Die Entwicklung der Eheberatung in Westdeutschland zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 1960er-Jahre untersucht Vera-Maria Giehlers Dissertation. Darüber hinaus erfahren die Leser:innen aber auch, wie die Eheberatung in der Zwischenkriegszeit entstand und wie sie sich von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik veränderte. Dass Giehler über ihren eigentlichen Untersuchungszeitraum hinausgeht und so die langen Linien in ihre Analyse integriert, ermöglicht es, die Frage der Diskontinuitäten und Kontinuitäten über die unterschiedlichen politischen Systeme in den Blick zu nehmen. Dabei scheint es gleichsam, als dominierten insbesondere bis in die 1950er-Jahre die Kontinuitäten, die Giehler in inhaltlicher wie personeller Hinsicht betont. Exemplarisch kann dabei auf die Bedeutung der Eugenik in der Eheberatung verwiesen werden, die besonders prominent in der nichtkonfessionellen wie auch evangelischen Eheberatung war. Aber auch die katholische Eheberatung hinterfragte die Bedeutung von Eugenik für die Eheberatung vor 1945 nicht.
Durchweg überzeugend ist Giehlers methodischer Zugriff: Über Verbände und Institutionen, wie die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung (DAJEB) und das Katholische Zentralinstitut für Ehe- und Familienfragen (KZI), Kirchen(vertreter:innen) und führende Persönlichkeiten in der Eheberatung sowie die beiden Berufsgruppen Mediziner:innen und Psycholog:innen nähert sich Giehler ihrem Untersuchungsgegenstand. Die zentrale Bedeutung der Mediziner:innen in der Eheberatung von den 1920er-Jahren bis in die 1950er-Jahre führte letztlich auch dazu, dass Eugenik über lange Zeit ein wichtiges Element der Eheberatung blieb. Erst ab den 1950er- und dann noch stärker ab den 1960er-Jahren löste auch im Zuge einer voranschreitenden Professionalisierung der Eheberatung die Psychologie die Medizin sukzessive als dominierende Fachdisziplin ab. Dieser Befund macht Giehlers Arbeit auch anschlussfähig an jüngere historische Studien zur Psychotherapie.1
Die Quellenauswahl und auch die Quellenarbeit überzeugen ebenfalls. Obwohl nach Darstellung der Verfasserin für die Zeit vor 1960 wenig Quellenmaterial vorliege, gelingt es ihr auf der Basis von 80 kontaktierten Archiven und Institutionen, beträchtliches Quellenmaterial zu erschließen: Zum Beispiel dokumentieren Briefwechsel und Aktennotizen oder Protokolle die Praxis der Eheberatung. Darüber hinaus lässt sich über publizierte Schriften die offizielle Position der nichtkonfessionellen Beratung wie auch der Kirchen zur Eheberatung rekonstruieren. Neben dem Archiv des Deutschen Caritasverbandes und dem Archiv des Erzbistums Köln sowie des Bundesarchivs Koblenz war das Landesarchiv Berlin ein zentraler Fundort, da sich dort die Akten der Rechtsberatungsstelle Berlin-Reinickendorf finden, die als eine besonders aufschlussreiche Fallstudie in die Arbeit integriert wurde.
Analytisch differenziert Giehler zwischen der katholischen Eheberatung auf der einen Seite und der nichtkonfessionellen Eheberatung auf der anderen Seite, der allerdings auch die protestantische Beratung als Unterkapitel zugeschoben wird. Dass es für die protestantische Eheberatung kein eigenständiges Kapitel gibt, begründet Giehler zunächst damit, dass sie erst mit ihrem organisatorischen Zusammenschluss Ende der 1950er-Jahre an Bedeutung gewonnen habe. Evangelische Akteure spielten aber durchaus eine Rolle, da sie über die DAJEB Einfluss genommen hätten. Diese strukturelle Ausrichtung der Arbeit erscheint nicht immer ganz schlüssig, was auch auf die Gliederung zutrifft. Die drei Teile der Arbeit – Eheberatung vor 1945; nichtkonfessionelle und evangelische Eheberatung nach 1945; katholische Eheberatung nach 1945 – bilden den inhaltlichen Kern der Analyse und werden jeweils durch ein eigenes Zwischenfazit abgerundet. Eingeschoben wurde darüber hinaus noch ein eigener Abschnitt, der die „Ehe von der frühen Nachkriegszeit bis zur Mitte der 1960er Jahre“ überblicksartig zusammenfasst. Vielleicht hätte es sich angeboten, die drei Kapitel für die Zeit nach 1945 entlang thematischer Schwerpunkte zu gliedern. Dadurch hätten erstens Redundanzen reduziert werden können. So liegen durchaus Überschneidungen zwischen den beiden Hauptkapiteln vor, da zunächst die nichtkonfessionelle und die evangelische Eheberatung sowie anschließend die katholische Beratung analysiert wird. Zweitens hätte eine andere Struktur es erlaubt, die unterschiedlichen Strömungen der Eheberatung besser zu kontrastieren beziehungsweise deren Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.
