Das Buch des amerikanischen Diplomatiehistorikers Will Gray erscheint genau zum richtigen Zeitpunkt. Während angesichts des Ukrainekriegs und der offensiven Außenpolitik der Ampel-Bundesregierung die Rolle Deutschlands als militärische Großmacht wieder diskutiert wird, legt Gray eine umfassende Studie über die Selbstbeschreibung der (alten) Bundesrepublik als „Handelsmacht“ vor, als einer Weltmacht, die durch ihre wirtschaftliche Stärke und nicht durch die militärische Macht getragen wird. Zwischen dem Ende der Ära Adenauer und dem Beginn der Weltwirtschaftsgipfel 1975 hatte sich die Bundesrepublik unter Verzicht auf militärische Ambitionen als exportstarke Wirtschaftsmacht im westlichen „Konzert der großen Mächte“ etabliert. Wenn diese Rolle nun verlassen wird, ist eine detaillierte Studie über ihre Entstehung ausgesprochen nützlich.
So punktgenau die Publikation auch erscheint: Grays Buch ist keine der hastig verfassten populären Stellungnahmen dieser Tage, sondern das Ergebnis einer intensiven, fundierten Beschäftigung mit der Geschichte der bundesdeutschen Außenpolitik. Aus der Politik- und Diplomatiegeschichte hervorgehend, hat Gray dabei schon sehr frühzeitig die Bedeutung der deutschen Außenwirtschaftspolitik betont und in zahlreichen Artikeln insbesondere über die komplizierte Währungspolitik der 1960er- und 1970er-Jahre erforscht, die zum Teil in die jüngste Darstellung einfließen. Das Buch ist in erfreulichster Weise quellen- und faktengestützt und widersteht dem Trend zu kulturwissenschaftlicher Theoretisierung. Es wird für sehr lange Zeit der Maßstab für Interpretationen der westdeutschen Außenpolitik sein, weit über den engeren zwölfjährigen Untersuchungszeitraum hinaus.
Das Buch ist strikt chronologisch aufgebaut und beginnt mit dem Élysée-Vertrag und der engen deutsch-französischen Beziehung am Ende der Amtszeit von Konrad Adenauer. Dessen Nachfolger als Bundeskanzler, Ludwig Erhard, der schon in den 1950er-Jahren immer wieder als Vertreter der „Atlantiker“ gegen die „Gaullisten“ um Adenauer aufgetreten war, löste sich aus der deutsch-französischen Bindung und suchte die Nähe zu den USA. Die deutsche Außenpolitik – so beschreibt es Gray – sei bis in die 1970er-Jahre wie ein Pendel zwischen Frankreich und den USA hin- und hergeschwungen. Dabei waren sicherheitspolitische Themen – die Beteiligung Deutschlands an einer multilateralen Streitmacht der NATO, die Deutschland- und Ostpolitik, die Truppenstationierung in Westdeutschland und deren Finanzierung – genauso Anlass für die jeweilige Richtungsänderung des Pendels, wie wirtschaftspolitische Fragen. Ein Dauerthema in den politischen Spannungen mit Frankreich war die europäische Integration und insbesondere die Gemeinsame Agrarpolitik. Spannungen mit den USA ergaben sich aus der Währungspolitik, als diese zu einer inflationären Geldmengenexpansion übergingen, was über die Architektur des Fixkurssystems von Bretton Woods einige Mitgliedsländer zu kostenträchtigen Stützungskäufen zwang.
Eines der wichtigsten Ergebnisse des Buches besteht wohl in der Neubewertung der außenpolitischen Leistungen von Willy Brandt. Denn Gray kann sehr überzeugend darlegen, dass Brandt weder als Außenminister der Großen Koalition noch als Bundeskanzler auf die Neue Ostpolitik reduziert werden kann. Brandts Auftritte auf einem Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaften in Den Haag im Dezember 1969 und im Jahr zuvor auf Konferenzen über den Atomwaffensperrvertrag lassen vielmehr erkennen, dass sich seine Ostpolitik in ein größeres außenpolitisches Konzept einfügte, das zu allererst die Rolle der Bundesrepublik in der westlichen Welt und insbesondere in Europa klären wollte. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger, die die militärische Rolle der Bundesrepublik immer wieder im Unklaren gelassen hatten, stand Brandt für den eindeutigen Verzicht auf ihre nukleare Bewaffnung. Er verband damit einen Führungsanspruch unter den nicht-nuklearen Staaten, was zugleich Entspannung im Osten und eine finale Bewältigung der Folgen des deutschen Angriffskriegs inklusive der Anerkennung von Grenzen und Entschädigungen auf die Tagesordnung brachte.
Es waren vor allem die wirtschaftlichen Krisen und insbesondere die Währungskrisen der 1960er- und 1970er-Jahre, in deren Verlauf sich die Führungsrolle der Bundesrepublik innerhalb eines vereinigten Europas verfestigte. Verhandlungsgeschick und großzügige Rettungspakete halfen dabei, Krisen des Pfunds, des Francs und der Lira zu bewältigen. Im auseinanderbrechenden „System von Bretton Woods“ setzten die Brandt-Regierungen auf eine koordinierte europäische Währungspolitik. Dabei erhielt die europäische Solidarität Vorrang vor dauerhafter wirtschaftspolitischer Problemlösung, wie Karl Schiller schmerzlich erfahren musste: Als Wirtschaftspolitiker zu einer überragenden Persönlichkeit innerhalb der SPD aufgestiegen, wurde seine währungspolitische Linie 1972 in Frankreich als zu „liberal“ empfunden. Die Währungskrise sollte statt mit frei floatenden Wechselkursen mit Kapitalverkehrskontrollen und anderen autoritären Werkzeugen bekämpft werden, so hieß in Frankreich und auch in einem großen Teil der SPD. Das zwang Schiller schließlich zum Rücktritt und ebnete Helmut Schmidt den Weg.
