Dieser dritte Band der interdisziplinär angelegten Reihe zur Geschichte der Emotionen in der Klassischen Antike ist das Resultat der Internationalen Fachkonferenz „Ancient Emotions II“ im Dezember 2017 an der Universität Patras.1 Auf die Antike fokussierte Emotionsforschung war und ist en vogue, sie ist zuweilen auch schon medizinhistorisch erfolgt.2 Im Beitext heißt es vielversprechend, dass dieser Band die bisher wenig untersuchten antiken medizinischen Ansichten zu Emotionen und ihre zeitgebundenen Zusammenhänge zu wissenschaftlichen und populären Erklärungsmodellen aufzeigen möchte mit Schwerpunkt auf den einzelnen Patienten. Dies ist natürlich ein hehrer, wie auch gewagter Anspruch bei einer insgesamt doch sehr disparaten medizinischen Quellenlage und doch nicht so wenigen Voruntersuchungen.
Im Vorwort verweisen die beiden Herausgeber (S. 1–14) auf die „Prädominanz der Emotionen in moderner medizinischer Praxis“, vor allem in der medizinischen Psychologie. Das ist schon etwas erstaunlich, da außerhalb der Psychologie in den medizinischen Berufen weitgehend immer noch der Kant’sche Leitspruch der professionellen apathischen Distanz3 gelebt und gelehrt wird. Allerdings zeichnet sich auch hier in den letzten Jahren eine Entwicklung „zurück zu den Emotionen“ sektorweise und gegen vielfältige Widerstände ab, insbesondere zur Bewältigung berufsbedingter Stressbelastung (Burn-out), die ihrerseits, insbesondere während und unmittelbar nach der COVID-19-Pandemie, Ursache für individuellen Berufsausstieg geworden ist und generell zu systemrelevanten Personalengpässen weltweit geführt hat.4
Der Band umfasst zehn Einzelbeiträge und gliedert sich entsprechend dem Untertitel „Theorie-Praxis-Leiden“ in drei Teile: Emotionen zwischen Medizin und Philosophie, Emotionen im medizinischen Alltag, antike medizinisch-philosophische Therapie von Emotionen. Die Theorie leitet Peter N. Singer (S. 17–42) mit der grundlegenden Frage ein, was pathos als Fachbegriff für Emotion im philosophisch-medizinischen Schrifttum der Antike eigentlich bedeutet. Dabei macht er einen Kurztrip von Platon über Plotin, den Stoikern hin zu Galens medizinischen Exkursen über die Leib-Seele-Beziehung bei pathologischen, negativ besetzten Emotionen. Hieran schließt sich die auf die beiden als morbide klassifizierten Emotionen Angst und Liebe spezifizierte Analyse der Gorgias zugeschriebenen, nicht gerade medizinisch, wohl aber rhetorisch einschlägigen „Lobrede auf Helena“ an (S. 43–58).5 Dimos Spitharas diskutiert hier den Gebrauch von medizinischen Analogien, insbesondere in §14 dieser Rede, liest die therapeutische Anwendung „psychotroper Worte“ im materiell-natürlichen Sinn und deutet diesbezügliche Aussagen in der hippokratischen Schrift De arte inhaltlich als sehr verwandt. Spyridon Rangos untersucht relativ langatmig das Emotionsphänomen des ratlosen Staunens („wonder and perplexity“, thaûma) in der Philosophie Platons und Aristoteles‘ im Vergleich zum Corpus Hippocraticum (S. 59–114). Er kontrastiert dies in einer Art Philosophiekurzgeschichte mit einem im theoretischen Diskurs positiv konnotierten Begriff zur philosophischen Kontemplation, während er wiederum, sehr überspitzt, im Hippokratischen Corpus dieses perplexe Staunen als medizinprofessionell negativ besetzte „Schwäche durch Unwissen“ interpretiert.
