Zwei Annahmen über Wladimir Putin im Westen kamen dem Autokraten besonders entgegen: die Einschätzung, er sei eigentlich ein guter Mensch, nur leicht beleidigt, und der Gedanke, dass alles nur noch schlimmer werde, wenn Putin einmal weg sei. Michael Thumann, langjähriger Korrespondent der ZEIT in Moskau, skizziert in seiner Analyse des Putinismus nicht nur den Aufstieg und das Weltbild des russischen Präsidenten, sondern auch die vielen Irrtümer über die Entwicklung des zeitgenössischen Russlands in Westeuropa. Das gut lesbare Buch ist keine akademische Analyse, sondern eine gelungene Verflechtung von persönlichen Eindrücken aus Thumanns journalistischer Arbeit mit einer Geschichte des postsowjetischen Russlands sowie einigen historischen Fluchtlinien des russisch/sowjetischen Imperialismus und der deutsch-russischen Beziehungen.
Das Fachpublikum dürfte mit den historischen Abrissen vertraut sein. Neue Einsichten bieten aber die Passagen zum Ukrainekrieg und dessen Auswirkungen auf das Leben in Moskau aus der Nahperspektive. Die zentrale These ist, dass Russland sich vorrangig aus sich selbst heraus entwickele. Diese wird auch in der zeithistorischen Forschung weitgehend geteilt, sollte jedoch um die Erläuterung ergänzt werden, dass Bezugsnahmen auf die Außenwelt, besonders auf den Westen, immer enorm wichtig für die russische Elite waren – nur welche politischen Entscheidungen daraus folgten, war immer eine interne Angelegenheit. Die populäre Vorstellung, dass der Westen an allem, was in Russland passiert, Schuld (Stichwort: Nato-Einkreisung) oder Verdienst (die Vorstellung, ein Triumph westlicher Werte habe den Kalten Krieg beendet) trägt, ist meist eher eine Projektion eigener Befindlichkeiten und politischer Debatten.
Die beschönigende oder relativierende Wahrnehmung Russlands zeigt Thumann anschaulich am Beispiel von Leserzuschriften und von Zitaten westlicher Politiker. Solche Zerrbilder sind weniger ein Problem der Osteuropaforschung denn der Politik und einer breiteren Öffentlichkeit, was die gesellschaftliche Relevanz einer solchen auch für weite Leserkreise zugängliche Populärwissenschaft unterstreicht. Der Blick auf die Russlandsektionen deutscher Buchläden zeigt aber immerhin, dass solche wohlinformierten Ansätze die Scholl-Latours („Russland im Zangengriff“), Krone-Schmalzs („Wie Russland dämonisiert wird“) und Todenhöfers („systematische Einkreisung Russlands“) doch deutlich an den Rand – oder in die unteren Regale – gedrängt haben.1
Die Genese des Putinismus erzählt Thumann vorwiegend als ein Wiederaufgreifen russisch-sowjetischer Kontinuitäten und verwirft dabei einfache Vergleiche mit dem westeuropäischen Faschismus. Die Tendenz ähnlicher Bücher von Journalist:innen, wie etwa Catherine Beltons auch ins Deutsche übersetztes „Putin’s People", war zuletzt, nahezulegen, dass die Entwicklung des Putinismus schon in Geheimdienstkreisen der späten Sowjetunion angelegt gewesen sei. Thumann verweist dagegen mit soliderer Quellenbasis darauf, dass Putin auch als Konstrukt eines sich verändernden und radikalisierenden Systems zu sehen ist, das in den intellektuellen Traditionen des russischen Nationalismus steht, aber auch mit Spindoktoren, Maßschneidern und Schönheitschirurgen aus einem grauen unsicheren Mann einen vermeintlich starken Führer gemacht hat.
Auch über die Geheimdienste hinaus sind weite Teile der Bevölkerung und einer nur oberflächlich verwestlichen russischen Elite in sowjetischen Traditionen verfangen. Russlands Straflagersystem wird im Buch mit schauerlichen Details beschrieben. Die brutale Kriegsführung in Tschetschenien war nicht nur prägend für weitere Einsätze der russischen Armee im Ausland. Die Art der Befriedung der russländischen Peripherie wirkte auch zurück aufs Zentrum: das ‚Modell Schurkenstaat‘ wurde für ganz Russland übernommen. Gezielt wurde das russische Fernsehen zur Propagandamaschine umgebaut, und ein mythologisches Geschichtsbild staatlich verordnet. Viele russische Journalist:innen und Akademiker:innen waren bereit, diese ideologische Gleichschaltung mitzutragen, sei es aus Überzeugung oder Rückgratlosigkeit. Dies wirkte letztlich auch auf die politische Elite zurück, bis sie den Unfug, den sie in die Welt setzten, auch selbst glaubten.
