Im Zentrum von H. Yumi Kims „Madness in the Family” (2022) steht der Zusammenhang von Gender und „madness“ – ein Begriff, den sie als generischen Container verwendet für alle Arten von „mental and emotional conditions considered abnormal, strange, or otherwise inexplicable in their historical contexts” (S. 24). Damit grenzt Kim „madness“ von dem heute eher (als Sammelbegriff) gebräuchlichen Terminus „mental illness” ab, den sie in eben jenem psychiatrischen Kontext verortet, dessen Anfänge im Buch thematisiert werden. Ihr Fokus liegt vor allem auf dem Japan der Meiji-Zeit (1868–1912).
Ein Ziel des Buches ist es, Care-Arbeit, die von Frauen unvergütet innerhalb der Familie (aber auch in psychiatrischen Institutionen) geleistet wurde und wird, sichtbar zu machen und zu untersuchen. Schließlich ist gerade diese Verortung innerhalb der Familie, das heißt dem „Privaten“, ein Grund dafür, warum Care-Arbeit (auch für die Geschichts- und andere Wissenschaften) lange unsichtbar geblieben ist. Spannend und neu ist der Fokus, den Kim dabei innerhalb des Kontextes der Care-Arbeit setzt. Es ist nicht die Care für Kinder, für ältere Familienmitglieder und/oder solche mit physisch-gesundheitlichen Einschränkungen, nicht die Hausarbeit und die Reproduktion der (ehe-)männlichen Arbeitskraft, sondern es ist „the ongoing centrality of family in the care [and diagnostics, J.G.] of those considered mad” (S. 2), der Kims Interesse gilt. Diese zentrale Stellung der Familie im Umgang mit „madness“ wird dabei, so Kim, auch staatlicherseits genutzt und verfestigt, und selbst in psychiatrischen Institutionen reproduziert.
Ein weiteres Ziel ist es, das Verständnis von „madness“ als gegendert zu analysieren. Dies ist aus zweierlei Sicht interessant. Zum einen waren es in familiären Kontexten vor allem Frauen, die auffälliges Verhalten in ihrem Umfeld verstehen, in Worte fassen und damit umgehen mussten. Was aber, wenn sie selbst die Betroffenen sind? „When women themselves became mentally and emotionally disturbed, they often tended to their conditions alone, turning to self-medication or consulting health manuals, magazines, and home encyclopedias, or in consultation with other women in their family, who might accompany them to visits with doctors or other healers” (S. 12), so Kim.
Aber auch die Diskrepanz zwischen dem (männlich-dominierten) psychiatrisch-wissenschaftlichen Verständnis von psychischen Auffälligkeiten beziehungsweise Erkrankungen (das wiederum Unterschiede bei männlichen und weiblichen Betroffenen aufweist) und dem Verständnis/den Narrativen der Frauen selbst ist ausgesprochen interessant. So beschreibt Kim, dass in den männlich dominierten psychiatrischen, kriminologischen, aber auch medialen und Alltags-Diskursen psychische Auffälligkeiten bei Frauen primär auf ihre weibliche Physiologie, vor allem ihr Reproduktionssystem, zurückgeführt wurden.1 Die Krankheitsursachen von Männern hingegen wurden mit den Anforderungen in Zusammenhang gebracht, die im Kontext der Arbeitswelt und der Gesellschaft an sie gestellt werden (vgl. S. 17–23, Kapitel 3 & 4). Betroffene Frauen selbst verstünden und beschrieben ihre eigenen Erfahrungen aber eher mit einem Vokabular von sozialen Beziehungen, beispielsweise den Sorgen und Pflichten gegenüber der Familie und Gemeinschaft.
Drittens betrachtet Kim den Wandel im Verständnis und Umgang mit „madness“ in Japan während der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert im Kontext der Nationalstaatsbildung, die ihrerseits wiederum in globale Machtstrukturen eingebettet ist. So sollte die „rationale“, aus Europa stammende Wissenschaft der Psychiatrie den „abergläubischen“ Umgang mit als unnormal geltenden Verhalten auch deswegen ablösen, um das Bild von Japan als moderne, zivilisierte, das heißt „dem Westen“ ebenbürtige Nation zu festigen (vgl. S. 26–28, S. 34f.). Auch die Kontrolle über den Aufenthaltsort psychisch auffälliger Personen, das heißt ihr „Entfernen“ aus der Öffentlichkeit und damit Sichtbarkeit, könne teilweise in diesem Kontext (genauer: „[as] part of a larger project of so-called purification intended to impress foreign visitors” (S. 8)) betrachtet werden (vgl. auch S. 66).
Bei der Betrachtung von „madness“ im Kontext der Nationalstaatsbildung kommt Kim, viertens, zu einer Neubewertung des Einflusses der Psychiatrie in Meiji-Japan. So habe sich die Psychiatrie trotz ihrer Verwobenheit mit Eliten und Staat und trotz ihres Einflusses im öffentlichen Diskurs über Krankheit (und Therapie), Sexualität und Verbrechen im Alltag nicht als hegemonial im Umgang mit psychischen Erkrankungen durchsetzen können. Dies führt Kim unter anderem auf die eingeschränkte und oft mit hohen finanziellen Ausgaben verbundene Zugänglichkeit zu psychiatrischen Institutionen im frühen 20. Jahrhundert zurück. So sei die Pflege im familiären Kontext, oder zumindest in einer Art „Wechselmodell“ zwischen psychiatrischen Institutionen und der Familie, weiterhin zentral gewesen. Die mit dieser Care betrauten Familienmitglieder wiederum haben einen pragmatischen Umgang mit den verschiedenen „Therapieangeboten“ zu jener Zeit gepflegt: So gaben sich Laien, religiöse, sino-medizinische und psychiatrische „Therapeut:innen“ ohne größere Hierarchisierung solange die Klinke in die Hand, bis zufriedenstellende Ergebnisse in Bezug auf die erkrankte Person erzielt wurden (vgl. S. 31–34).