Der zweite Teil, Emotionen in der antiken medizinischen Praxis, beginnt mit einem eher als Impuls daherkommenden Beitrag von Elizabeth Craik zu irrationalen Ängsten als Dilemma der antiken Medizin (S. 117–122). Jennifer Kosak untersucht das Schamgefühl im Corpus Hippocraticum (S. 123–143). Während die ihrer Meinung nach stark soziokulturell geprägte Scham selbst weitgehend ungenannt bleibt, werden schambehaftete Rückzugsreaktionen wie unkontrollierte Körperverhüllung oder Sprachverlust gelegentlich beschrieben. Das eigentliche Schamgefühl wird aber weder bei den betroffenen Patienten noch bei den scheinbar emotionslos handelnden Ärzten offen ausgehandelt. Chiara Thumiger (S. 145–171) greift dieses Thema nochmals aus der etwas anderen Perspektive der im Hintergrund mitschwingenden modernen Binarität von Scham und Schuld auf. Auch sie sieht antike wie moderne Ärzte eher als Emotionsverweigerer („avoidance of iatrogenic emotions“). Scham ist in den klassischen hippokratischen Krankenschilderungen nirgendwo explizit genannt, nur anhand der beschriebenen Patientenreaktionen wie Selbstverhüllung zu vermuten und gehört daher dort zu den nicht direkt sichtbaren, stillschweigenden Emotionen des jeweils körperlich leidenden Subjektes. George Kazantzidis konzentriert sich auf die von ihm als besonders psychologie- und emotionsreich gesehene Darstellung von Frauen in den Krankengeschichten der hippokratischen Epidemien (S. 173–198). In diesen Arztberichten bleibe der Mediziner physisch und insbesondere emotional nahezu unbeteiligt („near-total invisibility“), der beschriebene Patient werde auf einen physisch kranken Körper reduziert, er werde „de-emotionalisiert“. Eine von Kazantzidis favorisierte mehr empathische Lesart dieser „kalten“ Krankengeschichten könne die durch das rein klinisch-symptomatische Narrativ verlorene Eigenart der hier betrachteten Patientinnen in die Realität zurückholen.
Der dritte Teil, medizinisch-philosophische Therapie von Emotionen, beginnt mit der Studie Teun Tielemans (S. 201–227), in der die nur fragmentarisch überlieferten Ansichten zu Zusammenhängen von Emotionen und Krankheiten beim Begründer der Pneumatischen Schule, Athenaios von Attaleia, diskutiert werden. Tieleman stellt bei Athenaios, einem Schüler des Stoikers Poseidonios aus Apameia, ein besonderes Interesse für Interaktionen zwischen Seele und Körper im Zusammenhang mit Emotionen und im weiteren Sinne ebenso bei möglichen Therapien fest. David Kaufman (S. 229–246) arbeitet mit einer sehr genauen Galen-Lektüre eine spezifische Eigenart Galens in Bezug auf die klassische philosophische „Apathia/Metriopathia“-Debatte (Platon, Aristoteles, Stoiker) heraus. Julien Devinant (S. 247–269) befasst sich mit Galens Betrachtungen zur speziellen Rolle von Emotionen bei psychischen Erkrankungen. Dabei offenbart er einige mehr- und uneindeutige Aussagen Galens, die dessen Seelen-Gesamtkonzept teilweise als unschlüssig erscheinen lassen.6 Susan P. Mattern (S. 271–285) beschließt den Abschnitt mit dem interessanten Beispiel des „Atlas“-Patienten. Anhand dieses Schlüsselbegriffs konstruiert sie einen bei Galen wiederholt auftauchenden, an „Melancholie“ leidenden Patiententyp,7 den sie auch bei anderen antiken Medizinautoren wiederfindet (Rufus von Ephesos, Alexander von Tralleis, Aëtios von Amida). Diese Patienten mit dem klassischen Angst-Symptom („the Atlas tradition“), dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt,8 seien ihrer Meinung nach trotz der Angaben, dass es sich um jeweils eigene Patienten handelte, eher literarische Konstruktionen, nur Recycling aus dem Material älterer Fachautoren, oder sogar nur Alltagsmaterial aus einer, dieser Angst-Psychose sinngebenden damaligen Folklore.9 Nach einem Exkurs über antike Melancholie und heutige psychiatrische Konzepte unter Hinweis auf rezente intraprofessionelle Diskussionen zur Neudefinition von Psychosen (gutartig, soziokulturell normal-akzeptiert, subklinisch, klinisch manifest) kommt sie zum Ergebnis, dass nach heutigen Kriterien Galens „Atlas“-Patient nicht an Schizophrenie, sondern an einer Angststörung litt.
