R. Nelson (Hrsg.): Germans, Poland, and Colonial Expansion to the East

Cover
Titel
Germans, Poland, and colonial expansion to the East. 1850 through the present


Herausgeber
Nelson, Robert L.
Reihe
Studies in European Culture and History
Erschienen
Hampshire 2009: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

Der von Robert Nelson verantwortete Band über die deutsch-polnischen Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart bedient sich der (post-)kolonialen Perspektive, um ein neues Licht auf diese europäische Konfliktgeschichte zu werfen. Das ist originell und produktiv; eine Theorie aus der Globalgeschichte wird im europäischen Kontext erprobt. Der Herausgeber erklärt diesen Ansatz im Vorwort: als Motivation nennt er die Diskussion über die Verbindungen zwischen deutschem Imperialismus und Holocaust. Zugleich betont er jedoch, dass sich die Beziehungen Deutschlands zu Osteuropa nicht auf nationalsozialistische Okkupation und Völkermord reduzieren ließen. So begründet er die breit gestreute Auswahl von Themen und Ansätzen. Im Band finden sich sieben Beiträge, deren Autoren jeweils unterschiedliche deutsche Vorstellungen zur Expansion in und Neuordnung von Osteuropa nachzeichnen. Sie thematisieren Vorstellungen von der „Grenze“ und den „Pionieren“ im Osten, die Entwicklung eines biologistischen Rassismus und die Idee, dass Osteuropa ein Laboratorium sei, in dem imperiales social engineering im großen Stil möglich sei. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Im ersten Beitrag erklärt Kerstin Kropp wie der deutsche Schriftsteller Gustav Freytag in seinem Roman „Soll und Haben“ (1855) Polen als einen Ort beschreibt, der vom Protagonisten kolonisiert werden soll. Die Autorin zeigt dabei, wie sehr dieser klassische deutsche Bildungsroman mit kolonialen Topoi arbeitet. Sie verortet den Beginn einer kolonialen Sicht auf Polen in den 1840er Jahren und kann zeigen, dass Begriffe aus dem amerikanischen Diskurs über den „Westen“ und seine Zivilisationsgrenze ihren Weg von der Neuen Welt nach Europa fanden. Bei Gustav Freytag findet die Bewährung des Helden im „wilden Osten“, in der Auseinandersetzung mit Juden und Slawen statt. Kerstin Kropp kommt zu dem Schluss, „Soll und Haben“ sei der deutsche Kolonialroman par excellence. Mit dem deutsch-polnischen Grenzraum beschäftigt sich auch der anschließende Aufsatz des Wirtschaftshistorikers Scott M. Eddie. Sein Thema ist die sog. „Bodenfrage.“ Er zeichnet die Strategien der Preußischen Ansiedlungskommission nach, die beim Versuch der „Germanisierung“ der Provinz Posen mitwirkte. Der preußische Staat wandte vor dem Ersten Weltkrieg erhebliche Mittel auf, um zugunsten deutscher Bauern und Siedler auf dem Markt für Ackerland, Höfe und Güter zu intervenieren. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass diese Siedlungspolitik bereits vor dem Ersten Weltkrieg scheiterte, weil ihr die Mittel und die Menschen fehlten, um eine deutsche Dominanz herzustellen.

Der Herausgeber Robert L. Nelson diskutiert in seinem Beitrag die Idee der inneren Kolonisation, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere für den ostdeutschen Raum entwickelt wurde. Er konzentriert sich auf die Expertenkultur der Bevölkerungspolitiker, die im 20. Jahrhundert rasch an Bedeutung gewann und radikale Konzepte entwickelte. Als Quelle nutzt er die Zeitschrift „Archiv für innere Kolonisation“, die ein maßgebliches Forum für diese Ideen bildete. Ihre Verfechter hielten die innere Kolonisation für wichtiger als überseeische Expansion, da die Nation von ihr direkter profitiere und sie einen Beitrag im Kampf gegen die Slawen leiste. Der Verfasser kann zeigen, wie sich die Erfinder der inneren Kolonisation während des Weltkrieges radikalisierten und Pläne eines deutschen Imperiums in Osteuropa entwickelten. Das besetzte Land von „Ober Ost“ wurde zum legitimen Raum deutscher Expansion erklärt. Schließlich beschreibt Eduard Mühle den Versuch deutscher Historiker, die Expansion des Deutschen Reiches in Osteuropa und eine offensive Bevölkerungspolitik wissenschaftlich zu legitimieren. Dabei hebt er primär auf das Paradigma der Volksgeschichte ab, das seit den 1930er Jahren entwickelt wurde und beschreibt den Aufstieg Hermann Aubins, der gemeinsam mit andern Ostforschern die deutsche Dominanz in Osteuropa zu begründen versuchte.

