Die vorliegende Monografie zum Thema Kälte-Pop von Florian Völker besticht zunächst durch ihren Umfang. Auf mehr als 600 Seiten beschäftigt sich der Autor mit einem thematischen Bereich der bisher zumeist unter dem Begriff „Neue Deutsche Welle“ (NDW) abgehandelten deutschsprachigen Version der Pop-Genres New Wave und Post-Punk in den Jahren zwischen 1978 und 1983. Als Gegenbewegung einerseits zum links-alternativen Milieu und andererseits zur konservativen Mehrheitsgesellschaft zelebriert Kälte-Pop „Entemotionalisierung und Selbst-Entmenschlichung, Industrie und Großstadt, Entfremdung und Gefühllosigkeit, Künstlichkeit und Oberflächen-Ästhetik, Disziplin und körperliche Funktionalität, Gewalt und Härte, Zerfallszeichen und Todesmotive, thermische Kälte-Bilder wie Schnee und Eis, Baustoffe wie Beton und Stahl sowie technische Geräte wie Computer, Maschinen und Roboter“ (S. 1). Für Völker stehen diese Themen gleichzeitig im Zusammenhang mit deutscher Identität und dem Einfluss auf anglo-amerikanische Musik, mit Verweisen auf die Avantgarde der 1920er-Jahre und auf eine postmoderne Gegenkultur. Der hochambitionierte Versuch, den speziellen thematischen Aspekt der Kälte und eine damit zusammenhängende kulturelle Bewegung der „78er“ (S. 27) als entscheidende kulturelle Zäsur darzustellen, gelingt Völker, wie im Weiteren ausgeführt, bei aller stilistischen Kälte nur teilweise.
Kälte-Pop beginnt mit einer Vorgeschichte bestehend aus historischen Avantgarden, Dadaismus und Neuer Sachlichkeit sowie den Musikrichtungen Krautrock, Industrial, Punk, Post-Punk und New Wave. Daneben werden die Verwendung der deutschen Sprache, sogenannte „Szenemacher“ und die Musikpresse als entscheidende Faktoren in der Popularität von Kälte-Pop analysiert. Im Hauptteil des Buches (nach fast 250 Seiten Einführung!) behandelt Völker Motive und Strategien der Kälte mit entsprechenden Band-Fallstudien: Maschinenkult (Kraftwerk), Affirmation (Freiwillige Selbstkontrolle), resignative und schwarzromantische Elemente (Ideal, Grauzone), Untergangskult (Einstürzende Neubauten) sowie Sex, Gewalt und Disziplin (Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Die Krupps). Abschließend berichtet Völker über das Ende und Nachleben des Kälte-Pop mit besonderem Schwerpunkt auf die „Neue Deutsche Härte“ der Bands Laibach und Rammstein.
Der Begriff des Kälte-Pop bietet einen interessanten Ansatz, bleibt aber im Ganzen etwas unklar, so beinhaltet er etwa auch die „hitzige Kälte“ (S. 247) der Gruppe D.A.F. Die Reduktion auf Kälte-Motive wirkt teilweise etwas konstruiert, zumal sich die behandelten Bands nicht explizit als Teil einer Kälte-Bewegung sahen. Völker führt den Begriff mit einer Diskussion des Kraftwerk-Titelbildes der englischen Zeitschrift Sounds von 1977 ein, auf dem neben dem Titel „New Musick“ der Untertitel „The Cold Wave“ benutzt wird. „New Musick“ wird von Völker mitunter auch verwendet, ohne dass diese Bezeichnung bei einer weiteren Eingrenzung des Kälte-Begriffs helfen würde. Durchaus überzeugend ist die Beobachtung, dass sich Kälte-Pop gegen die „warme“ Musik der Hippie-Subkultur auflehnte, aber ein Vergleich zu historischer „Coolness“ – etwa im Jazz – hätte eventuell weitere Aufschlüsse erbringen können. Die Reduktion auf „kalte“ Musik scheint in Wahrheit einer ästhetischen Wertung zu folgen. Zwar mokiert sich der Autor darüber, dass man in der 68er-Bewegung an der Unterscheidung von Hoch- und Massenkultur festhielt (vgl. S. 486), fällt aber selbst ähnliche Werturteile über die „echte“, tatsächlich kalte NDW und weniger kalte sogenannte „Wellenreiter“ wie Nena und Joachim Witt. Ähnlich wie in Jürgen Teipels Oral History Verschwende Deine Jugend1 ignoriert der Autor viele dieser kommerziell erfolgreichsten NDW-Interpretinnen und Interpreten. Dafür räumt er Bands wie D.A.F. und Einstürzende Neubauten als auch dem Schauplatz West-Berlin gegenüber anderen lokalen Szenen sehr viel Platz ein. Zudem wird trotz der sehr ausführlichen Analyse der Diskografie von D.A.F. deren Sänger Gabi Delgado-López‘ Gastarbeiterfamilien-Hintergrund kaum behandelt. Dieser Hintergrund wäre insbesondere für einen Vergleich mit Kraftwerks Verbindung von Kälte und deutscher Identität von Bedeutung.
