J. Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

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Titel
Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Richter


Autor(en)
Veidlinger, Jeffrey
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexis Hofmeister, Departement Geschichte, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel

Der nordamerikanische Historiker Jeffrey Veidlinger, ein durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der jüdischen Kulturgeschichte im östlichen Europa, insbesondere im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, legte 2021 als jüngstes Werk eine englischsprachige Darstellung der antijüdischen Gewalt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Herbst 1918 vor. Darin konzentrierte sich Veidlinger auf ausgewählte und gut dokumentierte Vorfälle in jenen Gebieten, die zwischen dem neuerstandenen polnischen Staat, der revolutionären Ukraine, den Weißgardisten Denikins, der Roten Armee der Bolschewiki sowie irregulären Bauernformationen umstritten waren. Die von Martin Richter besorgte deutsche Übersetzung erschien bereits ein Jahr später beim C. H. Beck Verlag in München.

Rezensenten der englischen Ausgabe von Veidlingers Publikation haben zwischen einer an sich willkommenen Darstellung antijüdischer Gewalt auf dem Territorium der Zweiten Polnischen Republik und der Ukraine einerseits und einer kritikwürdigen geschichtspolitischen These als Rahmung andererseits unterscheiden wollen.1 Veidlinger versteht Pogrome, Massaker und Gewaltakte wie Plünderungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen ausdrücklich als Vorgeschichte der shoa. Dies wird allerdings nicht damit belegt, dass etwa namentlich dieselben Täterinnen und Täter verantwortlich gemacht werden würden. Vielmehr legt die Darstellung nahe, dass konkrete Äußerungsformen und Vorgehensweisen antijüdischer Gewalt während des schnellen Vordringens der Wehrmacht auf dem Gebiet der Sowjet-Ukraine aktualisiert wurden. Im Prinzip geht es Veidlinger, nach Auffassung des Rezensenten, jedoch um eine erinnerungspolitische These und nicht um einen Beitrag zur Historiographie des Holocaust. Heutigentags lassen sich die in den mittleren drei Kapiteln nüchtern wiedergegebenen Details der judenfeindlichen Massaker, die zwischen Dezember 1918 und März 1921 in den Territorien des ehemaligen westlichen Grenzsaums des Russischen Reiches stattfanden, tatsächlich nicht lesen, ohne die schrecklichen Ereignisse des schwarzen Schabbats vom 7. Oktober 2023 vor Augen zu haben, die ebenfalls eine Aktualisierung des Begriffs „Pogrom“ bedeuteten.2

Dieses Erschrecken liefert einen Hinweis auf die Lesart der historischen Ereignisse durch Jeffrey Veidlinger. Er betrachtet die unzähligen und in ihrer Wiederholung rituell und stumpfsinnig erscheinenden antijüdischen Gewaltakte im Lichte der in den Akten von sowjetischen und jüdischen Kommissionen überlieferten Zeugenaussagen sowie auf Basis der Nachrichten ausländischer Emissäre aus dem Krisengebiet. Dabei kann sich im Einzelfall eine dichte Beschreibung des Handelns der Pogromtäter und ihrer Opfer ergeben. Als Gesamteindruck stellt sich nach der Lektüre der Zeugenaussagen ein Eindruck ermüdender Gleichförmigkeit ein. Dabei scheint sich die gegen Zivilisten, insbesondere gegen die meist wehrlose jüdische Land- und Kleinstadtbevölkerung, gerichtete Gewalt der unterschiedlichsten Akteure weitestgehend geglichen zu haben, ob sie nun von irregulären Banden, Kosakenformationen, weißen Freiwilligenregimentern, Symon Petljuras bäuerlichen Rekruten, galizischen Schützen oder der Roten Armee ausgeübt wurde.