Vejas Liulevicius widmet sich in seinem Text den deutschen Sprachen der Okkupation während beider Weltkriege. Er präsentiert einen Vergleich des Vokabulars von „Ober Ost“ im Ersten Weltkrieg und der Sprache im nationalsozialistischen „Ostland“. Der Verfasser kann zeigen, welche Bedeutung Begriffen wie „Kultur“ oder „deutsche Arbeit“ bzw. „Lebensraum“ und „Herrenvolk“ zugeschrieben wurde. Leider erreicht der Beitrag nicht die Tiefenschärfe einer methodologisch reflektierten Begriffsgeschichte. David Blackbourn widmet sich in seinem Aufsatz den nationalsozialistischen Vorstellungen einer Umgestaltung der Natur in Osteuropa. Auch Blackbourn erkennt in Osteuropa das Laboratorium nationalsozialistischer Ordnungsvorstellungen; er zeigt, mit welchem Pathos die nationalsozialistischen Experten ihren Mythos vom Osten konstruierten und wie sie während des Vernichtungskrieges die Analogie zu den Indianerkriegen benutzen, um ihre eigene Erbarmungslosigkeit zu begründen. Sein Text ist ein glänzender der Höhepunkt des vielfältigen Bandes, der von Oliver Schmidtke mit einem Aufsatz über die deutsch-polnischen Beziehungen der Nachkriegszeit abgeschlossen wird. Schmittke behauptet, dass die deutsch-polnischen Beziehungen bis in die Gegenwart primär durch die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg geprägt würden, die im Kalten Krieg konserviert wurden. Das „koloniale Erbe“ besteht für den Verfasser in der kollektiven Erinnerung weiter; sein Aufsatz leidet jedoch darunter, dass er zwar die Besatzungserfahrung thematisiert, aber kaum auf die polnische „Kolonisation“ der früheren preußischen Ostgebiete nach 1945 eingeht. Die Herausforderung einer Beziehungsgeschichte liegt jedoch gerade darin, diese wechselseitigen Interaktionen in den Blick zu nehmen – dies ist dann auch das konzeptionelle Manko des Bandes.

Bedauerlicherweise fehlen im gesamten Buch Verweise auf die konkurrierenden Zivilisierungsmission in Osteuropa. Denn der Raum zwischen Deutschland und Russland, Mitteleuropa zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, war keine exklusive Projektionsfläche deutscher Eliten. Unberücksichtigt bleiben die sich überschneidenden, vielfältigen und in unterschiedlichen geographischen Richtungen und Räumen verlaufenden Zivilisierungsmissionen, die Ost- und Mitteleuropa im 20. Jahrhundert prägten: der Panslawismus, die sowjetische Expansion oder der polnische Nationalismus werden nicht mitgedacht. Der Band reproduziert damit einen eindimensionalen Blick auf die Region und wird ihrer Vielfalt nur bedingt gerecht. Indem die Polen und andere Osteuropäer zu Kolonisierten und zu Unterworfenen erklärt werden, wird das traditionelle Bild einer historischen Mission des Westens im Osten Europas bestätigt. Damit soll nicht bestritten werden, dass auf deutscher Seite diese Phantasien bestanden und dass sie insbesondere von den Nationalsozialisten auf furchtbare Weise die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts prägten. Die deutschen Vorstellungen einer neuen Ordnung konkurrierten jedoch stets mit den russischen, sowjetischen oder polnischen Plänen der Umgestaltung. Denn die Vorstellung eines deutschen Imperiums im Osten existierte parallel zum polnischen Anspruch, den Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer zu dominieren, und im 20. Jahrhundert verfolgte Moskau 1920, 1939 und schließlich 1944/45 seine eigene Strategie einer bolschewistischen civilizing mission in the West. Zukünftige Forschung sollte versuchen, diese verschiedenen Stränge imperialer Ordnungsvorstellungen zusammenzudenken, um zu einer europäischen Perspektive zu kommen, die zeigen kann, dass koloniale Narrative auf Europa übertragen wurden, dass es sich jedoch bei Osteuropa um einen Raum handelte, in dem verschiedene Mächte mit hegemonialem Anspruch direkt und gewalttätig miteinander konkurrierten.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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