Auf der Basis ihres Quellenmaterials arbeitet Giehler immer wieder heraus, „in welchem Verhältnis Selbstverständnis und Praxis der Akteure standen“ (S. 1). Dieses Spannungsverhältnis rekonstruiert sie mit einem praxisorientierten Zugang – verstanden als Eheberatungspraxis, die mit den offiziellen Verlautbarungen wie der DAJEB oder des KZI kontrastiert wurde. Überdies untersucht Giehler, wie sich die Organisationsstruktur der Beratungseinrichtungen entwickelte und welche Bedeutung hierfür die voranschreitende Professionalisierung der Eheberatung hatte. Dabei geht Giehler von der zentralen These aus, dass „deutliche Ambivalenzen“ (S. 1) vorlagen – gemeint ist damit die Abweichung zwischen den institutionellen Vorgaben der Eheberatungsinstitutionen und der konkreten Umsetzung in der Beratungspraxis. Zum Beispiel sprach sich die DAJEB – auch aufgrund ihrer Gründungsmitglieder, die als Rassenhygieniker im NS aktiv gewesen waren – in den 1950er-Jahren für eugenische Maßnahmen aus. In der Eheberatungspraxis fanden diese Vorgaben jedoch keinen Niederschlag, da die Eheberater:innen „ihrem eigenen Verständnis von Beratung“ folgten und sich „an der sozialen Realität verheirateter Paare“ (S. 246) orientierten. Die katholischen Eheberater:innen wiederum teilten zum Beispiel in den 1950er-Jahren nicht die Sichtweise der Kirche, die argumentierte, dass es zu „einer allgemeinen Krise der Institution Ehe“ gekommen sei. Vielmehr würden jeweils nur „individuelle Ehekrisen“ (S. 392) vorliegen, die es über Beratung zu lösen gelte.
Letztlich zeige die Arbeit der Eheberater:innen, dass „Selbstbild und aktive Beratungstätigkeit sich teilweise widersprachen“ (S. 244; ähnlich S. 392 und S. 397). Dieser Befund erscheint wenig überraschend.2 Erhellender ist die Dissertation demgegenüber gerade an den Stellen, wo Giehler herausarbeitet, wie und warum es zu den oben skizzierten Abweichungen gekommen ist und welche Bedeutung dabei die institutionelle Entwicklung der Eheberatung wie auch die voranschreitende Professionalisierung der Beratungspraxis hatte. Ferner hätte es sich an mancher Stelle durchaus angeboten, sich differenzierter zum zeitgenössischen Diskurs zu positionieren. Exemplarisch kann dies am Beispiel der „partnerschaftlichen Ehe“ dargestellt werden, die sich in den 1950er-Jahren verbreitet und dabei eine „gleichrangige Partnerschaft, eine enge gefühlsmäßige Bindung, ein gemeinsames Streben nach Erfüllung sowie sexuelle Gleichberechtigung“ (S. 44f.) im Mittelpunkt gestanden habe. Dass diese zeitgenössische Darstellung auf den wissenschaftlichen Studien der Soziologen Helmut Schelsky und Gerhard Wurzbacher aufbaute und deren Forschungsvorhaben methodisch bereits zeitgenössisch angezweifelt worden sind, bleibt allerdings unerwähnt.3
Trotz der Einwände ist die vorliegende Studie insbesondere für Arbeiten zur Sozialgeschichte von Ehe und Familie im 20. Jahrhundert wie auch zur Geschichte der Sozialen Arbeit relevant. Darüber hinaus verortet sich die Arbeit auch in der Kirchengeschichte, zumal sie überzeugend die Besonderheiten konfessioneller Eheberatung aufzeigt. Beim Katholizismus ist dies zum Beispiel die Bedeutung des Ehesakraments und die Vorstellung, dass es sich bei der Beratung um einen „Dienst an Gott und der Kirche“ (S. 1) handele. Darüber hinaus sei die Arbeit allen Wissenschaftler:innen nahegelegt, die sich mit Fragen der Sexualität und „Sittlichkeit“ im 20. Jahrhundert beschäftigen, die in der Eheberatung immer wieder diskutiert wurden.
Anmerkungen:
1 Vgl. Jens Elberfeld, Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2020.
2 Für das Verhältnis zwischen Idealen und Praktiken siehe auch Christopher Neumaier, Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019, u.a. S. 20.
3 Vgl. ebd., S. 317–326.