P. Sullivan: The NAACP and the Making of the Civil Rights Movement

Titel
Lift Every Voice. The NAACP and the Making of the Civil Rights Movement


Autor(en)
Sullivan, Patricia
Erschienen
New York 2009: The New Press
Anzahl Seiten
XII, 532 S.
Preis
$ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Berg, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die 1909 von weißen Sozialreformern und schwarzen Intellektuellen gegründete „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP) ist die älteste und größte afroamerikanische Bürgerrechtsorganisation der USA. Wie keine andere Gruppierung verkörpert die NAACP die Kontinuität des Kampfes der schwarzen Minderheit um Freiheit und Gleichheit durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch, für die sich in der Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit der Begriff „long civil rights movement“ eingebürgert hat. Im Laufe ihrer langen Geschichte verfolgte die Assoziation eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien. Sie führte Musterprozesse vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, betrieb Lobbyarbeit im Kongress, mobilisierte schwarze Wähler und initiierte Protestkampagnen gegen Rassendiskriminierung und Lynchjustiz. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, die NAACP habe sich lediglich für formale Gleichberechtigung, die Abschaffung der Rassentrennung und das unbeschränkte Wahlrecht engagiert, trat sie seit den 1930er-Jahren auch für ein Ende der Diskriminierung im Arbeits- und Wirtschaftsleben ein und unterstützte die sozialstaatlichen Ziele und Maßnahmen der New Deal–Ära. Obwohl die Assoziation in der aktivistischen Phase der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren zeitweilig von anderen Gruppen in den Hintergrund gedrängt wurde, ist sie bis heute das einflussreichste Sprachrohr gegen Rassismus und für die Rechte der Afroamerikaner geblieben.

Gleichwohl ist die NAACP von der Geschichtswissenschaft lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden. Der Hauptgrund dafür liegt wohl vor allem darin, dass sie vielen Historikern nicht radikal genug erschien. Vor allem Autoren, die den Graswurzelcharakter der Bürgerrechtsbewegung betonten, zeichneten das Zerrbild einer elitären, legalistischen und bürokratischen Lobbygruppe, die den weißen Machtstrukturen verhaftet gewesen sei und die wahren Interessen der schwarzen Massen ignoriert habe. Seit etwa zehn Jahren jedoch haben neuere Studien diese Sichtweise grundlegend revidiert und die überragende historische Rolle der NAACP auf allen Ebenen des schwarzen Freiheitskampfes gewürdigt. 1 Allerdings fehlte bislang eine Gesamtdarstellung. Angesichts ihrer vielfältigen Aktivitäten und des umfangreichen Quellenmaterials, das die NAACP im Laufe ihrer langen Geschichte hervorgebracht hat, ist dies für einen einzelnen Autor auch eine wahrhaft herkulische Aufgabe. Rechtzeitig zum hundertjährigen Bestehen der Assoziation hat nun jedoch die an der University of South Carolina lehrende Bürgerrechtshistorikerin Patricia Sullivan ihr lang erwartetes Buch vorgelegt, das eine neue „grand narrative“ der NAACP verspricht.

In vieler Hinsicht ist das Werk eine beeindruckende Leistung. „Lift Every Voice“ basiert auf umfassenden Archivstudien und einer exzellenten Kenntnis der Literatur zur Geschichte der „langen Bürgerrechtsbewegung“. Sullivan beschreibt anschaulich die Probleme und Herausforderungen, denen sich die NAACP vor allem in ihrer Frühzeit gegenüber sah, die persönlichen Querelen und Konflikte innerhalb der Assoziation sowie ihre Entwicklung zur landesweiten Organisation, die am Ende des Zweiten Weltkrieges mehr als eine halbe Million Mitglieder in über 1000 Ortsgruppen hatte. Es handelt sich dabei jedoch keineswegs um eine trockene Organisationsgeschichte, sondern um eine elegant geschriebene und in den größeren historischen Kontext der amerikanischen Geschichte eingebettete „story“, die viel Empathie für ihre Protagonisten aufbringt. Tatsächlich bekennt die Autorin im Vorwort, sie habe versucht, die Anregung ihres inzwischen verstorbenen Lektors zu beherzigen, der sich ein Buch wünschte, „das meine Eltern lesen werden“ (S. IX).

