Eine Studie, die sich die Erforschung der mittelalterlichen samischen Kultur unter postkolonialen Gesichtspunkten zum Ziel setzt, sieht sich unweigerlich mit dem Befund der völligen Schriftlosigkeit derselben konfrontiert. Gerade in einer Forschungsdisziplin, deren Impetus darin besteht, „die verlorenen […] Stimmen der Marginalisierten wiederzufinden“1, muss dem Umstand, dass das gesamte, hauptsächlich altnordische schriftliche Quellenmaterial von anderen kulturellen Akteuren als den Samen selbst verfasst wurde, mit methodologisch innovativen Herangehensweisen begegnet werden. Einen interdisziplinären Forschungsansatz, der archäologisches wie literarisches Quellenmaterial nutzbar macht, wendet Solveig Marie Wang in der Monographie „Decolonising Medieval Fennoscandia“ an, die 2023 in der Reihe „Religious Minorities in the North“ erschien. Die Studie basiert auf ihrer an der University of Aberdeen angefertigten Dissertation.
Klar kommuniziert Wang von Beginn an, dass sie ihre Arbeit als Beitrag zu einem gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs begreift. Konkret wird das Erstarken politisch rechtsextremer Anschauungen („Far Right views“), die sich das historische Zerrbild eines weißen Mittelalters zunutze machten, als Triebfeder hinter der Studie benannt (S. 1–2, 20). Damit verbunden ist ein Appell an die akademische Gemeinschaft, die – sonderlich skandinavistische – Mediävistik müsse sich einer verfälschenden Vereinnahmung ihres Quellenmaterials widersetzen, wenn sie als Forschungsdisziplin relevant und nützlich („relevant and valuable“) bleiben wolle (S. 20, 112). Vor diesem Hintergrund stellt die vorliegende Monographie die vielfältigen Kontakte, Verflechtungen und Überschneidungen nordischer und samischer kultureller Gruppen im mittelalterlichen Fennoskandinavien in den Fokus. In sieben Kapiteln treten die Samen dabei als „Insider“ jener nordischen Gesellschaft hervor, der die meisten Textquellen entstammen (S. 24). Der Betrachtungszeitraum der Studie erstreckt sich etwa von 800 bis 1500 n. Chr. Die von Wang um 1100 angesetzte Zäsur zwischen frühem und spätem Mittelalter korrespondiert grob mit einem mengenmäßigen Überwiegen des archäologischen beziehungsweise schriftlichen Quellenmaterials vor respektive nach diesem Zeitpunkt (S. 6–7).
Der postkoloniale Zugriff der Untersuchung bezieht sich nicht zuletzt auf eine entsprechende Lesart des archäologischen Quellenmaterials. In praxi schlägt sich dies vor allem darin nieder, dass einfache, dichotome Zuschreibungen von Funden als entweder samisch oder nordisch hinterfragt und stattdessen Räume für die Interpretation bestimmter Funde als Zeugnisse kulturell fluider Ausdrucksformen eröffnet werden. Diese archäologischen Befunde sollen eine Lesart der Schriftquellen legitimieren, welche die in den Texten auftretenden Samen nicht nur als narrative Mittel, beispielsweise als das personifizierte Andere, begreift, sondern vielmehr die Texte als Spiegel realer Interaktionen versteht (S. 8, 24, 33). In der Tat liegt die Stärke von Wangs Studie gerade in jenen Passagen, in denen ein großer Fundus verschiedener Quellen zusammengetragen wird, um ein komplexes Bild des mittelalterlichen Fennoskandinavien und der vielfältigen Interaktionen in diesem Raum zu zeichnen. Verglichen damit sind die Interpretationen einzelner Schriftquellen nicht immer in gleichem Maße einleuchtend. Beispielsweise kann der von Wang aus einem breiten Quellenmaterial entwickelte Befund, dass die altnordischen Schriftquellen christlicher Zeit eine negative Bewertung vor allem magisch-heidnischer Elemente vornehmen, und