Den Band beschließt eine Übersicht aller Autoren, ein Namens-, Sach- sowie ein Quellenindex. Jeder Einzelbeitrag, inklusive der Einleitung, endet praktischerweise mit eigener Bibliographie. Der Band ist durchweg nicht nur inhaltlich sehr gut kohärent organisiert, sondern auch sehr gut ediert mit nur ganz wenigen Schreibfehlern.
Diese dichte, thematisch fokussierte Beitragssammlung trägt wesentlich zur laufenden Diskussion historischer wie auch aktueller Bedeutung des panbiologischen Phänomens von Emotionen bei. Mitunter ist den sehr philosophisch geprägten Gedankengängen außerhalb des Fachgebietes schwierig zu folgen. Interdisziplinär bedeutet hier vorwiegend innerhalb der Geisteswissenschaften, medizinisch sind in meiner Wahrnehmung tatsächlich nur der Beitrag Matterns und bis zu einem gewissen Grad der von Kazantzidis relevant zu nennen. Alle Autoren sind selbst keine Mediziner, auch keine (medizinischen) Psychologen. Gibt es also außerhalb der Geisteswissenschaften überhaupt ein medizinisches Zielpublikum? Generell ist natürlich Vorsicht geboten, ein modernes, aktuelles Thema wie „Emotionen in der Medizin“ auf gegenwärtigem Niveau in die klassische Antike zu spiegeln. Die an mehreren Stellen vertretene Ansicht der kalt und emotionslos agierenden antiken Ärzte ist meiner Meinung nach eine viel zu einseitige Interpretation auf selektiver Textgrundlage.10 Der im Ansatz angesprochenen Übertragung dieser vermuteten Berufsattitüde dann auch noch generell auf moderne medizinische Professionen muss ich kategorisch widersprechen. Ich persönlich halte es im Einzelnen für extrem problematisch, den in der Moderne tradierten medizinprofessionellen Verhaltenskodex der emotionalen professionellen Distanz, der sich im Übrigen nicht erst jetzt wieder im kritischen Umbruch befindet,11 in die antike Situation anhand von in einem sehr speziellen antiken Forschungskontext entstandenen Krankenberichten zu spiegeln. Indes sind gerade in einem derart spannungsgeladenen Diskurs im Zusammenhang mit der gegenwärtigen intra- und interprofessionellen Reflexion von Emotionen in der gesamten Medizin die Beiträge dieses Bandes eben nicht nur für ein an soziokultureller Emotionsgeschichte, sondern auch für ein fachmedizinisch interessiertes Publikum als Anregung und Einstieg unbedingt zu empfehlen.
Anmerkungen:
1 I: Schwerpunkt „Hoffnung“ (George Kazantzidis/Dimos Spatharas (Hrsg.), Hope in Ancient Literature, History, and Art. Ancient Emotions I. TCSV 63, 2018); II: Emotionen und Überredungskunst (Dimos Spatharas, Emotions, persuasion, and public discourse in classical Athens. Ancient Emotions II. TCSV 83/2, 2018). IV: Gedächtnis und Emotionen (George Kazantzidis/Dimos Spatharas (Hrsg.), Memory and Emotions in Antiquity. TCSV 158, 2024).
