H.-W. Goetz (Hrsg.): Kontroversen in der jüngeren Mediävistik

Cover
Titel
Kontroversen in der jüngeren Mediävistik.


Herausgeber
Goetz, Hans-Werner
Erschienen
Köln 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miriam Weiss, Regesta Imperii, Universität des Saarlandes

Der 2023 erschienene Sammelband vereint 13 (mehrsprachige) Beiträge zu „Kontroversen in der jüngeren Mediävistik“ auf 472 Seiten. Den Beiträgen vorangestellt findet sich eine 42-seitige Einleitung des Herausgebers Hans-Werner Goetz, die nicht nur in den Sammelband einführt, sondern gleichzeitig einen gelungenen Überblick über die „Geschichte der Kontroversen“ (S. 10) gibt. Der vom Herausgeber selbst als „persönlich-subjektiver Versuch“ (S. 10) bezeichnete Querschnitt hält auf zweierlei Ebenen, was er verspricht: Er beinhaltet ein gewisses Maß an Subjektivität, zum Beispiel wenn festgehalten wird, dass „der Horizont der öden Gegenwart sich […] nur erweitern lässt, indem man Alternativmodelle in ihr schmales Gehirn hämmert“ (S. 44); gleichsam versammelt er verständlich und überschaubar zentrale Entwicklungen in der Mediävistik, wie beispielsweise die Alltags- oder Emotionsgeschichte sowie verschiedene turns (linguistic, cultural, global und digital), die natürlich einzeln bekannt sind, bisher aber nicht derart pointiert und kompakt zusammengefasst wurden. Ein zugehöriger Fußnotenapparat rundet das Ganze ab, wodurch die Einleitung auch „Einsteiger:innen“ wie Studierenden einen guten Ausgangspunkt an die Hand gibt, um sich in die Geschichte der Kontroversen in ihrem Fach einzuarbeiten. Das gleiche gilt für alle Beiträge des Bandes, die es ausnahmslos schaffen, gelungene Überblicke über die von ihnen thematisierte Kontroverse zu geben und diese mit grundlegender Literatur zu versehen, so dass sie mühelos als Einstieg in die Forschung fungieren können und sich auch für die universitäre Lehre eignen.

Bei den besagten „Kontroversen“ handelt es sich nicht, wie der Titel vielleicht vermuten ließe, nur um Forschungsdiskussionen zu mediävistischen Spezialthemen, sondern um allgemein diskutierte Forschungstendenzen in der Geschichtswissenschaft (zum Beispiel Globalgeschichte, Geschlechtergeschichte oder Archäogenetik) und ihre spezielle Einordnung in die Mediävistik. Die Beiträge zeichnen die Hauptlinien der jeweiligen Kontroverse nach und die Autor:innen stellen einhellig heraus, dass die Beteiligung der Mediävistik an den Diskussionen zumeist mehr reagierend als initiierend ist. So hält auch Goetz fest: „Dass mediävistische Diskussionen ihrerseits auf die gesamte Geschichtswissenschaft zurückwirken, ist in den letzten 50 Jahren hingegen kaum mehr zu beobachten und entspricht ihrem Bedeutungsverlust im Gesamttableau der Wissenschaften und der Gesellschaft“ (S. 47). Folgerichtig beschäftigt sich der Band mit der Frage, wie derartige, allgemeine Debatten „aufgegriffen und umgeformt werden und inwieweit sich daraus spezifisch mediävistische Eigenheiten, Inhalte, Formen, Akzente und Argumentationsprinzipien erkennen lassen“ (S. 30). Erfreulicherweise schließen alle Beiträge Überlegungen über zukünftige Möglichkeiten der Teilhabe der Mediävistik an den allgemeinen Diskussionen, insbesondere methodisch, ein.

Die 13 Beiträge des Sammelbandes verteilen sich auf zwei Abschnitte. Im ersten Abschnitt thematisieren sechs Autor:innen „Kontroverse Forschungsrichtungen und Ansätze“ (S. 49), zu denen beispielsweise die „Critical Race Theory“, die Alterität des Mittelalters oder die mediaevistische Geschlechtergeschichte gehören. Im zweiten Teil werden in sieben Beiträgen „Kontroverse Themen und Fachgebiete“ (S. 231) behandelt, so beispielsweise Watsons’s Green Revolution, die Reconquista oder das Lehnswesen. In allen Beiträgen zeichnen die Autor:innen die von ihnen thematisierte Kontroverse nach. Das Ziel ist dabei nicht die eigene Stellungnahme zu, sondern das Erklären der Kontroversen.

Ohne jeden Beitrag einzelnen thematisieren zu können, lassen sich hier doch einige gemeinsame Erkenntnisse der Autor:innen festhalten. So kristallisiert sich überall die Standort- und Zeitgebundenheit der Entstehung und Austragung von Kontroversen heraus. Die Debatten leben, wenn sie einmal aufgekommen sind, in der Regel fort und haben zumeist mehrere Stränge, die in den Beiträgen gut zum Ausdruck kommen. Vielfach zeigt sich die Problematik, heutige Sichtweisen und Ansätze auf das Mittelalter zu übertragen. Es lässt sich aber deutlich erkennen, dass dennoch versucht wird, sich produktiv mit Neuem auseinanderzusetzen und dies zu vielen ausgefallenen Perspektiven in der Mediävistik führte und führt. Die Mediävistik zeigt sich dabei als äußerst offen gegenüber neuen Methoden und Ansätzen und diskutiert Möglichkeiten für die eigene Forschung. Die Herangehensweise des Bandes, eine „mediävistische ‚Streitkultur‛ aufzuarbeiten“ (S. 46), erscheint damit insbesondere dahingehend fruchtbar, dass deutlich wird, welche Bandbreite an Themen und Methoden sich für die Mediävistik bereits aufgetan hat und wie aussichtsreich es damit auch heute sein kann, neue Sphären zu betreten. Es lässt sich damit die von Hans-Werner Goetz geäußerte Randbemerkung, dass ihm „selbst die thematische und methodische Offenheit der jetzigen Geschichtswissenschaft gerade als ein großer Vorteil erscheint“ (S. 28), nur unterschreiben. Auch wenn dies Mediävist:innen im Grunde klar ist, führt der Zuschnitt des Bandes es noch einmal eindrücklich vor Augen.

Der Band schließt mit einem dreigeteilten Register, in welchem dem Personen- und Sachregister ein „Register der Namen moderner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (erstellt vom Herausgeber)“ (S. 443) vorausgestellt wird.

Es liegt in der Natur der Sache und wird auch vom Herausgeber thematisiert, dass in den Sammelband nur eine Auswahl an Kontroversen aufgenommen werden konnte. Sicherlich ließen sich zahlreiche weitere Debatten hinzufügen und der Horizont ließe sich mit Hilfe anderer mediävistischer Disziplinen erweitern. Dafür liefern die hier vorgeführten Kontroversen und die Art ihrer Aufbereitung einen schönen Ausgangspunkt.

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