Kim entwickelt ihre Argumentation in vier Kapiteln (im Epilog schließlich gibt sie einen Ausblick auf die Nachkriegszeit). Bereits aus den Kapitelüberschriften wird ersichtlich, dass in deren Zentrum je ein Raum beziehungsweise eine gesellschaftliche Sphäre (verbunden mit den entsprechenden Institutionen; Kim spricht von „sites of encounter“ (S. 21–25)), sowie eine „Ausprägung“ von „madness“ hinsichtlich Erklärungs- und Therapieansätzen steht: In Kapitel 1 betrachtet Kim die Besessenheit durch einen Fuchsgeist2 in ländlichen Gemeinschaften der Vor- und frühen Moderne mit ihren entsprechenden folk-lore-istischen Therapien. In Kapitel 2 geht es um sozial ungewolltes und (potentiell) gefährliches Verhalten, auf das in ländlichen Familien mit dem Einsperren der Individuen vor allem in Käfigen im Haus der Familie reagiert wurde. Kapitel 3 beschäftigt sich mit jenen Symptomen, die bei Frauen maßgeblich als „Hysterie“ diagnostiziert wurden, sowie mit der Kommodifizierung dieser Krankheit und möglicher Therapien im neu entstehenden medizinischen Markt. Kapitel 4 schließlich ist gewalttätigem Verhalten und Verbrechen durch Frauen sowie deren Bewertung und Einordnung in Gerichten und Fachdiskursen gewidmet, wobei auch hier wieder vor allem auf das Reproduktionssystem und den Zyklus der Frauen rekurriert wurde. Es handelt sich bei den genannten Nexus allerdings keineswegs um abgeschlossene Beziehungen (auch wenn sich dieses Missverständnis aufgrund der Struktur der Argumentation rasch einschleichen kann), wie Kim durch Vor- und Rückgriffe auf folgende und vorangegangene Kapitel zeigt.
"Madness in the Family" basiert – für ein geschichtliches Buch wenig überraschend – vor allem auf der Analyse von psychiatrischem/medizinischem, bürokratischem und juristischem Archivmaterial. Daraus ergeben sich zwei Einschränkungen, die Kim auch selbst anspricht, und die weniger ein Versäumnis des Buches sind, sondern eher als Grenze der Disziplin der Geschichtswissenschaft gesehen werden müssen. Zum einen die Beschränkung auf das, was tatsächlich niedergeschrieben wurde (und was daraus abgeleitet werden kann) (vgl. S. 24, S. 57f.), und zum anderen die Ungewissheit, ob bei dem verwendeten Material bestimmte Aspekte durch den/die Autor:in nicht erwähnt wurden und folglich auch in der Analyse fehlen (vgl. u.a. S. 112, S. 145).
Im Großen und Ganzen bietet "Madness in the Family" einen wunderbaren Einblick in und Überblick über die Entwicklung und den Wandel des Verständnisses von „madness“ in Japan – und zwar in der komplexen Verwobenheit mit Familie, Gender, dem (entstehenden) modernen Staat, sowie (neuen) Wissenschaften, Institutionen und Expert:innendiskursen – ein Geflecht, das Kim auch über ihren zeitlichen und thematischen Fokus hinaus kontextualisiert. Es handelt sich bei dem zentralen Zeitraum der Untersuchung (1868 bis 1930er-Jahre) um eine Zeit zahlreicher, turbulenter Veränderungen, die Leser:innen ohne Fachkenntnisse vermutlich kaum vertraut ist. Es stellt sich dennoch die Frage, ob diese Kontextualisierungen in ihrer naheliegenden Knappheit für Leser:innen ohne Vorkenntnisse hilfreich oder doch eher verwirrend sind. Auch führen sie hin und wieder dazu, dass der eigentliche Fokus vorübergehend aus dem Blickfeld gerät. Gewinnbringend ist sicherlich, sie als Einladung zum Weiterlesen und Weiterforschen zu begreifen (eine Einladung, die durch Kims sorgfältig gearbeitete und umfangreiche Literatur- und Quellenverweise unterstützt wird). Kims Buch schneidet viele Aspekte an und liefert diverse Anknüpfungspunkte für Forschungsprojekte verschiedenster Disziplinen sowie für transdisziplinäre Projekte.
Anmerkungen:
1 Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine neue, geschweige denn aus Europa „importierte“, Theorie, wie Kim deutlich macht (vgl. S. 19f., S. 90–97).
2 Kim verwendet im Englischen, das Japanische „tsuki“ wörtlich übersetzend, den Begriff „attachment” statt „possession”, um das „Anhaften“, das heißt einen Kontakt beziehungsweise eine Relationalität, zu betonen (vgl. S. 28f., S. 49–55). Im Deutschen könnte es daher hilfreich sein, sich das Wort „be-sessen“ im Sinne eines tatsächlichen Aufsitzens des Geistes auf der betroffenen Person vorzustellen.