Mit dem Anbruch des technologischen Zeitalters gingen die europäischen Vielvölkerreiche ein neues Verhältnis zu ihren multiethnischen Peripherien ein. Eisenbahnen und Telegraphen ließen den imperialen Raum zusammenschrumpfen und jeden Anspruch auf regionale Selbstverwaltung im Lichte der separatistischen Tendenzen erscheinen. Auch in Russland stand die ökonomische Fragmentierung der eigenen Herrschaftsgebiete in einem Widerspruch zu den Nationalisierungsbestrebungen der Eliten im Zentrum.
Am Beispiel des russländischen Zollwesens erkundet Boris Ganichev den Wandel traditioneller Raumvorstellungen und die daraus abgeleiteten Integrationsstrategien gegenüber den imperialen Peripherien. Seine im Frühjahr 2023 erschienene Promotionsschrift stellt diverse Situationen der ökonomischen Territorialität in den Mittelpunkt der Untersuchung. Der zentrale Kern der Betrachtung dreht sich dabei um folgende Leitfragen: Wie adressierte und manipulierte das russländische Finanzministerium die wirtschaftspolitische Heterogenität des Reiches? Welche Handlungszwänge bewirkten die Abwertung tradierter räumlicher Rezeptionsmuster und die Durchsetzung der Vorstellung vom homogenen Staat? Und schließlich, inwiefern stützten die Weichenstellungen in der russländischen Zollpolitik die Rekonzeptualisierung des Imperiums in einen Nationalstaat?
Das Russländische Reich war zu Beginn des 19. Jahrhunderts kein einheitliches Staatsgebilde. Ein Sammelsurium aus unterschiedlichen Außenzollsystemen rahmte seine asiatischen und europäischen Außengrenzen ein. Indem Boris Ganichev die historische Entwicklung dieser insularen Territorialitätsregime nachzeichnet, zieht er neue Rückschlüsse über die inhärenten Abhängigkeiten zwischen Fragen der Ökonomie, metageographischen Ordnungsmodellen und der Modernisierung des Zarenreiches. Als Hauptthese argumentiert er, die nationalen Töne in der imperialen Zollpolitik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seien auf den wachsenden Glauben an die Formbarkeit des geographischen Raums zurückzuführen. Der Siegeszug der Eisenbahn räumte mit den überkommenen Raumkonzepten auf und erzeugte Bilder von territorialer Verbundenheit. Gleichwohl stellten Prozesse des nation-building neue Anforderungen an eingeübte Herrschaftspraktiken. In deren Folge schieden die idiosynkratischen Ordnungsmodelle aus der Werkzeugkiste des imperialen Staatsapparates aus. Statt der Modernisierungstheorie das Wort zu reden, analysiert der Autor das ökonomische Gebaren der russischen Peripherien entlang der imperialen Dimension. Damit geht die Studie über das herkömmliche Rückständigkeitsparadigma hinaus und fragt stattdessen, warum bestimmte regionale Eigenarten sich historisch etablierten und behaupten konnten.
Überzeugend ordnet der Osteuropahistoriker sein Erkenntnisinteresse in die aktuelle Forschungslandschaft zur Geschichte politischer Raumkonzepte ein. In seinem fundierten Einführungskapitel nimmt er unter anderem Bezug auf Charles S. Maiers Opus magnum „Once Within Borders“, in dem Territorialität mitnichten als eine passive geographische Realität verstanden wird. Maier argumentierte, dass die territoriale Organisation von Gemeinwesen und die Art und Weise, wie Ressourcen im Raum verteilt sind, sich weitestgehend an der Entwicklung politischer Institutionen, Rechtssystemen sowie Formen des Wirtschaftens abbildeten.1 Epistemologisch schließt sich Ganichevs Zugang zum Imperium jedoch stark an Jane Burbanks und Mark von Hagens Betrachtungen über „die Wechselwirkung von kulturellen Wahrnehmungen, geographischem Wissen und administrativen Praktiken auf die Ausübung imperialer Herrschaft“2 an. Aus dieser Beobachtung leitet der Verfasser seine Analyse unterschiedlicher Situationen der ökonomischen Territorialität ab. Sein Ansatz unterscheidet sich jedoch dadurch, dass er vielmehr ein Nebeneinander und ein Ineinandergreifen von unterschiedlichen territorialen Ordnungsmodellen begreift.