dass folglich auch bei der Darstellung samischer Zauberer deren magische Tätigkeit mehr zu ihrer Abwertung beitrage als die kulturelle Zugehörigkeit per se, durchaus überzeugen. Der Versuch, dieses Resultat aber auf den einzelnen Sagatext herunterzubrechen, indem beispielsweise die literarische Figur der samischen Zauberin Snæfríðr in eine Samin und eine Zauberin gleichsam aufgespalten wird, wobei für die dezidiert negative Beurteilung der Figur in verschiedenen Textquellen nur ihre heidnische Zauberei zentral sei (S. 82ff., 179–180), verfügt demgegenüber nicht über dieselbe Tragkraft. Die norrönen Texte unterscheiden sich in ihren impliziten Wertungen kultureller Aspekte, aber auch historisch gedachter Personen ganz erheblich.2
Im Ablauf der Untersuchung folgt auf die Einführung zunächst in Kapitel zwei eine grob chronologisch geordnete Übersicht der vormodernen Schriftquellen, in denen Samen beschrieben werden. Anschaulich wird hier der diachrone Prozess der Genese gewisser motivisch mit den Samen verbundener Züge, aber auch das Maß an Variabilität, das die Darstellungen jederzeit prägt. Stellenweise hätte man sich allerdings zu den Quellen mehr einordnende Kommentare gewünscht. Wenn beispielsweise Wang eigens feststellt, dass samische Figuren in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (verfasst zwischen 1180 und 1208) überwiegend in der fernen Vergangenheit auftreten (S. 40), wäre eine Erörterung der Frage, welche Implikationen dies im Zusammenhang von Saxos höchst elaboriertem Geschichtsbild hat, lohnend gewesen.3
Aus den vorgestellten Schriftquellen entwickelt Wang im dritten Kapitel ein „Saami Motif-Cluster“, also ein Cluster aus verschiedenen Elementen, die mit samischen Figuren wiederholt verbunden werden. Benannt und untersucht werden in diesem Zusammenhang die Aspekte von Zauberei, Winter und Skifahren, Jagd und Bogenschießen, Fischerei und Bootsbau sowie bestimmte Arten der Behausung. Abgesehen davon, die mit den Samen in den Schriftquellen verbundenen Motive zu illustrieren, soll das „Saami Motif-Cluster“ im weiteren Verlauf der Studie auch dazu dienen, im Quellenmaterial nicht als Samen bezeichnete Figuren, die aber doch samische Züge tragen und somit möglicherweise als Personen mit fluider kultureller Zugehörigkeit zu lesen seien, zu identifizieren. Tatsächlich wird das Cluster in der weiteren Untersuchung mit Bedacht verwendet; wo es zur Identifikation von samisch gezeichneten Figuren herangezogen wird, sind die Ergebnisse überzeugend.
Kapitel vier gehört zu den einsichtsreichsten Abschnitten der Untersuchung. Mit großer Umsicht wird die räumliche Dimension der Lebensumgebung der Samen im nördlichen Fennoskandinavien in den Blick genommen und ein differenziertes Bild ihrer Interaktionsräume sowohl mit nordischen Gruppen als auch mit anderen, im heutigen Finnland und Russland verorteten Völkerschaften gezeichnet. Spannend ist die These, dass der altnordische Terminus Finnmǫrk einen Raum mit einer wesentlich größeren Südausdehnung bezeichnete als vielfach angenommen oder auch in einem weiteren Sinne für mit den Samen assoziierte Gebiete verwendet werden konnte (S. 127ff.). Sehr der Übersichtlichkeit dieses Kapitels dienen außerdem kartographische Abbildungen, in denen die altnordischen Raumbezeichnungen eingetragen sind (S. 120, 125). Mit diesem Abschnitt thematisch verbunden ist das fünfte Kapitel zum samischen Handel, das die aktive Rolle der Samen beim Unterhalten eines umfassenden Netzes wirtschaftlicher Interaktionen mit verschiedenen Partnern auch unter sich wandelnden geopolitischen Gemengelagen nachzeichnet.