Thumann erklärt den Putinismus als eine Revanche für die Kränkungen der 1990er-Jahre, des Zusammenbruchs der Sowjetimperiums und der Relegierung zur Regionalmacht. Dieses Trauma und das resultierende Selbstmitleid der politischen Führung waren freilich auch eine retrospektive Konstruktion der 2000er-Jahre. Eine politisch gelenkte und instrumentalisierte Erinnerung an die 1990er-Jahre war und ist ein Machtinstrument. Statt Chaos und wirtschaftliche Probleme als die aufgetürmten Altlasten einer abgewirtschafteten dysfunktionalen Planwirtschaft zu sehen, wurden sie der Demokratie und dem Westen in die Schuhe geschoben, um die autoritären Tendenzen des Regimes zu rechtfertigen.
Vielleicht war es also nicht so sehr ein tatsächliches Trauma der 1990er-Jahre, das die Führung zu chronisch beleidigten Imperialisten werden ließ. Es war schließlich gerade mit dem Aufschwung der frühen Putin-Ära zu verdanken – weniger der eigenen Politik als dem hohem Ölpreis und den Reformen der 1990er-Jahre – sowie einer wahrgenommenen ökonomischen und geopolitischen Schwäche des Westens, dass wieder die Anmaßung wuchs, als Weltgroßmacht anerkannt zu werden. Das wurde der russischen Elite verweigert; stattdessen erlebte sie demokratische Aufbrüche in der eigenen beanspruchten Einflusssphäre und liberalen Widerstand im eigenen Land.
Während Thumann die innere Entwicklung Russlands betont, blickt er durchaus auch auf globale Zusammenhänge. Den Putinimus sieht er als eine lokale Manifestation eines weltweiten “neuen Nationalismus“ (S. 93), der bekanntermaßen auch unter anderem in der Türkei, China, Indien und zeitweise den westlichen Demokratien an die Macht kam. Putins wahnhaftes Abdriften diene als Warnung, so Thumann: „Es gibt keinen sanften Nationalismus.“3 Man könnte allerdings auch argumentieren, dass es gerade an einem solchen ‚sanften‘ oder ‚zivilen‘ Nationalismus in Russland fehlt. Ein zivilisierter Nationalstaat, der die imperialen Traditionen aufgibt, wäre ein durchaus wünschenswertes Szenario: ein Russland, das sich nach außen an klar definierte nationale Grenzen in einer liberalen Weltordnung hält; und in dem sich russische Bürger mit dem russischen Nationalstaat und nationaler Politik aktiv identifizieren, statt im apolitischen Untertanengeist alles abzusegnen, was die Führung tut.
Ein solcher Wandel kann in Russland weder von außen noch von unten kommen; dafür fehlt trotz einer mutigen Minderheit die kritische Masse (die noch dazu zu einem Großteil bereits aus dem Land geflohen ist). Ein Wandel muss wohl von der russischen politischen Elite selbst eingeleitet werden. Noch hält sie es aber, wie Thumann in seiner eindrücklichen Studie zeigt, für ein erstrebenswertes Ziel, dass die Welt Angst hat vor Russland. Vielleicht ist ein Schimmer der Hoffnung, dass imperialer Geltungs- und Expansionsdrang sowie mythologisierende Geschichtsbilder nicht nur spezifisch russisch-sowjetische Erbe sind, sondern bis vor nicht allzu langer Zeit auch in den meisten westlichen Staaten verbreitet waren. Zur Einsicht, dass dies eine zu überwindende zivilisatorische Rückständigkeit darstellt, hat in der Geschichte oft eine militärische Niederlage beigetragen.
Anmerkungen:
1https://www.teamtodenhoefer.de/post/ukraine-europa-und-die-ganze-welt (09.05.2023); Gabriele Krone-Schmalz, Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist, München 2018; Peter Scholl-Latour, Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam, Berlin 2007.
[2] Catherine Belton, Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste, Hamburg 2022.
3 Michael Thumann, Einen sanften Nationalismus gibt es nicht, in: ZEIT, 04.10.2020, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-10/nationalismus-krieg-rechtspopulismus-donald-trump-wladimir-putin-tayyib-erdogan-friedensnobelpreis (09.05.2023).