Fernsehgeschichte hat Konjunktur. Während frühere Arbeiten oft die Institutionen- und Programmschemaentwicklung untersuchten, also „Fernsehen“ als soziale Praxis eher aus der Ferne betrachteten, findet inzwischen das unmittelbare Geschehen auf dem Bildschirm großes Interesse. Neben kulturhistorischen Analysen von Familienserien, Nachrichtensendungen, Spiel- oder Dokumentarfilmen treten Studien zu Sendereihen, die das ohne Drehbuch geführte Gespräch in Szene setzten – etwa das ostentativ kritische Fernsehmagazin „Panorama“ oder die im Vergleich dazu betulichere Diskussionssendung „Internationale Frühschoppen“ von und mit Werner Höfer. 1 Solchen Sendereihen widmet sich auch die 2009 erschienene Monographie von Harald Keller über „Die Geschichte der Talkshow in Deutschland“, wobei der medienwissenschaftlich ausgebildete und journalistisch tätige Autor jüngere geschichtswissenschaftliche Forschung kaum zur Kenntnis nimmt. 2 Das ist Indiz für den eher populärwissenschaftlichen Zuschnitt des rund 470 Seiten starken Taschenbuchs, das sich als „erste umfassende Kulturgeschichte der Talkshow“ versteht (Klappentext).
„Umfassend“ ist die Studie insofern, als sich der Autor von einem engen Talkshow-Begriff löst, der nur die zeitgenössisch mit diesem Terminus bezeichneten Sendungen einschließen würde. Das ließe die Geschichte der Talkshow in Deutschland mit der ab 1973 im Dritten Programm des WDR gebrachten Sendung „Je später der Abend“ beginnen (S. 226). Keller dagegen geht bis in die Anfangsjahre des Fernsehens und sogar des Rundfunks zurück und behandelt Sendungen aller Art, in denen „frei gesprochen“ wurde, selbst wenn die mündlichen Äußerungen einem vorher festgelegten Ablauf unterlagen. Dieser „erweiterte Talkshow-Begriff“ (S. 18) lässt die Zahl der untersuchten Sendereihen auf über dreihundert anschwellen, wobei amerikanische Vorlagen, die hierzulande adaptiert wurden, ebenso in die Darstellung integriert werden wie frühe Rundfunkproduktionen. Das Register reicht von den „Gedanken zur Zeit“, eine Rundfunksendung der Weimarer Republik, bis hin zur „Harald Schmidt Show“. Eine solche Gesamtschau von Sendungen mit hohen Gesprächsanteilen stand in der Tat bislang aus, wobei es analytisch nicht notwendig weiterführend erscheint, Produktionen wie beispielsweise „Big Brother“ oder die Interviewreihe „Zur Person“ von Günter Gaus als Talkshow zu verhandeln. Gleichwohl ist man auf die Lektüre gespannt.
Die sehr knappe Einleitung begründet das Thema vor allem über den Hinweis auf eine eklatante Forschungslücke. Es fehlte „bislang an einer Bestandsaufnahme, die primär am Material, nämlich am Programm und seinen Formen, orientiert, die Herkunft dessen herausarbeitet, was heutigentags unter der Gattungsbezeichnung Talkshow auf die Bildschirme gelangt“ (S. 19). Ziel sei vor diesem Hintergrund, „den Ursprüngen des Formats nachzuspüren und punktuell auf solche Sendungen ausführlicher einzugehen, die zeittypische Bedeutung aufweisen, Neuerungen mit sich brachten oder in der Entwicklungsgeschichte des Genres anderweitig Spuren hinterlassen haben“ (ebd.). Obwohl Keller in diesem Rahmen die Unschärfen des Talkshow-Begriffs betont, sucht er die Talkshow doch als „Genre“ zu etablieren, das er der „Show“ als Gattung unterordnet. Zudem werden zahlreiche „Subgenres“ unterschieden, deren Reihe von der „politischen Talkshow“ über die „Bekenntnis-“ bis hin zur „Jugend-Talkshow“ reicht, aber unter anderem auch die „Erotik-“, „Sport-“ oder „Jux-Talkshow“ umfasst (S. 20f.). Offenbar weil viele Sendereihen nur als Mischformen solcher Subgenres verstanden werden können, wie Keller selbst betont (S. 20), wird diese Typologie auf den folgenden Seiten nicht mehr fruchtbar gemacht. Vermutlich wäre es hilfreich gewesen, auf das Bemühen um eine Genredefinition von vornherein zu verzichten und stattdessen die enorme historische Variabilität und Flexibilität von Gesprächssendungen zum Ausgangspunkt zu machen.
Das genutzte Quellenmaterial umfasst vor allem gedruckte Quellen wie etwa Programmmaterial und -zeitschriften sowie einige Interviews mit Programmschaffenden und -beobachtern. Den weitgehenden Verzicht auf audiovisuelles Material begründet der Autor mit der erst seit den späten 1950er-Jahren gegebenen Möglichkeit zur elektronischen Konservierung (was allerdings nicht für Radiosendungen gilt) sowie mit der restriktiven Archivpolitik der Sendeanstalten (S. 19f.). Aber wohl auch aufgrund der Breite des Buches liegt dessen Stärke nicht in einer eigenständigen Analyse ausgewählter Fernsehereignisse, sondern stattdessen in einem überwiegend kurzweiligen, wenngleich zuweilen deskriptiv-additiven Überblick der Entstehung und Genese unterschiedlichster Sendereihen, die in größtenteils chronologischer Reihenfolge knapp vorgestellt und skizzenhaft in kulturhistorische Kontexte eingebettet werden.
