Die Beschäftigung mit historischen Aspekten des Wegwerfens, aber auch des Weiterverwendens und Wiederverwertens hat sich in den letzten Jahren von einem eher exotischen Randthema zu einem eigenständigen Forschungsfeld entwickelt, das bereits zahlreiche Publikationen vor allem zum 19. oder 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Zunächst ging dieses Forschungsinteresse eher von der Konsumgeschichte aus, zunehmend sind nun auch die Umwelt- und Technikgeschichte sowie die Stadt- und Globalgeschichte hinzugekommen.
Nach seiner 2017 im Druck erschienenen Habilitationsschrift zur westdeutschen Müllpolitik und (städtischen) Abfallwirtschaft in der Nachkriegszeit1 hat Roman Köster nun ein Überblickswerk zum Verhältnis von „Mensch und Müll“ (S. 7) geschrieben, das zeitlich und räumlich übergreifend Praktiken und Konstellation des Wegwerfens und Nicht-Wegwerfens in den Blick nimmt. Dabei werden auch Fäkalien als Abfallstoff mit einbezogen, zudem partiell die verwandten Bereiche der (städtischen) Sauberkeit und Hygiene. Köster beginnt sein Buch mit einer relativ kurzen und praxisorientierten Einleitung, die sich erfreulicherweise nicht in kulturwissenschaftlichen Diskussionen über Müll und Schmutz verliert. Die darauffolgenden Hauptteile gliedert er in Vormoderne, Industriezeitalter und Massenkonsum. In der Einleitung werden diese Phasen von Köster noch global unterschiedlich datiert (S. 17), was dann aber in den drei Hauptteilen nur bedingt umgesetzt wird. Erfreulich ist hingegen, dass Köster, obwohl die Müllmengen (und die Müllproblematik) mit der Ausbreitung des allgemeinen Wohlstandes seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stark zugenommen haben, eine relativ ähnliche Gewichtung der drei Teile vornimmt.
Vormoderne Abfälle waren vor allem organischer Natur, Gegenstände und Materialien wurden lange genutzt und entsprechend ausgeprägt und alltäglich waren ihre Zirkulationen. Dieses vormoderne Weiterverwenden und das Recycling waren, so Köster, einem „Diktat der Knappheit“ geschuldet (S. 75), Gebrauchtwaren und Altmaterial bildeten wichtige Bereiche des vormodernen Konsums und Wirtschaftens. Interessant ist es in diesem Kontext, „Topographie und Klima“ als „wesentliche[n] Aspekt […] für vormoderne Abfallgeschichte“ zu denken (S. 38): So konnten zum Beispiel stadtnahe Gewässer und stärkere Gefälle zur Abwasser- und Fäkalienentsorgung genutzt werden; bei heißeren Temperaturen zersetzten sich organische Abfälle deutlich schneller, auch Asche, ein wesentlicher vormoderner Abfallanteil, fiel in wärmeren Gegenden in geringen Mengen an. Sauberhaltung und Abfallbeseitigung waren in der Vormoderne überwiegend privat organisiert, gehörten also noch nicht zu den Aufgaben städtischer Verwaltungen, dennoch gab es in den meisten Städten umfangreiche normative Regelungen dazu. Die gelegentlich geäußerte Vermutung, dass die Städte der Vormoderne prinzipiell unsauber gewesen seien, weist Köster ausdrücklich zurück – für die angebliche Praxis, Abfälle und Fäkalien aus dem Fenster oder auf die Straße zu werfen, gebe es kaum direkte Belege.
Das Industriezeitalter veränderte durch Industrialisierung und Urbanisierung auch den Konsum und den gesellschaftlichen Stoffwechsel (Metabolismus). Im Bereich des Abfalls trafen grundlegende Veränderungen (zum Beispiel durch Infrastrukturen wie die zentrale Kanalisation) auf eine erhebliche Persistenz von Systemen und Praktiken. In westlichen Ländern etablierte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Stadthygiene und der städtischen Leistungsentfaltung die städtische Müllabfuhr, und zunehmend wurden zentrale Orte der Entsorgung eingerichtet. Der städtische Abfall landete meist auf im Um- und Hinterland gelegenen Deponien, er wurde teilweise zur Landgewinnung verwendet, seltener – tendenziell in größeren Städten – wurde Müll verbrannt. Die Einführung von Kanalisationssystemen bedeutete das Ende der vormodernen Nutzung von Fäkalien als Dünger in der Landwirtschaft, auch ein beginnender Bedeutungsverlust von Recycling und Wiederverwenden zeichnete sich ab, wenngleich diese Bereiche immer noch erhebliche Kontinuitäten zu vormodernen Praktiken aufwiesen.
