschleunigung der imperialen Aufteilung der Welt zwischen 1880 und 1914 thematisiert. Danach geht es um sich verstärkende interimperiale Konflikte, besonders um die Herausforderung der europäischen Empires durch Japan und die USA. Schließlich thematisiert das Kapitel das verstärkte Aufkommen des Nationalstaats als territoriales Modell im Gegensatz zum Empire. Aus allen drei Entwicklungen ergab sich die zunehmende Bedeutung von effektiver Kriegsführung für Empires. Hier kam es zur Aufstellung von multi-ethnischen militärischen Verbänden, die gerade im Kontext des Ersten Weltkriegs Fragen nach Loyalität und Kohäsion aufwarfen, welche durch die Erfahrung von Kriegsgefangenschaft und die Bildung von Veteranenverbänden noch verschärft wurden. Das Kapitel bietet gerade in seiner Thematisierung der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die europäischen Empires interessante Perspektiven auf die Frage, warum die europäischen Kontinental-Empires den Krieg nicht überlebten, während die maritimen Kolonialreiche nach 1918 weiter expandierten. Abschließend wird Blaise Diagne als transnationale Empire-Existenz zwischen dem Senegal und Paris dargestellt.

Durch alle Kapitel hindurch gibt es immer wieder systematisierende vergleichende Unterkapitel, die exzellent resümieren, welche Bedeutungsebenen die unterschiedlichen Facetten imperialer Herrschaft in den diversen Regionen der Welt hatten. Das zusammenfassende 25-seitige Schlusskapitel ist ein Meisterstück der verdichteten Analyse, bei dem vor allem die Konkretisierung von Empire-Geschichte rund um Orte, Konstellationen und Handlungsfelder thematisiert und die Globalisierung der europäischen Empires reflektiert wird. Ein kurzer Ausblick auf imperiale Erbschaften macht Lust auf eine Folgeband, der sich dann ausführlicher mit diesen Fragen von Empires ohne formellen Imperialismus beschäftigen würde. Insgesamt handelt es sich bei dem hier besprochenen Band um eine fundierte Synthese zu den europäischen Empires des 19. Jahrhunderts. Es ist ein großer Wurf, der auf Jahre hinaus ein zentrales Referenzwerk zur Geschichte der europäischen Empires bleiben wird.

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