Der Hauptteil setzt mit Abschnitten über die „Programmentwicklung in den USA“ (S. 23-59) sowie die „Programmgeschichte der Rundfunkgespräche in Deutschland“ (S. 60-86) ein, bevor „Gesprächssendungen in den ersten Fernsehjahren“ (S. 87-161) und dann von den 1960er-Jahren bis in die 2000er-Jahre Dekade für Dekade vorgestellt werden (S. 162-360). Insgesamt wird dabei zum einen der prägende Einfluss US-amerikanischer Vorlagen deutlich, die auf westdeutscher Seite aufgegriffen und kreativ angeeignet wurden. Zugleich veranschaulicht das Buch immer wieder, in welchem Ausmaß vermeintlich neue Fernsehformate über zeitgenössisch ignorierte Vorläufer verfügten. Nicht nur nach 1945, so lässt sich erahnen, war die Medienbranche statt an einer „invention of tradition“ (Hobsbawm) eher an einer „invention of invention“ interessiert.
Leider bleibt die DDR aus der Darstellung bis Seite 361 wie selbstverständlich ausgeklammert. Ihr ist keine Fußnote, sondern das allerletzte, besonders kurze Kapitel des Hauptteils gewidmet, nachdem der chronologische Ritt durch die vermeintlich deutsche Geschichte bereits in der Gegenwart angekommen ist. Auf den knapp dreizehn Seiten wird dann allerdings deutlich, wie spannend und ambivalent die Entwicklung von Gesprächssendungen und Talkrunden gerade im ostdeutschen Fernsehen war. „Offene Debatten durften die Zuschauer vom Fernsehen der DDR“ zwar nach Keller „nicht erwarten“ (S. 363), aber die ersten Sendungen, in denen ohne Skript vor der Kamera diskutiert wurde, stammten wie in Westdeutschland bereits aus den frühen 1950er-Jahren. Und wenngleich der Terminus „Talkshow“ in Regierungskreisen der 1970er-Jahre verpönt war, konnte in dieser Zeit in der Sparte Jugendfernsehen eine „Nische entstehen, die vergleichsweise freizügige Gespräche zwischen nicht organisierten Jugendlichen erlaubte“ (S. 368). In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre gewannen diese jugendorientierten Sendungen über ihre Zielgruppe hinaus an Einfluss und vor allem an politischer Brisanz – so zum Beispiel „elf99“, ein seit dem 1. September 1989 wöchentlich ausgestrahltes Magazin, und „elf99 – Talk mit open end“. Die später in „samsTAlk“ unbenannte Sendereihe, die nach dem Mauerfall durch „eine gewisse Respektlosigkeit auch gegenüber West-Politikern“ bekannt geworden sei (S. 372), wurde 1991 trotz unverändert guter Zuschauerzahlen eingestellt. Die Gründe hierfür sind bei Keller leider nicht zu erfahren, aber man erahnt ein überaus spannendes Forschungsfeld, das weiterer Erkundungen bedarf.
Insgesamt liefert Keller trotz der genannten Kritikpunkte eine ob ihrer Breite verdienstvolle und hilfreiche sowie im Detail immer wieder anregende Einführung in die Geschichte von Gesprächssendungen im deutschen Fernsehen. Das Taschenbuch wird hoffentlich zu weiteren Forschungsarbeiten anregen, deren Bearbeiterinnen und Bearbeitern es dann allerdings zu wünschen wäre, Einlass in die Archive zu finden. Im Falle mancher Gesprächssendereihen warten dort nicht nur zahlreiche Magnetbänder, sondern etwa auch Zuschauerbriefe und -befragungen auf ihre wissenschaftliche Auswertung – ein Potential, das es unbedingt zu nutzen gilt.
Anmerkungen:
1 Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006, S. 302-322, vgl. Marcus M. Payk: Rezension zu: von Hodenberg, Christina: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973. Göttingen 2006, in: H-Soz-u-Kult, 15.08.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-114> (09.03.2010), sowie Nina Verheyen, Fernsehschule der Vernunft? Der "Internationale Frühschoppen" (1952-1987) in emotionsgeschichtlicher Perspektive, in: Frank Bösch / Manuel Borutta (Hrsg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt am Main 2006, S. 264-283; vgl. Ute Frevert: Rezension zu: Frank Bösch / Manuel Borutta (Hrsg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne. Frankfurt am Main 2006, in: H-Soz-u-Kult, 08.02.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-093> (09.03.2010).
2 Das gilt beispielsweise für den jüngeren Sammelband von Frank Bösch / Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, vgl. Werner Faulstich: Rezension zu: Bösch, Frank; Frei, Norbert (Hrsg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, in: H-Soz-u-Kult, 03.01.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-004> (09.03.2010), die einschlägigen Studien von Axel Schildt, etwa ders., Der Beginn des Fernsehzeitalters. Ein neues Massenmedium setzt sich durch, in: ders. / Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 477-492, aber auch für die in der ersten Fußnote zitierte Literatur.