Wenn jüdische Rotarmisten von weißen Freiwilligen „ausgesondert“ und erschossen wurden, liegt für deutsche Leser als historischer Vergleichsfall der Umgang der deutschen Wehrmacht mit jüdischen Soldaten, die pauschal zu „Kommissaren“ erklärt wurden, auf der Hand (S. 257–258). Sicher ist dieser Vergleich insofern unhistorisch, als die historischen Akteure der Jahre 1918 bis 1921 in Osteuropa über andere historische Erfahrungen und Erwartungen verfügten als die deutschen und österreichischen Wehrmachtsangehörigen von 1941. Eine andere Perspektive ergibt sich jedoch, blickt man etwa mit den Augen polnischer oder ukrainischer „Sowjetbürger“ auf die bevorstehende deutsche Okkupation. 1941 lagen die Ereignisse des russländischen Bürgerkriegs etwa zwanzig Jahre zurück. Auch in manchen Zeugnissen jüdischer Überlebender werden Massenmorde, Plünderungen und Vergewaltigungen der ersten Monate nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion als „Pogrome“ bezeichnet. Veidlinger übernimmt dieses Narrativ; er hält die antijüdische Gewalt zu Beginn der deutschen Besetzung der Westgebiete der Sowjetunion für „mörderisch, partizipatorisch und vertraut“ (S. 354). Selbstverständlich ist hier ebenso die Erfahrung des stalinistischen Terrors in Anschlag zu bringen, worauf jüngst Yohanan Petrovsky-Shtern hinwies. Im Erfahrungs- und Kommunikationsraum der Stalinschen Sowjetunion konnte es nicht als ungewöhnlich gelten, dass ganze soziale Gruppen durch historische Schuldzuweisungen markiert und kollektiv beschuldigt wurden, Feinde des Vaterlands zu sein. Deportationen und Erschießungen lagen durchaus in dieser Logik des von oben geschürten Verdachts.3

Geschichtsschreibung ist nicht loszulösen vom Blick der Historikerin oder des Historikers. Und diese sind zur Retrospektive verdammt. Stets nehmen wir rückwärtsgewandt vom Heute aus vergangene Handlungen und ehemalige Akteur/innen („perpetrators“) in den Blick. Der Holocaust, dessen Bedeutung als Prisma für vorherliegende Ereignisse wohl eher zu- als abnimmt, lässt sich von dieser grundsätzlichen Rückwärtsgewandtheit nicht ausnehmen. Erinnerungspolitisch aktualisiert Veidlinger in seiner Darstellung allerdings – nun auch für ein deutschsprachiges Lesepublikum – eine Deutung, die ihrerseits bereits eine innerjüdische Geschichte besitzt. Schon die Begriffsgeschichte des jiddischen Begriffs khurbn („Zerstörung“), welchen Zeitgenossen für die Deportation der russländischen Juden aus den Frontgebieten des Ersten Weltkriegs ebenso benutzten wie für die Pogromereignisse des russischen Bürgerkriegs und des Holocausts bzw. der shoa verweist auf solche Deutungen.4 Die Zerstörung (der khurbn) war im Sprachgebrauch nicht nur religiöser Juden auf das Ende der religiösen und politischen Souveränität des Judentums in Palästina gemünzt und bezeichnete die mit der siegreichen Belagerung Jerusalems 70 v.u.Z. einhergehende Zerstörung des Zweiten Tempels.5

Bedauerlicherweise sind zahlreiche den Lesefluss störende Ungenauigkeiten erst durch die Arbeit an der Übersetzung entstanden. „aid workers“ etwa – so der Terminus im englischen Original – sind keineswegs „Hilfsmitarbeiter“, ein Wort, das der Duden übrigens nicht kennt. Abraham Koralnik (1883–1937), Nokhem oder Nahum Gergel (1887–1931), Isaak Giterman (1888–1943) und Meir Grossman (1888–1964) und andere „Hilfsmitarbeiter“ sind nach Meinung des Rezensenten im hier interessierenden Kontext am ehesten als (Menschenrechts-)Aktivisten, Verbindungsmänner zu Hilfsorganisationen oder einfach als humanitäre Helfer zu bezeichnen. Eine „self-defense-brigade“ ist keine „Selberverteidigungsbrigade“ (S. 282); ein „quip“ keine „Witzelei“ (S. 279); im Deutschen sollte besser von Pessach statt von „Passah“ die Rede sein (S. 287). Kiddusch, der Segensspruch über dem Wein mit dem Schabbat eingeläutet wird, ist nicht zu verwechseln mit dem Kaddisch, einem Trauergebet (S. 150). Der Satz „The repercussions of the 1918–1921 pogroms continued to linger and ripple through the community and across Europe” wird folgendermaßen widergegeben: „Die Konsequenzen der Pogrome 1918–1921 wirkten durch die jüdische Gemeinschaft und durch ganz Europa nach.“ (S. 373). Das ist inhaltlich und stilistisch nicht sehr sicher formuliert. Der „literary investigator“, den Emma Goldmann (1869–1940) 1919 in Odesa bei Chaim Nachman Bialik (1873–1943) traf, war kein „literarischer Ermittler“, sondern höchst wahrscheinlich ein Literaturforscher oder -wissenschaftler (S. 15). Offensichtliche Tippfehler sollten in Rezensionen nicht der Erwähnung wert sein. Doch muss hier auf einen peinlichen Ausrutscher beim Namen eines der größten hebräischen Dichter des 20. Jahrhunderts hingewiesen werden; als „Schaul Tschernitschovsky“ wird Shaul Tchernichovsky (1875–1943) erwähnt (S. 321).

