Die vorliegende Studie von Michael Galbas, die 2019 von der Universität Konstanz als Dissertation angenommen wurde, beschäftigt sich mit kollektiven und individuellen Erinnerungen an den sowjetischen Afghanistankrieg (1979–1989) und die Transformation der offiziellen Geschichts- sowie Erinnerungspolitik in Russland seit den 1990er-Jahren. Galbas zeichnet überzeugend nach, wie der in der Öffentlichkeit weitgehend verdrängte Konflikt seit der Präsidentschaft Vladimir Putins zu einem heroischen Akt der Landesverteidigung umgedeutet wurde und zu einem Baustein in einem Prozess der „kulturelle[n] Militärarisierung“ (S. 225) der russischen Gesellschaft avancierte, der zur autoritären Regimelegitimation beitrug und letztendlich – dies gibt der Studie eine beklemmende Aktualität sowie Relevanz – eine gesellschaftliche Akzeptanz für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine generierte.
Die vorliegende Publikation basiert auf einer intensiven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen russischen Publikationen (vor allem periodische Presse) seit den späten 1980er-Jahren, Archivmaterial aus verschiedenen staatlichen Archiven der Russischen Föderation (wobei dem Autor allerdings das Archiv des Verteidigungsministeriums nicht zugänglich war) sowie insgesamt 33 Interviews mit Veteranen des Afghanistankrieges, die Galbas zwischen 2011 und 2015 durchgeführt hat. Ihn interessiert insbesondere die Reziprozität zwischen individuellen und kollektiven, sozialen und politischen Formen der Erinnerung(skultur) in Russland. Für die Aufschlüsselung dieser Wechselwirkung rekurriert Galbas in seinen theoretischen Überlegungen – wenig überraschend – vor allem auf Arbeiten von Maurice Halbwachs sowie Aleida und Jan Assmann. Dieser theoretische Zugang funktioniert für die Interpretation und Analyse des umfangreichen Materials gut und zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Studie. Galbas dokumentiert und beschreibt sein methodisches Vorgehen – insbesondere die Durchführung der Interviews mit Veteranen des sowjetischen Afghanistankrieges – ausführlich. Streckenweise hätte dies aber zugunsten der Interviewinhalte und zur Vermeidung von Redundanz straffer ausfallen können, ohne dass Transparenz beziehungsweise methodische Nachvollziehbarkeit gelitten hätten.
Galbas organisiert sein Material in drei größeren Teilen: Der erste Teil stellt auf Basis der Sekundärliteratur, zeitgenössischer Publikationen und Archivmaterial den politischen Kontext sowie den Verlauf der sowjetischen Intervention in Afghanistan vor. Der zweite Teil behandelt die verschiedenen Phasen der offiziellen Geschichtspolitik in Russland seit den 1990er-Jahren. Galbas zeichnet hier überzeugend den bereits erwähnten Prozess der kulturellen Militarisierung seit den 2000er-Jahren nach. Während Politik und Gesellschaft in den frühen 1990er-Jahren eine Erinnerung an den Afghanistankrieg mieden, die Intervention als illegitim darstellten und die Veteranen gesellschaftlich marginalisierten, änderte sich dies mit Amtsantritt Putins. In der autoritären Umgestaltung des politischen Systems gewann die offizielle Geschichtspolitik an Bedeutung, wobei die Erinnerung an den sowjetischen Afghanistankrieg geschichtspolitisch vereinheitlicht und aufgewertet wurde – flankiert durch heroisierende Darstellungen in der Populärkultur, wie Galbas anhand der Filmproduktion „9 Rota“ („Die neunte Kompanie“, 2005) exemplifiziert. Interessante Einblicke in die Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft bietet in diesem Zusammenhang die Analyse der politischen und gesellschaftlichen Rolle der Veteranenorganisationen in den politischen Kontexten zwischen 1990 und 2015, wobei hier vor allem Fragen der Versorgung von Veteranen und ihrer Hinterbliebenen relevant waren und sind.
Der dritte Teil – mit dem Titel „Lebensgeschichten“ – beschäftigt sich schließlich mit den individuellen Erinnerungen von Veteranen des Afghanistankrieges. Galbas führte 33 Interviews mit Veteranen des Afghanistankrieges, wobei sein Sample ausschließlich männliche Veteranen in der Russischen Föderation umfasst. Eine komparative Betrachtung mit Veteranen und ihren Organisationen in den Gesellschaften anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion (etwa in Zentralasien, der Ukraine oder im Baltikum) wäre – wie Galbas konstatiert – ein Desiderat und ein Ansatz für weitere vergleichende Forschungen. In seiner Analyse der Interviews identifiziert Galbas fünf Tradierungstypen, die bereits in Forschungen zu Kriegserinnerungen im Zweiten Weltkrieg oder dem Vietnamkrieg für die Kategorisierung von Erinnerungen erarbeitet wurden – nämlich Heldentum, Faszination, Opferbereitschaft, Distanzierung sowie Rechtfertigung.1 In den teils recht knappen Auswertungen der Interviews kommt Galbas zu dem Schluss, dass keiner dieser Tradierungstypen dominant sei, sondern Überschneidungen und Mischformen dominieren. Gleichzeitig stellt er eine Wechselwirkung mit der offiziellen Geschichtspolitik fest.
Insgesamt funktioniert das methodische und theoriegeleitete Vorgehen gut. Betrachtet man die Gesamtarchitektur der Studie und den hohen Aufwand, mit dem Theorie sowie Methode eingeführt und die Interviews durchgeführt wurden, so ergibt sich jedoch eine Unwucht in der Struktur der Arbeit. Die Auswertung der Interviews mit den Veteranen hinterlässt nicht immer einen konturierten Eindruck jenseits der Einordnung in die erwähnten Tradierungstypen. Einige längere Interviewpassagen, in denen Veteranen ihre Wahrnehmung der afghanischen Gesellschaft (S. 252–262) oder eine extreme Gewalterfahrung (S. 307–312) schildern, verweisen auf das enorme Potential der Interviews. Eine intensivere Arbeit an diesen Interviewtranskripten jenseits der Tradierungstypen wäre vielleicht aufschlussreich(er) gewesen, zumal ähnliches Material auf absehbare Zeit aufgrund der politischen Rahmenbedingungen kaum mehr gesammelt werden kann. Ebenfalls wäre angesichts der hohen zeitgeschichtlichen und politischen Relevanz des Themas der Arbeit eine stärkere Reflexion politikwissenschaftlicher Ansätze zur politischen Transformation in Russland unter Putin wünschenswert gewesen. Trotz dieser Kritik ist aber zu konstatieren, dass Michael Galbas eine ausgesprochen relevante Untersuchung zu den russischen Erinnerung(skulturen) an den Afghanistankrieg vorgelegt hat, die durch ihr originelles Material und ihre systematische Interpretation besticht.
Anmerkung:
1 Siehe etwa Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002, 11. Aufl. 2023.