Das sechste Kapitel, das verschiedene Arten persönlicher Beziehungen zwischen Samen und Nordleuten behandelt, bezieht in höherem Maße als die vorigen Kapitel archäologisches Quellenmaterial in die Argumentation ein, das laut der Autorin vielfach kulturell hybrid gezeichnet sei. Unter Abgleich dieses Befundes mit in den literarischen Quellen beschriebenen samisch-nordischen Nahverhältnissen wird insbesondere die Existenz von kulturell fluiden Milieus im nordeuropäischen Mittelalter betont und die – konkret allerdings schwer belegbare – These aufgestellt, Teile dieser Milieus hätten mutmaßlich im Zuge der Christianisierung Skandinaviens ihre samische Zugehörigkeit betont, um eine vorchristliche Lebensweise beizubehalten (S. 206–207). Die intensive Relatierung von archäologischem und textuellem Material findet auch im abschließenden siebenten Kapitel zur samischen Präsenz in Südskandinavien statt, im Zuge dessen auch das „Saami Motif-Cluster“ sinnfällig angewendet wird. Luzide nimmt sich die Argumentation für eine Präsenz samischer Bevölkerungsteile in bedeutenden Teilen des heutigen Norwegen und Schweden aus; verschiedene Regionen werden dabei überzeugend als Räume kultureller Fluidität identifiziert.
Insgesamt leistet die rezensierte Studie damit einen produktiven Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Geschichte der Samen. Dies gilt auch, wenn nicht sämtliche Einzeldeutungen einleuchten und wenn mitunter augenscheinliche Inkonsistenzen in der quellenkritischen Bewertung des Materials zutage treten. Deutlich ist solches beispielsweise in Kapitel fünf, wo das Verhältnis zwischen der altnordischen Sagaliteratur (vor allem ab 1200) und dem Reisebericht des Norwegers Ottar betroffen ist, der im späten 9. Jahrhundert am Hofe von König Alfred dem Großen in England aufgezeichnet wurde. Hier wird im Zusammenhang mit den samischen Handlungsverbindungen zunächst argumentiert, die von den Samen zu entrichtende und in den Sagas als finnskattr bekannte Steuer sei erst im späten 12. Jahrhundert entstanden, wofür die von Ottar detailliert beschriebenen, von einer nicht näher spezifizierten Gruppe Samen zu leistenden Abgaben lediglich als eventuelle Vorläufer („possible archaic roots“) in Frage kämen (S. 165). Wenige Seiten später dagegen wird aus dem bloßen Umstand, dass Ottar dem König Walrosselfenbein mitbrachte, geschlossen, dass es sich bei seiner Fahrt wohl („reportedly“) um eine Handelsreise mit samischem Gut gehandelt habe, und mit Blick auf spätere Saga-Episoden eine jahrhundertelange Tradition samischen Englandhandels postuliert (S. 168ff.).
Bedingt durch die kumulative Argumentationsweise, wonach sich die verschiedenen archäologischen und literarischen Zeugnisse zu einem Gesamtbild ergänzen, sind derlei Makel jedoch kaum dazu angetan, die übergreifenden Ergebnisse der Untersuchung zu beschädigen. Die Studie zeichnet Fennoskandinavien erfolgreich als vielgestaltigen Raum, in dem die Samen aktiv an unterschiedlichen Interaktionen auf verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten teilhatten. Dabei ist die Untersuchung durchweg zugänglich geschrieben, so fassen Zwischenfazits nach jedem Teilkapitel die zentralen Thesen zusammen. Einen besonderen Vorzug bildet zudem der Umstand, dass durch die gesamte Monographie hindurch bestehende Forschungspositionen nicht nur dekonstruiert, sondern auch forschungsgeschichtlich eingeordnet werden, sodass die Studie auch unter diesem Gesichtspunkt eine lohnenswerte Lektüre darstellt.
Anmerkungen:
1 Cheryl McEwan, Postcolonialism, Decoloniality and Development (Routledge Perspectives on Development), 2. Aufl., Abingdon 2019 (1. Aufl. 2009), S. 35: „to recover the lost […] voices of the marginalized“. Übers. d. Verf.
2 Von Snæfríðr wird im altnordischen Quellenmaterial berichtet, sie habe den norwegischen König Haraldr hárfagri (um 852–933) verzaubert und geehelicht. Es ist hier zu erwähnen, dass die betreffende Passage vor der Christianisierung Skandinaviens spielt und dass zumindest eine Fassung dieser Episode einen Teil der norwegischen Königsgeschichte Heimskringla bildet, nach welcher Haraldr und das gesamte norwegische Königsgeschlecht vom paganen Gott Freyr abstammen.
3 Zentral hierzu nach wie vor Inge Skovgaard-Petersen, Da Tidernes Herre var nær. Studier i Saxos historiesyn, Den danske historiske Forening, Kopenhagen 1987.