Kein würdigerer Gelehrter hätte die neue Buchreihe „Buchgeschichte(n)“ einleiten können als der seit einem halben Jahrhundert innovativ und immer anregend zur Geschichte des Buch- und Verlagswesens forschende und publizierende Reinhard Wittmann. Seine so stupende wie grundlegende „Geschichte des deutschen Buchhandels“, die als unentbehrliches und konkurrenzloses Standardwerk inzwischen in der vierten Auflage vorliegt und 2019 das Ende des Buches als Leitmedium konstatiert1, ist ebenso wie seine Verlagsgeschichten von Metzler, Oldenbourg und Hanser außerhalb des akademischen Betriebs entstanden. Dies gilt auch für die hier versammelten Studien, die der Liebe zum Buch verpflichtet sind; sie verraten zugleich stets die Neugier auf randständige Autoren und Texte der Frühen Neuzeit.
Wittmann behandelt Themen, die im Kanon dessen, was Germanisten und Literaturwissenschaften der 1960er-Jahre interessierte, in Deutschland überhaupt keine Rolle spielten und in München, dem Studienort Wittmanns, allein durch einen Honorarprofessor den Weg in die universitäre Lehre fanden, der wie Herbert G. Göpfert als Cheflektor des Hanser-Verlages Interesse für die Erscheinungsformen und das Funktionieren des historischen Buchwesens hatte. Er regte Wittmann zu einer 1971 abgeschlossenen und 1973 gedruckten Dissertation über die frühen Zeitschriften des Buchhandels als Spiegel des literarischen Lebens an. Der dort zu findenden Orientierung auf das gesamte Spektrum des historischen literarischen Lebens ist Wittmann stets treu geblieben, wie der hier vorliegende Sammelband beweist. Er betrat vor Jahrzehnten ein noch weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld, sein Ausgangspunkt waren dabei als bibliophiler Sammler die historischen Bücher.
Unter den hier vorgelegten Studien sind solche zum frühen Druck- und Verlagswesen der Jesuiten, zur Frühgeschichte des Antiquariats in Deutschland und zu Antiquariatskatalogen, zur Bedeutung des Nachdrucks im literarischen Leben des 18. Jahrhunderts, zu Verlegern wie Wilhelm Hennings und Gottfried Vollmer, zu Fehden unter der Aufklärung verpflichteten Verlegern, zu Bücherauktionen, zur Bedeutung des Romans für den Buchmarkt um 1800, zum Buchgewerbe im Königreich Württemberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zur Geschichte des Ladenhüters, zur Zensur, zum Sortimentsbuchhandel im Kaiserreich oder zu Münchens jüdischen Antiquariaten. Besonders interessieren Wittmann paratextuelle Quellen wie Widmungen. Seine Studien zeichnen sich wohltuend dadurch aus, dass seine Erkenntnisinteressen nirgendwo zu einer Theorie versteinern, in der Quellen nur noch als Demonstrationsobjekte dienen. Stattdessen geht er seinen Fragen mit großem Pragmatismus und, wie er selbst bemerkt, auf der Grundlage eines „geläuterten Positivismus“ nach, der analytische Präzision mit Anschaulichkeit verbinden will.
Nur wenige Beispiele für die Bedeutung auch solcher Studien, die über Einzelphänomene hinaus zu synthetisierenden Fragestellungen finden, können hier etwas näher vorgestellt werden. 1999 stellte Wittmann die Frage, ob es am Ende des 18. Jahrhunderts eine Leserevolution gegeben habe. Dabei geht er von Überlegungen des konservativen Schweizer Verlegers Johann Georg Heinzmann aus, der 1795 prophezeite, nicht Jakobiner würden dem Ancien Régime in Deutschland den Todesstoß versetzen, sondern Leser; Wittmann spricht statt von einer Revolution von einem folgenreichen Funktionswandel der bis dahin exklusiven Literaturtechnik Lesen und dem sich ausdifferenzierenden Leseverhalten eines stetig wachsenden Publikums, für das eine eher extensive Lektürepraktik zur verbindlichen und dominanten Kulturnorm geworden sei (S. 305–307). Verdienstvoll bleibt, dass dabei der Blick auch auf die Debatten in Zeitungen und Zeitschriften fällt, wobei den politischen Nachrichtenblättern eine besondere Bedeutung für die Expansion des Lesens beigemessen wird, Wittmann setzt sich dabei mit der ambivalenten Rolle des Buches und Drucks bei der Sozialdisziplinierung und Rationalisierung der Frühen Neuzeit auseinander; er neigt aber erkennbar der Überzeugung zu, dass, wer las, vom verbotenen Baume der Erkenntnis aß (S. 335).