Obwohl Kälte-Pop thematisch ausgerichtet ist, folgt das Buch einem insgesamt überzeugenden historischen Ansatz und behandelt Popgeschichte als Zeitgeschichte und Musik als Spiegel der Zeit. Durch Quellen aus Tonträgern und Printmedien werden Songtexte, Interviews und Diskurse von Musikzeitschriften wie Sounds und Aussagen von „Szenemachern“ wie Diedrich Diederichsen herangezogen (von letzterem geben unzählige Zitate unreflektiert die Meinung des Autors wieder). Eine Musikanalyse kommt dabei etwas zu kurz, und es bleibt fraglich, ob die NDW – gerade im Vergleich zum Krautrock – musikalisch tatsächlich radikal Neues oder Anderes hervorbrachte. Krautrock ist für Völker lediglich „popkulturelles Vorspiel“ (S. 121) zur NDW. In Wahrheit sind aber beispielsweise Kraftwerk, denen Völker ein ausführliches Unterkapitel widmet, eher dem Krautrock zuzurechnen als der NDW. Völkers Ansatz bietet dennoch viele Denkanstöße, etwa in der Bezugnahme auf eine subjektkulturelle Theorie, die weder mit den Konzepten Subkultur oder Jugendkultur gleichzusetzen ist (S. 23), sondern mit der Neuen Linken und der 78er-Generation eine „Gegenkultur zur Gegenkultur“ (S. 28) darstellt. Es sei dahingestellt, ob die „Aktualisierung von links“ (S. 224) der 68er durch die 78er wirklich zu dramatischen Unterschieden führte, zumal Punk – laut Völker nicht Teil der 78er-Kultur – bereits von „Hippie-Hass“ gekennzeichnet war. Ebenso sei dahingestellt, ob ein „Fokus auf Stil, Selbstinszenierung und Distanz“ (S. 589) nicht schon frühere populäre Musik von David Bowie bis zu den Ramones kennzeichnet.
Das leicht verständliche und gleichzeitig komplexe Thema des Buches könnte ein allgemeineres Interesse wecken als ein rein akademisches, aber Völkers weitschweifende Ausführungen und extrem detaillierte Beschreibungen grenzen die Reichweite wiederum etwas ein. Auf das Wiederholen von bekannten Narrativen wie der Herkunftsgeschichte des Punk hätte eventuell verzichtet werden können. Bei aller Detailliertheit beinhaltet das Buch überraschenderweise ein paar unvollständige Sätze und faktische Fehler wie etwa die Behauptung, Herzlichen Glückwunsch sei das Nachfolgealbum von Spliff Radio Show (S. 483) – in Wirklichkeit erschien das erfolgreichste Album von Spliff, 81555, zwischen den beiden Veröffentlichungen. Nach den sehr ausdifferenzierten Aussagen über Kälte-Pop schlägt der Autor dann im Kapitel über Ende und Nachwehen plötzlich einen sehr verallgemeinernden und undifferenzierten Ton an. So behauptet er, die Popgruppe Modern Talking könne man „von angloamerikanischen Produktionen dieser Zeit kaum unterscheiden“ (S. 492) und die Musikrichtung Metal reproduziere „vorrangig traditionelle Rollenbilder weißer Männlichkeit“ (S. 493) – zwei Aussagen, für die man schnell Gegenargumente entwickeln könnte.
Florian Völkers Anspruch an die Bedeutung des Kälte-Pop ist hoch. Dieser sei, so Völker, „nicht einfach ein Teil-Phänomen innerhalb der NDW-Bewegung, sondern Ausdruck einer über Stilgrenzen hinweg wirksamen, sich radikal wandelnden Wahrnehmung, Ästhetik und Haltung zur Welt, Gesellschaft, Popkultur und dem eigenen Subjekt“ (S. 37). Die Mischung aus akribischer Forschung und Überinterpretation trägt diese Bewertung nicht immer. Zudem erscheint die Reduktion auf alles „Kalte“ manchmal konstruiert und führt ultimativ nicht zu einem radikal neuen Verständnis der Neuen Deutschen Welle. Dafür ist das Buch zu eng fokussiert und beleuchtet nur einen Teilaspekt der NDW, der weiterhin zu wenig Forschung gewidmet ist. Eine umfassende Studie über die NDW mit Berücksichtigung sowohl der ästhetisch radikaleren Post-Punk-Bands als auch der „Wellenreiter“ und des „Neuen Deutschen Schlagers“ wäre nach wie vor wünschenswert, auch wenn Völkers Studie bereits neue Ideen zum Verständnis der Bewegung beiträgt.
Anmerkung:
1 Vgl. Jürgen Teipel, Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt am Main 2012.