Eine Zäsur, ein „neues Müllzeitalter“ (S. 207), sieht Köster erst für die Nachkriegszeit: Wirtschaftswachstum und Wohlstandsentfaltung brachten neue Konsumformen (Verpackungsmaterial und Wegwerfprodukte), eine beschleunigte Expansion der Müllmengen und eine neue Materialität des Abfalls (Plastik und chemische Abfälle). Damit einher ging eine Ausweitung und Technisierung der (meist kommunal) organisierten Müllabfuhren und der Deponien. Das Entsorgungsproblem verschob sich nun vom Sammeln hin zum Ort: Zunehmend wurde das „spontane“ und ungeordnete Deponieren zum „sanitary“ respektive „controlled tipping“, wobei global gesehen das „wilde“ Entsorgen und die informelle Arbeit auf Deponien fortbestanden. Als Ausdruck von Armut und vom Wohlstandsgefälle können auch internationale Mülltransfers gesehen werden, die oft unter dem Vorwand des Recyclings westlichen Plastik- und Elektronikmüll in den globalen Süden brachten. Zudem kam es zu einem Anstieg der Müllverbrennung, begünstigt durch den Mangel an Deponieraum und durch die deutlich preiswertere fossile Energie (und die Möglichkeit, aus der Verbrennung Strom und Wärme zu produzieren). Durch den Ökologiediskurs ab den 1970er-Jahren rückte auch das Wegwerfen verstärkt in den Blick: Einerseits wurden eine Verlängerung der Nutzungsdauer von Objekten und ein verstärktes Recycling von Materialien gefordert, andererseits wuchs das Bewusstsein der Toxizität von Abfällen, und es kam zu ersten müllbezogenen Umweltprotesten.
Ein derart räumlich, zeitlich und inhaltlich übergreifendes Thema schlüssig darzustellen ist nicht einfach – dessen ist sich Roman Köster bewusst und warnt schon zu Beginn des Buches vor Vereinfachungen und Idealisierungen: Nicht „alles“ in der Vormoderne sei wiederverwertet worden, nicht „alles“ werde gegenwärtig weggeworfen (S. 18). Auch das restliche Buch argumentiert generell ziemlich reflektiert, nur vereinzelt finden sich Annahmen, die die aktuelle Stadt- und Umweltgeschichte bzw. Handels- oder Handwerksgeschichte differenzierter gesehen hätte (vgl. zum Beispiel S. 42 und 88). Ein großer Vorteil ist, dass sich Köster keine konzeptionellen Scheuklappen aufgesetzt hat: Neben Überlegungen wie dem „Anthropozän“ und Christian Pfisters „1950er Syndrom“ werden auch immer wieder Fragen nach der Arbeit mit und der Alltagsökonomie von Abfällen gestellt – damit kommen Erwerbsstrategien und Arbeitsbedingungen der (urbanen) labouringpoor in den Blick. Leider geschieht dies nicht in allen Abschnitten und thematischen Aspekten, so wird beispielsweise die wichtige Arbeit von Frauen auf vormodernen Gebrauchtwarenmärkten nicht erwähnt, auch spricht Köster die Relevanz der Beschäftigung mit Gebrauchtem für Newcomer am städtischen Arbeitsmarkt, für ethnische und soziale Minderheiten (zum Beispiel von Juden und Jüdinnen im Altmaterial- und Gebrauchtwarenhandel) nur kurz und für das Industriezeitalter an.
Mit der Räumlichkeit von Abfall und Wegwerfen greift Köster einen überaus interessanten Aspekt auf; in diesem Kontext wird auch das Konzept der „environmental justice“ angesprochen, das seinen Ursprung in Protesten gegen Giftmülldeponien hat. In räumlicher Hinsicht vermisst man allerdings ein Eingehen auf das Konzept des Hinterlandes, auch werden Überlegungen zum gesellschaftlichen Metabolismus nur am Rande thematisiert (zum Beispiel fehlt ein Hinweis auf die Pionierstudie von Boyden et al. zu Hongkong2). Manche Aspekte sind also etwas zu knapp gehalten, während andere, in thematischer Hinsicht eher tangentiale Teile (zum Beipsiel zum Zusammenleben von Tier und Mensch in vormodernen Städten) relativ umfangreich sind. Insbesondere im Teil „Industriezeitalter“ wendet sich die Darstellung stark einer städtischen Umweltgeschichte oder einer Geschichte von Hygiene zu. Dafür fällt der Blick immer wieder auf Räume außerhalb des globalen Nordens, besonders zahlreich sind die Befunde zu Wegwerfen und Nicht-Wegwerfen im asiatischen Raum. Schade ist, dass es am Ende des Buches keine Zusammenfassung gibt – das letzte Kapitel „Epilog: Ins Meer“ ist eher ein Nachdenken über Alternativen und die Zukunft des Wegwerfens und des Umgangs mit Abfall.
Insgesamt hat Köster ein anschauliches, interessantes und überaus facettenreiches Buch geschrieben, das einen exzellenten Überblick über die neuere (und relevante) Literatur bietet und das nicht nur der Geschichtswissenschaft neue sozioökonomische und ökologische Perspektiven aufzeigt. Es ermöglicht auch gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen, speziell denen zur Nachhaltigkeit, eine historische Kontextualisierung oder – wie Köster es formuliert – „die Wurzeln unserer gegenwärtigen Müllprobleme freizulegen“ (S. 9), wenngleich die „Vergangenheit nicht die Rezepte bereithält, um heute die Müllmengen dauerhaft zu reduzieren“ (S. 318).
Anmerkung:
1 Vgl. Jonas Stuck, Rezension zu: Köster, Roman: Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1990, Göttingen 2017, H-Soz-Kult, 25.10.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-24706 (08.07.2024).
2 Stephen Boyden u.a., The Ecology of a City and and its People. The Case of Hong Kong, Canberra 1981.