2 Nicht mehr ganz aktuell, aber als Einführung immer noch zu empfehlen: Jan Plamper, The History of Emotions: An Introduction, Oxford 2015 (aktualisierte Übersetzung von „Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte“, München 2012). Hermann Kappelhoff/Jan Hendrik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt (Hrsg.), Emotionen: Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2019. Zur griechischen Antike: Angelos Chaniotis, Emotionen und Fiktionen. Gefühle in Politik, Gesellschaft und Religion der griechischen Antike, Darmstadt 2023 (Rezension von Nicole Diersen: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-139398H-Soz-Kult (07.05.2024)). Mit besonderem Fokus auf die antike Medizin beispielsweise: Manfred Horstmanshoff, Les émotions chez Caelius Aurelianus, in: Philippe Mudry (Hrsg.), Le traité des Maladies Aiguës et des Maladies Chroniques de Caelius Aurelianus. Nouvelles approaches, Nantes 1999, S. 259–287; George Kazantzidis, Empathy and the Limits of Disgust in the Hippocratic Corpus, in: Donald Lateiner/Dimos Spatharas (Hrsg.), The Ancient Emotion of Disgust, Oxford 2017, S. 45–68.
3 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Einleitung XVII, Königsberg 1797.
4 Beispielsweise: Wolfgang Seidel, Emotionspsychologie im Krankenhaus. Ein Leitfaden für Ärzte, Pflegende und Patienten, Berlin 2008; Hiltrud Krey, Ekel ist okay. Ein Lern- und Lehrbuch zum Umgang mit Emotionen in Pflegeausbildung und Pflegealltag, Frankfurt am Main 2021; Robert J. Wicks/Gloria F. Donnelly, Overcoming Secondary Stress in Medical and Nursing Practice. A Guide to Professional Resilience and Personal Well-Being, New York 2021.
5 Enthalten in: Thomas Buchheim (Hrsg.), Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch-Deutsch, Hamburg 2012.
6 Siehe hierzu auch seinen Beitrag „Mental Disorders and Psychological Suffering in Galen‘s Cases“, in: Chiara Thumiger/Peter Singer (Hrsg.), Mental Illness in Ancient Medicine, Leiden 2018, S. 198–221, in: H-Soz-Kult http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27166 (07.05.2024).
7 Siehe hierzu bereits: Susan P. Mattern, Galen and the Rhetoric of Healing, Baltimore 2008, S. 135, und ihre Falltabelle (Appendix B), Nr. 297 und 318.
8 Das durch die berühmte Comicfigur Asterix bekannte Kelten-Motiv (nach Strabon 7,3,8) – die sonst furchtlosen Gallier ängstigen sich einzig davor, dass ihnen „der Himmel auf den Kopf fällt“ – findet sich sogar als originärer Titel von Asterix-Band 33/2005 („Le ciel lui tombe sur la tête“).
9 Ich würde eher sagen, dass hier die antiken Autoren eine vorgegebene, noch relativ unpräzise Angst-Matrix auf eigene Patienten angewendet haben, wobei wiederum Mattern selbst gerade die Schablone „Atlaspatient“ aus eben diesem antiken Material generiert, anwendet und dann das Vorkommen als konstruiert kritisiert. Ergänzend zum Thema Angst: Lars Koch (Hrsg.), Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013.
10 Antike Emotionen jenseits der überlieferten Textzeugnisse werden z. B. dargestellt in: Angelos Chaniotis/Nikolaos Kaltsas/Ioannis Mylonopoulos (Hrsg.), A World of Emotions: Ancient Greece, 700 BC-200 AD, New York 2017.
11 Als rezentes Beispiel sehr zu empfehlen: Lieschen Müller, Oha, können Sie denn auch operieren? Eine junge Unfallchirurgin erzählt aus ihrem Klinikalltag, München 2020.