Bei allem Respekt vor dem legitimen und wichtigen Anliegen, für einen breiten Leserkreis zu schreiben, muss freilich auch auf die Nachteile und Probleme hingewiesen werden, die damit einhergehen und die der Verfasserin vermutlich nur zum Teil anzulasten sind. Amerikanische Publikumsverlage halten es nämlich inzwischen für völlig unzumutbar, den „general reader“ auch nur andeutungsweise mit wissenschaftlichen Problemen oder gar Kontroversen zu behelligen. Leider hält sich Sullivan konsequent an diese Vorgaben und unternimmt so gut wie keinen Versuch, ihre Leser für die wechselvolle historiographische Karriere der NAACP und die wichtigsten Streitfragen zu sensibilisieren, die in den letzten Jahrzehnten die Forschung zur NAACP und zur Bürgerrechtsbewegung insgesamt vorangetrieben haben. So spiegelt zum Beispiel ihr recht kurzer Abriss zur Frage, warum und mit welchen Folgen sich die NAACP im frühen Kalten Krieg den liberalen Antikommunismus auf die Fahnen heftete, nicht annähernd die Heftigkeit der Konflikte unter den Zeitgenossen geschweige denn der Kontroversen unter Historiker/innen. Sullivans offenkundiges Desinteresse, sich historiographisch zu positionieren, ja überhaupt ein klares Leitmotiv ihrer Geschichte zu formulieren, macht das Buch für die Fachhistoriker/innen deshalb zu einer Enttäuschung, auch wenn es zahlreiche neue Fakten bietet und manche bisher unbekannten Zusammenhänge aufzeigt.

Ein noch gewichtigerer Kritikpunkt ist freilich der chronologische Rahmen des Buches, das schon deshalb nicht die „definitive Geschichte“ der NAACP erzählt, wie es die Leseempfehlung von Henry Louis Gates auf dem Klappentext verspricht, weil es im Jahr 1960 abbricht und damit die zweiten fünfzig Jahre der NAACP-Geschichte völlig ausblendet. Dies mag dem Bestreben geschuldet sein, das Manuskript im Jubiläumsjahr zu publizieren, aber Sullivan kündigt weder einen zweiten Band an, noch begründet sie das recht abrupte Ende ihrer Darstellung sachlich. Stattdessen erfährt der Leser: “Other organizations moved to the fore in the 1960s....But the ground had already been tilled.” (S. 429) Damit wärmt Sullivan nun allerdings die überholte und irreführende Sichtweise wieder auf, die NAACP sei gleichsam nur ein Vorläufer der aktivistischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre gewesen. Tatsächlich spielte die NAACP auch in diesem Jahrzehnt eine zentrale Rolle bei der politischen Mobilisierung der schwarzen Bevölkerung ebenso wie in den strategischen Debatten und Konflikten innerhalb der Bewegung. Von den Rivalitäten zwischen der NAACP und Martin Luther King, Jr., etwa erfährt der Leser überhaupt nichts, King wird überhaupt nur ein einziges Mal am Rande erwähnt! Ebenso fallen die Auseinandersetzungen um gewaltlose direkte Aktion und die Militanz der Black Power Bewegung aus dem Rahmen des Buches. Obwohl Sullivans Epilog den Eindruck erweckt, die NAACP habe um 1960 ihre historische Mission erfüllt, überstand die Assoziation in Wirklichkeit die Herausforderungen der 1960er-Jahre, während ihre radikaleren Rivalen allesamt in der Bedeutungslosigkeit versanken. Selbst wenn man nicht unbedingt davon ausgehen durfte, dass Sullivan ihre Geschichte bis in die Gegenwart fortschreiben würde, ist die Ausblendung der 1960er-Jahre völlig unverständlich. Denn dadurch fehlt nicht nur das spannendste und entscheidende Jahrzehnt des Bürgerrechtskampfes, sondern es entsteht erneut ein verzerrtes Bild der historischen Bedeutung der NAACP.

Historiographisch fällt „Lift Every Voice“ hinter einen Forschungsstand zurück, der längst das Klischee von einer auf den Rechtsweg und die Kongresslobby fixierten „pressure group“ hinter sich gelassen und gezeigt hat, dass die NAACP eine tief in der „black community“ verwurzelte und eminent politische Massenorganisation war. Sullivan kennt diesen Forschungsstand und die Debatten der Historiker natürlich sehr gut. Umso unverständlicher ist, dass sie keinen ernsthaften Versuch unternommen hat, ein Buch zu schreiben, das die Fachhistoriker/innen befriedigt und dem geneigten Lesepublikum gefällt.

Anmerkung:
1 Siehe z.B. die Studie des Rezensenten. Manfred Berg, „The Ticket to Freedom“: The NAACP and the Struggle for Black Political Integration, Gainesville, Florida, 2005; vgl. jetzt auch Kevern Verney / Lee Sartain (Hrsg.), Long Is the Way and Hard: One Hundred Years of the National Association for the Advancement of Colored People, Fayetteville, 2009.

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