Willy Brandt war in all diese Vorgänge umfassend eingebunden, so kann Gray sehr deutlich und unter Verwendung von bislang wenig beachteten Dokumenten aus dessen Nachlass zeigen. Gray stellt Brandt in das Zentrum des Lavierens zwischen Europa und den USA, aus dem die Bundesrepublik als eine eigenständige „Handelsmacht“ hervorging, die die Beteiligung an militärischen Abenteuern und die Lieferung von Waffen in Krisengebiete ablehnte, bei Handelsbeziehungen zugleich aber wenig Berührungsängste zeigte. In den währungspolitischen Krisen war es auch Bundeskanzler Brandt, der europäisch koordinierten Gegenmaßnahmen zum Durchbruch verhalf. Im September 1973 wurde die Bundesrepublik in die Vereinten Nationen aufgenommen, Willy Brandt hielt eine viel beachtete Rede vor der Generalversammlung und Westdeutschland war zum „Zentrum Europas“ aufgestiegen (wie Gray das Kapitel nennt).
Während Brandts Leistungen damit eine Aufwertung erfahren, sieht Gray in Helmut Schmidts Regierungszeit eine Phase der Konsolidierung. Im Gegensatz zu Brandt sei Schmidt keinen langfristigen Visionen gefolgt, sondern vom Tagesgeschäft kompensiert worden. Genüsslich fasst Gray die Bemerkungen des britischen Premierministers Harold Wilson zusammen: Schmidt habe überall eine Krise gesehen. Dabei entwickelte er die von Brandt hinterlassene Struktur der Internationalen Beziehungen insofern weiter, als er sich wieder stärker an die USA annäherte. Die Währungskrise löste er (noch als Finanzminister) eigentlich erst, als er im Mai 1973 doch die Rezepte Karl Schillers beherzigte. In der erweiterten Europäischen Gemeinschaft konnte Schmidt sich mit Sparvorschlägen nicht durchsetzen. Schließlich spielte er eine entscheidende Rolle bei der Begründung der G7-Gipfel, deren erstes Treffen in Rambouillet 1975 die bundesdeutsche Handelsmacht sichtbar zum Ausdruck brachte.
Die Materialfülle des Buches von Will Gray ist überwältigend. Seine Fähigkeit, unzählige Aspekte der komplexen deutschen Außenpolitik zusammenzudenken und gleichwohl zu einer plausiblen Interpretation zu verknüpfen, ist beeindruckend. Über einige Punkte wird in den nächsten Jahren auch kritisch zu diskutieren sein: Interessant ist beispielsweise die Frage der historischen Kontinuität, denn auch die Weimarer Republik hatte unter Gustav Stresemann bereits versucht, die Rolle einer „Handelsmacht“ an die Stelle verlorener militärischer Stärke zu setzen. Die historische Parallelität von Westbindung und gleichzeitiger handelspolitischer Kontaktaufnahme im Osten („Rapallo“) ist geradezu frappierend. Die Bedeutung der Unternehmensinteressen ist dabei nicht zu unterschätzen, nicht in den 1920er-Jahren und auch nicht in den 1970er-Jahren. Insbesondere die Interessen der Exportindustrie waren in der deutschen Außenwirtschaftspolitik allgegenwärtig. Sie beeinflussten die Ostpolitik vor und nach Brandt genauso wie die Währungspolitik und die europäische Integration. Eine intensivere Beschäftigung mit den GATT-Verhandlungen hätte dies deutlich gemacht, aber den Rahmen des ohnehin schon umfassenden Buches auch deutlich gesprengt. Sie hätte auch die Bedeutung Japans betont, das von deutschen Unternehmen schon in den 1960er-Jahren als ökonomische Konkurrenz in den Blick genommen wurde.
Mit Blick auf die Gegenwart ist die wohl spannendste Frage die nach dem Verhältnis von Weltmachtpolitik und deutscher Sozialdemokratie. Hier hätte Will Gray sicher sehr viel zu sagen, entscheidet sich aber richtigerweise für die Zurückhaltung des Historikers. Dass das Anbandeln mit der Sowjetunion keineswegs allein auf das Konto der sozialdemokratischen „neuen“ Ostpolitik geht, sondern dass dabei Unternehmer mit unterschiedlicher Parteiaffinität beteiligt waren, kann in der gegenwärtigen Lage nicht oft genug hervorgehoben werden. Grays Befund geht aber weit über historiographische Korrekturen von Details hinaus: Der Aufstieg der Bundesrepublik zu einer weltpolitischen Handelsmacht zwischen den Blöcken und innerhalb Europas sei das Ergebnis eines Lernprozesses der Außenpolitik sozialdemokratisch geführter Bundesregierungen gewesen, an den die Berliner Republik nun anschließe. Einzelne Sozialdemokraten verfolgten dabei aber nationalistische Ambitionen und merkwürdig antiquierte Großmachtphantasien, wie Gray zeigt. Wir können nur hoffen, dass diese mittlerweile überwunden sind – in der SPD wie auch außerhalb.