Cover
Titel
Living Martyrs in Late Antiquity and Beyond. Surviving Martyrdom


Autor(en)
Fruchtman, Diane Shane
Reihe
Routledge Studies in the Early Christian World
Erschienen
Abingdon 2023: Routledge
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
£ 130.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Witetschek, Katholisch-theologische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München

Der Titel des hier zu besprechenden Buches scheint ein Oxymoron zu sein: Im verbreiteten Sprachgebrauch sind Märtyrer per definitionem tot, näherhin um des Glaubens willen gewaltsam ums Leben gebracht worden. Zwar kam es in der römischen Kaiserzeit durchaus vor, dass Christinnen und Christen staatliche Verfolgungsmaßnahmen überlebten, ohne ihr Bekenntnis kompromittiert zu haben, doch diese bezeichnete man weithin als „Bekenner“ (confessores).

Diese Differenzierung gehört zum Standardwissen der Alten Kirchengeschichte. Dass es sich dabei nicht um eine allgemeine Regel handelt, zeigt die hier zu besprechende Arbeit von Diane Shane Fruchtman, Assistant Professor an der Rutgers University, New Jersey. Mit ihrer Arbeit liegt sie in zwei Trends der letzten zwei Jahrzehnte: In den Altertumswissenschaften ist seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ein verstärktes Interesse an der Spätantike festzustellen, und Theologie(n) und Religionswissenschaft sind seit 2001 verstärkt herausgefordert, den Begriff des Martyriums zu reflektieren. Fruchtman hat sich nun für ihre Arbeit einen Sonderfall ausgesucht: Fälle, in denen im christlichen Sprachgebrauch lebende Menschen als Märtyrer bezeichnet werden.

Es handelt sich, um genau zu sein, um drei Fälle: Der aus Spanien stammende Dichter und Theologe Prudentius (348–nach 404) feierte in seiner Gedichtsammlung „Peristephanon“ auch Christinnen und Christen, die in Verfolgungszeiten Misshandlungen überlebt hatten; mit ihm befassen sich die Kapitel 1 und 2 (S. 23–93). Der ursprünglich aus Gallien stammende, aber in Süditalien tätige Paulinus von Nola (um 355–431) stellte, ebenfalls in poetischer Form, seinem Publikum die Haltungen der Märtyrer (namentlich des in Nola verehrten Felix) als nachahmenswert dar und transponierte so das Martyrium (im allgemeinen Sinn des griechischen Wortes μαρτύριον – Zeugnis) in die Lebenswirklichkeit spätantiker Christinnen und Christen. Die Kapitel 3 und 4 sind ihm gewidmet (S. 94–160). Der nordafrikanische Bischof Augustinus (354–430) hat sich schließlich in mehreren Predigten bemüht, die mit Märtyrern verbundenen Ideale in der Lebenswelt spätantiker Christinnen und Christen – lange nach den großen Verfolgungen – relevant zu halten bzw. neu relevant zu machen. Ein bemerkenswertes Beispiel sind die Märtyrer des Krankenbetts („sickbed martyrs“), die Augustinus in mehreren Predigten als Vorbilder darstellt. Es handelt sich um Christinnen und Christen, die es ablehnen, bei schwerer Krankheit magische Hilfsmittel (Amulette etc.) zur Linderung oder Heilung in Anspruch zu nehmen.1 Davon handeln die Kapitel 5 und 6 (S. 161–248).

Fruchtmans Studie behandelt ein interessantes und bislang wenig bearbeitetes Feld in der Geschichte des (spät-)antiken Christentums, nämlich die inhaltliche Füllung des Begriffs „Märtyrer“. Sie weist auf eine gar nicht so marginale Strömung hin, für die das als „Martyrium“ bezeichnete Glaubenszeugnis nicht notwendig an den gewaltsamen Tod gekoppelt war und die umso mehr Aufmerksamkeit auf die religiösen und ethischen Haltungen in diesem Lebenszeugnis für den christlichen Glauben legte. Zugleich zeigt sie, welchen rhetorischen Aufwand die christlichen Dichter und Prediger trieben, um die – mehr oder weniger zufällig – Überlebenden (Prudentius und Paulinus) oder die treu an den Standards christlicher Glaubenspraxis und Ethik festhaltenden Christinnen und Christen (Augustinus) als veritable „Märtyrer“ vorzustellen.