Unter Wittmanns breit rezipierten Aufsätzen ist der zu den Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnissen als lesersoziologische Quelle zu nennen. Hier wies er 1975 nicht nur darauf hin, welch fundamentale Bedeutung die Erforschung des empirischen Lesepublikums für die Literaturwissenschaften insgesamt besitze, sondern auch darauf, dass es dafür aussagekräftige, noch viel zu wenig genutzte Quellen gäbe, die, wie heute auch „Wikipedia“ weiß, wegen ihrer Personalangaben wertvolle Quellen für die allgemeine zeitgenössische Literaturgeschichte und Literatursoziologie des 18. und 19. Jahrhunderts sowie für die Soziologie der Buchkäufer darstellen. 1975 schätzte Wittmann, dass einige tausend Bücher auf Subskription oder Pränumeration erschienen sind. Insgesamt muss man wohl feststellen, dass Wittmanns Mahnung, vorhandene Quellen auch zu nutzen, zwar vielfach zitiert, aber eher selten befolgt wurde, da jede quellenorientierte Forschung aufwendig und mühsam ist. Bis heute gilt die Feststellung, dass es nur in interdisziplinärer Kooperation und im Laufe mehrerer Jahre gelingen könnte, durch die Untersuchung einiger Hundert dieser von Wittmann ins Licht gerückten Verzeichnisse zu überzeugenden lesersoziologischen Ergebnissen zu gelangen (S. 172).
Eine deutlich größere Wirkung darf man seiner Studie „Der lesende Landmann“ zumessen, die er 1973 mit der Feststellung begleitete, ihm sei nicht eine einzige Arbeit bekanntgeworden, die sich mit der Rezeption aufklärerischer Bemühungen durch die bäuerliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert auch nur nebenbei beschäftigt habe. Für Wittmann hatte dieses Thema paradigmatische Bedeutung für die Ungenauigkeit und Einseitigkeit, mit der die empirischen Resultate der europäischen Aufklärung und ihre Konflikte mit den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen gerade der unteren Schichten bis dahin behandelt wurden. Auch die Frage nach den unterschiedlichen Graden von Lesefähigkeit bei der ländlichen Bevölkerung, so musste Wittmann konstatieren, sei bislang noch nicht gestellt worden. Seine an solche Feststellungen geknüpften Überlegungen, die den historischen Forschungen ein ziemlich schlechtes Zeugnis ausstellen, ist es mitzuverdanken, dass inzwischen tausende von Schriften identifiziert und beschrieben werden konnten, die sich in unterschiedlichsten Formen an neue Leser wandten und über die Volksaufklärung debattierten. Dass es bei ihren Autoren nicht ausschließlich das von Wittmann in einer etwas einseitigen Blütenlese nachgezeichnete, durchaus vorhandene Bestreben gab, den Bauern allein zur besseren Wahrnehmung seiner Pflichten zu erziehen, sondern auch menschenfreundliche emanzipative Tendenzen zur Entfaltung kamen, die dem Prinzip eines aufklärerischen Universalismus verbunden waren, konnte inzwischen in einer recht breiten Forschungsliteratur an zahlreichen praktischen Beispielen gezeigt werden.
Wittmanns Studien dokumentieren ein halbes Jahrhundert buchhistorischer Forschung. Manche der von ihm umrissenen und diskutierten Sachverhalte sind bis heute noch nicht hinreichend geklärt, andere sind inzwischen zu einem wichtigen Gegenstand der Forschung geworden. Die hier versammelten Studien stellen nicht einfach einen zweiten Aufguss von Bekanntem dar, sondern sie haben bis heute das Potential, neue Forschungen anzuregen, und machen zudem darauf aufmerksam, wie viel auf dem Feld der historischen Buch- und Leserforschung noch zu tun bleibt.
Auch der zweite Band in der neuen Reihe ist ein Dokument historischer buchgeschichtlicher Forschung, macht er doch eine 1987 verfasste Studie erstmals öffentlich, deren Erkenntnisse bis heute nicht ersetzt sind oder überholt wären. Mark Lehmstedts Thema ist die internationale literarische Kommunikation insbesondere zwischen Deutschland und England am Beispiel der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig unter ihrem Leiter Philipp Erasmus Reich, die Bedeutung von Übersetzungen für das historische literarische Leben und für die Konkurrenz der Verleger auf diesem Markt, endlich auch die Arbeitsbedingungen und soziale Situation der Übersetzer. Zu Recht kritisiert Lehmstedt, dass die damit verbundenen Erscheinungsformen eines Buchmarkts im Übergang zu einer modernen kapitalistischen Organisation fast vollständig unerforscht geblieben seien und das Übersetzungswesen in der Buchgeschichtsschreibung nahezu keine Berücksichtigung gefunden habe.