Solche Ungenauigkeiten lenken ein wenig vom positiven Gesamteindruck des Werkes ab, dem das Verdienst zukommt, auf eine bislang zu wenig beleuchtete Welle postimperialer Gewalt in jener „shatterzone of empires“ zwischen Russischem Reich, Habsburgermonarchie, Deutschem und Osmanischem Reich hinzuweisen. Veidlinger baut seine Darstellung vor allem auf den hunderten von Zeugenaussagen sowie zeitgenössischen Reiseberichten auf, die die erlittene Gewalt oft sehr kleinteilig beschreiben und in der Osteuropaforschung unbeachtet blieben, weil sie in jiddischer Sprache vorliegen. Auch die Gerichtsprotokolle des gegen den Mörder von Symon Petljura (1879–1926) angestrengten Pariser Prozesses von 1927 werden ausgewertet.6 Jeffrey Veidlingers Darstellung lässt sich mit Gewinn lesen, auch falls man die geschichtspolitische These nicht in Gänze teilen sollte, dass der nationalsozialistische Judenmord in Osteuropa bereits zwanzig Jahre vor Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ seine Schatten vorauswarf. Dass in der kritischen Phase zwischen dem Untergang des Zarenreichs und der noch nicht konsolidierten Sowjetherrschaft trotz aller interethnischen Gewalt eine anti-imperiale Allianz zwischen Juden und Ukrainern in den Bereich des Möglichen rückte, kann nur angedeutet werden. Hierzu sei die noch nicht ins Deutsche übertragene Studie von Henry Abramson als Lektüre empfohlen.7

Anmerkungen:
1 Tobias Wals, Rezension zu: In the Midst of Civilized Europe. The Pogroms of 1918-1921 and the Onset of the Holocaust, London 2021, in: sehepunkte 22 (2022), H. 12 http://www.sehepunkte.de/2022/12/37692.html; Brian Horowitz, Neither the Shoah nor a Village Riot: To Which Events Should we Compare the Pogroms of Ukraine (1917–1921)?, Rezension zu: In the Midst of Civilized Europe. The Pogroms of 1918-1921 and the Onset of the Holocaust, London 2021, in: Yad Vashem Studies 51 (2023), H. 1, https://www.yadvashem.org/research/about/studies/back-issues/51-1.html.
2 Sehr gut geeignet als Vergegenwärtigung der langen Kette antisemitischer und judenfeindlicher Gewaltakte in Osteuropa: Eugene M. Avrutin / Elissa Bemporad (Hrsg.), Pogroms. A Documentary History, Oxford 2021.
3 Anna Medvedovska / Yohanan Petrovsky-Shtern, Babyn Yar: Distorting the Context. A conversation with Yohanan Petrovsky-Shtern about Sergei Loznitsa’s documentary Babi Yar, in: Krytyka, März 2023, https://krytyka.com/en/articles/babyn-yar-distorting-the-context.
4 Olaf Terpitz (Hrsg.), Shimon An-Ski, Der Khurbn in Polen, Galizien und der Bukowina. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg, Wien 2019.
5 Marc Caplan, Khurbn, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Stuttgart 2011–2017.
6 David Engel (Hrsg.), The Assassination. Symon Petliura and the Trial of Scholem Schwarzbard 1926–1927. A Selection of Documents, Göttingen 2016.
7 Henry Abramson, A Prayer for the Government. Ukrainians and Jews in Revolutionary Times, 1917–1920, Cambridge (Mass.) 1999.

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