Die gut lesbare Arbeit geht ihren Fragen in sechs regionalen Fallstudien nach, die jeweils ein Zollmodell behandeln. Das Buch beginnt mit einer Gesamtschau von entscheidenden Momenten in der Tarif- und Handelspolitik des Zarenreiches im 19. Jahrhundert. Russlands Finanzminister und Schlüsselfiguren aus der Industrie und Öffentlichkeit werden hier anschaulich und zutreffend in ihren parallel- und zuwiderlaufenden Weltanschauungen beschrieben. Im zweiten und dritten Kapitel spannt Ganichev den Bogen zu den zentralasiatischen Grenzen des Zarenreiches. Nach der niederschmetternden Niederlage im Krimkrieg 1856 und der außenpolitischen Atempause dehnte Russland sein Herrschaftsgebiet weit nach Osten aus. Die Frage, was das militärische Ausgreifen für die Neuaufstellung der asiatischen Zollgrenzen bedeutete, bildet den Gegenstand dieser Abschnitte. Der Historiker räumt Entscheidungsprozessen, Wissenstransfers sowie Akteuren, die sich mitunter zu radikalen Raumvisionen hinreißen ließen, viel Raum ein. Unbestritten bleibt, dass an der südasiatischen Steppenfrontier ökonomische und koloniale Dimensionen eng miteinander verzahnt waren. Das legt Ganichev am Beispiel von Auflösung der Orenburglinie dar und der damit einhergehenden Hoffnung Russlands, durch kommerzielle Kontakte nationale Interessen jenseits der eigenen Grenzen geltend zu machen, nicht zuletzt im Gewand einer mission civilisatrice.
Wie mentale Verschiebungen in der imperialen Raumwahrnehmung sukzessive die kommerzielle Geografie Russlands umkrempelten, beleuchtet Ganichev im Weiteren anhand einer gelungenen Mikrostudie zum Protektorat Bukhara. Die Vorzeichen dafür änderten sich bereits nach der Thronbesteigung Alexanders III. im Jahr 1881. Die neuen bürokratischen Eliten betrachteten den administrativen Pluralismus als überholtes Konstrukt. Der bisher praktizierte Zollföderalismus war kompromittiert, neue nationalstaatliche Ordnungskonstellationen erschienen hingegen als Gebot der Stunde. Der Verfasser argumentiert, dass solche infrastrukturellen Mammutprojekte wie die Transkaspische Eisenbahn im Zeichen dieser Trendwende standen, denn sie förderten die Vorstellungen von imperialer Einheit. Hier zeichnet Ganichev besonders ausführlich die Ambivalenzen dieser Entwicklung auf lokaler und imperialer Ebene nach.
Ein auffallendes Merkmal des Buches ist der häufige Perspektivenwechsel, der zuweilen für überraschende Einblicke sorgt. In der vierten Fallstudie nimmt der Verfasser territorialisierte porto franco-Regime, wie etwa im Hohen Norden und Fernen Osten, ins Visier. Diese ansonsten außerhalb des öffentlichen Interesses liegenden Regionen wurden in den 1860er-Jahren zum Aushängeschild des zollpolitischen Pragmatismus der Ära Alexanders II. An der Gegenüberstellung von zwei Projekten der wirtschaftsräumlichen Integration Sibiriens wie etwa der Erschließung der Nordseeroute und der Transsibirischen Eisenbahn kann Boris Ganichev zeigen, dass den sich verschärfenden Konfliktlinien zwischen lokalen und staatlichen Akteuren unterschiedliche Raumentwürfe zugrunde lagen: etwa Russland als integrierte Nationalökonomie, als Imperium mit Zivilisierungsmission oder als Drehscheibe globalökonomischen Warenverkehrs mit Freihandelszonen.