Der Titel des Buches und die Ausführungen in der Einleitung (S. 1–22) und im Schlussteil (S. 249–260) umreißen eine historische bzw. religionsgeschichtliche Fragestellung. Die Durchführung in den Kapiteln 1–6 ist allerdings durchweg philologisch. Fruchtman analysiert eingehend und kenntnisreich die Rhetorik der drei christlichen Autoren Prudentius, Paulinus und Augustinus (freilich ohne sie gegeneinander zu profilieren). Dabei beschränkt sie sich auf diejenigen Passagen, in denen lebende Personen als Märtyrer bezeichnet werden. Ihr Augenmerk richtet sich besonders auf die Anschaulichkeit der Darstellung, also die ekphrastischen Elemente in den einschlägigen Werken, mit denen dem Publikum jeweils ein überzeugendes Bild vor das geistige Auge gestellt wird. Damit liegt eine ordentliche philologische Arbeit zu einem ungewöhnlichen Thema in den Werken dreier lateinischer Kirchenväter vor. Wer allerdings aufgrund des Titels eine historische bzw. religionsgeschichtliche Darstellung erwartet hat, wird enttäuscht.

Konkret: Im Rahmen des von ihr gewählten philologischen Ansatzes ist es sinnvoll, dass Fruchtman sich auf das Feld der lateinischen Patristik beschränkt. Nicht zuletzt ist bei lateinischen Autoren einigermaßen klar, dass das aus dem Griechischen übernommene Fremdwort martyrium im christlichen Sprachgebrauch speziell das Glaubenszeugnis (in der Regel durch gewaltsamen Tod) bezeichnet, nicht unspezifisch irgendein Zeugnis (griechisch: μαρτύριον). Durch die Wahl der drei Autoren (Prudentius aus Spanien, Paulinus aus Gallien / Italien, Augustinus aus Nordafrika) gewinnt sie zudem einen einigermaßen repräsentativen Überblick über die lateinischsprachige Christenheit im Westen des spätantiken römischen Reiches. Bei der Lektüre drängt sich aber mit Nachdruck die Frage auf, ob ähnliche Nuancierungen im Verständnis von Martyrium und Märtyrern auch im griechischsprachigen Osten greifbar sind, vielleicht auch im syrischen und vor allem im koptischen Bereich. Um diese Frage zu beantworten, wäre allerdings eine umfassende kirchen- bzw. religionsgeschichtliche Untersuchung vonnöten.

Am Schluss ihrer Untersuchung fordert Fruchtman zu Recht, dass die „Search Terms“ der historischen Forschung zum Verständnis des Martyriums in der Spätantike neu justiert werden müssen. Diese Neujustierung ist vor allem geboten angesichts der zunehmenden Präsenz von Märtyrer- oder Opfer-Mythologie in populistischer politischer Rhetorik der Gegenwart.2 Ihre eigene Arbeit stellt sich damit als philologische Vorarbeit für eine umfassende religionsgeschichtliche Bearbeitung des Phänomens „Living Martyrs in Late Antiquity and Beyond“ dar.

Anmerkungen:
1 Für eine kompaktere Darstellung vgl. Diane Fruchtman, The Passio of the Sickbed Martyr and Augustine’s Definition of Martyrdom, in: Markus Vinzent (Hrsg.), Papers Presented at the Eighteenth International Conference on Patristic Studies Held in Oxford 2019, Bd. 14 (Studia Patristica 117), Löwen 2021, S. 49–60.
2 S. 257–258; ähnlich auch schon Candida Moss, The Myth of Persecution. How Early Christians Invented a Story of Martyrdom. New York 2013, S. 247–260.

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