Lehmstedt zeigt zunächst, dass die Analyse der im Weidmannschen Verlag erschienenen Übersetzungen weitgehend verbindliche Aussagen zu einem historischen Übersetzungswesen mit einer außerordentlich stabilen und kontinuierlichen Entwicklung ermöglichte. Zwischen 1744 und 1787 erschienen bei dem Leipziger Verleger 326 Übersetzungen in 651 Bänden, 307 Übersetzungen erfolgten aus dem Französischen und Englischen, nahezu zwei Drittel davon waren Übersetzungen aus der englischen Sprache; mehr als die Hälfte aller Übersetzungen waren der Belletristik gewidmet, nahezu ausschließlich Romane und Erzählungen in Briefform. Auch erschien eine große Anzahl von Schriften, für die Lehmstedt grundlegende Impulse für die Entwicklung der Aufklärung in Deutschland in Anspruch nimmt. Besonders bemerkenswert ist das Tempo, mit dem die Übersetzungen auf den Markt kamen, selten habe der Abstand zum Original mehr als ein Jahr betragen. Das geistige Programm des Verlags sei durch das von Horaz entnommene Prinzip von prodesse et delectare bestimmt gewesen, entsprechend seien die Hauptadressaten nicht mehr Gelehrte gewesen, sondern ein breiteres Publikum oberer und mittlerer bürgerlicher Schichten. Ein erheblicher Teil der Belletristik habe sich an Leserinnen ausgerichtet, auffällig seien auch die zahlreichen Autorinnen.
In zwei weiteren Kapiteln steht die internationale literarische Kommunikation und die Konkurrenz der Verleger im Übersetzungsgeschäft im Mittelpunkt. Geht es in ersterem vorrangig um Frankreich und die französische Buchproduktion in Holland sowie um England, so bieten die Auseinandersetzung zwischen den Verlegern zahlreiche interessante Details zum Kampf um die Erstübersetzung sowie zu Fragen des Nachdrucks und Urheberechts.
Besonders bemerkenswert ist sodann jenes Kapitel, das sich mit dem Autor in der „Uebersetzungsmanufactur“, mit der Auswahl, der Motivation, dem Honorar und den Arbeitsbedingungen der Übersetzer befasst. Lehmstedt spricht von „gelehrten Tagelöhnern“, die allenthalben mit Verachtung bedacht worden seien, er kritisiert eine buchhistorische Forschung, die gänzlich die sozialen Bedingungen ignoriere, unter denen Übersetzungen entstanden seien, und ihr Interesse ausschließlich auf sprachliche, ästhetische und übersetzungstheoretische Aspekte richte. Der erstaunlich anachronistisch anmutende Begriff des „proletarischen Scribenten“, mit dem das Kapitel überschrieben ist, wurde von dem Übersetzer Johann Gottfried Gellius geprägt. In seinen 1762 im Selbstverlag erschienenen „Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter“ hatte sich Gellius gegen eine Kritik Moses Mendelssohns an seiner Übersetzung von Rousseaus „Julie ou La Nouvelle Heloise“ gewehrt, die 1761 bei Weidmann erschienen war. Seine Rechtfertigungen sind ein wichtiges, höchst lesenswertes buchgeschichtliches Dokument, beschreiben sie doch nicht nur die von großem Zeitdruck und niedriger Entlohnung geprägten Bedingungen, unter denen die Übersetzungen entstanden, sondern auch die negativen Auswirkungen eines modernen Buchmarktes, der von den materiellen Interessen des Verlegers ebenso sehr geprägt war, wie von dem Informations- und Unterhaltungsbedürfnis eines anonymen Publikums. Mendelssohn reagierte umgehend auf die Streitschrift gegen seine als ungerecht empfundene Kritik und führte aus, nur die Furcht vor der Kritik könne Verleger davon abhalten, noch schlechtere Übersetzer zu beschäftigen, allein dem Literaturkritiker habe Gellius den Vorzug zu verdanken, den ihm der Verleger vor noch „elendern Schmierern“ gegeben habe. Er sei, so Mendelssohn, allein deshalb in seiner Kritik so streng gewesen, „damit Ihnen der Verleger künftig mehr Zeit lassen möge, und damit schlechtere Uebersetzer ganz und gar abgeschreckt werden, sich an ein schweres Werk zu wagen“ (S. 8).
Es sind zwei schwergewichtige Bände, mit denen hier eine Buchreihe eröffnet wird, die Wert auf eine quellenorientierte Forschung legt und so unsere Kenntnisse über das historische Buchwesen, das sich entwickelnde literarische Leben, die seit dem 18. Jahrhundert neue Stellung des Verlegers in der literarischen Produktion und nicht zuletzt über ein sich im Laufe der historischen Entwicklung veränderndes und erweiterndes Lesepublikum bereichern will.
Anmerkung:
1 Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2019.