An der Zurichtung der idiosynkratischen Zollregime in nationalen, imperialen und transnationalen Kontexten lässt der Bonner Osteuropahistoriker uns die Bedeutung transimperialer Konkurrenz, der grenzüberschreitenden Wirtschaftseinflüsse und der transregionalen Verflechtungen anschaulich beobachten. Die Geschichte der Kaukasischen Statthalterschaft und des Transkaukasischen Transits, die im fünften und sechsten Kapitel thematisiert werden, fügt sich nahtlos in dieses Bild einer Welt ein, in der Momente realer und imaginierter Bedrohung des territorialen Status quo in den Peripherien und an den Außengrenzen des Zarenreiches in den national konnotierten Debatten um die Integration imperialer Wirtschaftsräume eine herausragende Rolle spielten. Die Auflösung des Namestnitschestvo im Kaukasus (1881) und des Handelstransits (1883) wird zuletzt im Zusammenhang mit den wandelnden machtpolitischen Konstellationen und neuen Visionen der territorialen Zusammengehörigkeit kontextualisiert.
Etwas aus dem Rahmen herausfallend schließt der Autor seine Betrachtungen mit der Analyse des finnischen Zollmodells ab. Dieses Beispiel kontrastierte die zentralasiatische Zollpolitik des Zarenreiches insofern, als es sich hier um ein Scharnier zwischen dem ökonomischen Kernland des Imperiums und den westeuropäischen Handelsgrenzen Russlands handelte. Während im infrastrukturell rückständigen Kaukasus die Idee der administrativen Durchdringung den Ausschlag für wirtschaftspolitische Freiräume gab, suchte man mit einer liberalen Zollpolitik in Finnland den Nationsbildungsprozessen entgegenzuwirken. An diesem Vergleich legt Ganichev nicht zuletzt die situative Logik der russländischen Zentralisierungspolitik offen.
Boris Ganichevs Monografie ist eine hochinteressante und originelle Intervention im vielfältigen Forschungsfeld der Neuen Imperienforschung. Mit den sechs untersuchten Fallstudien der ökonomischen Territorialität öffnet seine Arbeit ohne Frage eine neue Perspektive auf das Verhältnis zwischen Staat und Raum im Russland des 19. Jahrhunderts. Sie zeigt, dass dieses Verhältnis keineswegs eine Konstante, sondern historisch variabel war. Aus der Untersuchung des Zollwesens zieht der Autor zudem erfrischende Rückschlüsse über die Wandlungsprozesse in der Re-Imagination des imperialen Raums in einen Raum der Nationen. Die Einführung des modernen Zollwesens sei für russische Reichsverwalter ein Fluch und Segen zugleich gewesen. Insbesondere mit Blick auf die nichteuropäischen Teile des Zarenreiches gelingt es Ganichev zu zeigen, wie dort Visionen von Verräumlichung und Herrschaft eine beispiellose Konflikthaftigkeit erlangten. Leider liegt der Fokus der Studie vornehmlich auf russischen Quellen und Periodika, die die Perspektive des imperialen Zentrums widerspiegeln. Kritisch sei zudem angemerkt, dass der Top-down Blickwinkel von einer umfassenderen Darstellung der lediglich punktuell durchscheinenden Transfers zwischen den untersuchten Regionen profitiert hätte.
Diese Lücken schmälern jedoch die beachtliche und pionierhafte Leistung von Boris Ganichev in keiner Weise. Die eindrucksvolle und überzeugende Studie zu Geschichte des russländischen Zollwesens eröffnet den Zugang zu einem bisher nur dürftig erforschten Thema. Sie zeichnet darüber hinaus Wege vor, wo künftige Untersuchungen der Peripherien als Räume ökonomischer und transnationaler Verflechtung ansetzen könnten.
Anmerkungen:
1 Charles S. Maier, Once Within Borders. Territories of Power, Wealth, and Belonging since 1500, Cambridge 2016, S. 1–8.
2 Jane Burbank / Mark von Hagen, Coming into the Territory. Uncertainty and Empire, in: Jane Burbank / Mark von Hagen / Anatolyi Remnev (Hrsg.), Russian Empire. Space, People, Power. 1700–1930, Bloomington 2007, S. 5.