In gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart ist Armin Nassehi eine der meistgehörten und produktivsten Stimmen seines Fachs. Der Münchner Soziologe sticht nicht nur durch Thesenstärke hervor, sondern auch durch die Breite des Spektrums an politisch relevanten Themen, mit denen er sich beschäftigt. In jüngerer Vergangenheit reichten sie von Fragen nach dem Wesen und Erbe von „1968“1 bis zu Theorien der „digitalen“ und der „überforderten“ Gesellschaft.2 Nun hat Nassehi sich das Feld des Begriffsgebrauchs vorgenommen und eine gleichermaßen eigenwillige wie originelle Sondierung „[g]esellschaftliche[r] Grundbegriffe“ vorgelegt. Damit trifft er in doppelter Hinsicht einen Nerv der Zeit. Denn der Sprachgebrauch in Politik und Gesellschaft steht seit einigen Jahren unter verstärkter Beobachtung; die Sensibilität für Begriffe und für die performativen Effekte ihrer Verwendung hat in verschiedenen Sphären der Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Massenmedien merklich zugenommen.3 Darüber hinaus hat sich die Geschichtswissenschaft – in Kooperation mit Sprach- und Literaturwissenschaften – seit 2020 eines Vorhabens angenommen, das schon mehr als eine Dekade programmatisch diskutiert worden war: dem Projekt „Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“.4 So steht nun, etwa drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen des letzten Bandes der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, deren Fortschreibung an, mithin die Historisierung des Sprachgebrauchs im 20. Jahrhundert.5
Nassehis Anspruch, den er in seiner instruktiven, aber dichten und dadurch herausfordernden Einleitung sehr transparent macht, ist geringer und komplexer zugleich. Ihm geht es nicht darum, aus soziologischer Perspektive in ähnlicher Weise wie lexikalische Großprojekte benachbarter Disziplinen umfassende Begriffsgeschichten vorzulegen. Sein Anliegen, das sich sowohl an die soziologische Fachcommunity als auch eine erweiterte, wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit richtet, ist enger gefasst: Es zielt darauf ab, die Gebrauchsweisen von Begriffen zu analysieren, die für gesellschaftliche Debatten zentral sind und – nicht immer, aber seit der Mitte des 20. Jahrhunderts oft – der Soziologie entstammen, jedoch weit in die allgemeine „öffentliche Rede“ diffundiert und dort partiell mit neuen Bedeutungsfacetten aufgeladen worden sind. Dabei richtet Nassehi seinen Interessenfokus auf den „Eigensinn und das Eigenleben der Begriffe“ und fragt konsequent nach den performativen Folgewirkungen ihrer Verwendung (S. 11). Die Grundannahme lautet, dass die für das Glossar ausgewählten Begriffe jeweils für Lösungen eines spezifischen Problems, einer gesellschaftlichen Herausforderung stehen und so zugleich zeigen, wie in der Gesellschaft über die Gesellschaft nachgedacht wurde und wird (S. 16).
Nassehi nimmt seine Leser:innen nicht auf eine allzu simple Reise mit, die von einem unterstellten ursprünglichen Bedeutungsgehalt eines Begriffs zu einer Veränderung oder nicht selten Verwässerung der Semantik in breiteren gesellschaftlichen oder engeren politischen Debatten führt. Diese Denkbewegung geschieht zwar gelegentlich en passant. Im Zentrum aber steht das Aufzeigen und Reflektieren der Funktionen dessen, was die Begriffe bezeichnen, für gesellschaftliche Ordnungs-, Verständigungs- und Handlungsmodi. Anders ausgedrückt: Nassehi betrachtet die Funktionsweisen und Selbstbeschreibungen des Sozialen anhand tragender Termini, die er einer „Rückholaktion“ (S. 9) in die engere Perspektive seines Fachs unterzieht und für deren weniger freihändigen Gebrauch in den Sozialwissenschaften er so durchaus plädiert. Es ist indes nicht sein Ziel, auf breiter Front „richtige“ von „falschen“ Verwendungen zu unterscheiden, sondern zu zeigen, welche performativen Effekte der Gebrauch bestimmter Begriffe hat.
Insgesamt 19 Begriffe unterzieht der Soziologe einer eingehenden Betrachtung. Diese alphabetisch geordneten Begriffe reichen von „Demokratie“ und „Freiheit“ über „Identität“ und „Krise“ bis zu „Technik“ und „Wissen“ – auch „Gesellschaft“ selbst kommt vor. Der Umfang der einzelnen Artikel variiert, zumeist liegt er bei etwa 10 bis 20 Seiten. Nassehi legt in zweifachem Sinne ein „Glossar“ vor; zum einen handelt es sich um ein fundiertes „Wörterbuch“, das vornehmlich die deutsche Gegenwartsgesellschaft im Gewand ihrer Begriffe reflektiert, zum anderen um eine Zusammenstellung höchst lesenswerter aufsatzartiger wissenschaftlicher „Glossen“.6 Deren Inhalte vereinen theoriegeleitete Erörterungen zu frühen soziologischen Bedeutungen der Begriffe (und mitunter ihrem ideengeschichtlichen Fundament) und zum semantischen Wandel, der aus dem Einsatz der Begriffe resultiert, sowie Reflexionen der Funktionen der jeweils auf den Begriff gebrachten Mechanismen des Sozialen. Letztere reichen punktuell bis an die Schwelle zur politischen Gegenwartskritik, überschreiten diese Schwelle aber nicht. An keiner Stelle wird das Glossar zu einer dezidierten politischen Streitschrift, an vielen Stellen jedoch zu einer verhältnismäßig unverblümten Reflexionsaufforderung.
Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist Nassehis Buch zuallererst für die zeithistorische Forschung von Wert, die in besonderer Weise interdisziplinär offen sein sollte und zugleich umsichtig in der Wahl ihres Analysevokabulars, zumal dann, wenn dieses mit der Sprache ihrer Quellen überlappt. Darüber hinaus ist das Glossar aus naheliegenden Gründen ausgesprochen anregend für die Historische Semantik innerhalb der Geschichtswissenschaft. Ihr kann Nassehis soziologische Perspektive, die auf einer selten eingenommenen Flughöhe zwischen Höhenkammherleitung, soziologischer Kontextualisierung, Sprachgebrauchsanalyse und gesellschaftlicher Alltagsbeobachtung angesiedelt ist, zusätzliche Blickwinkel und Reflexionsgrade eröffnen. Ein plastisches Exempel hierfür bietet der Artikel „Konflikt“, in dem Nassehi die Lösungskompetenz des Konfliktbegriffs nachzeichnet und sie vor allem darin sieht, gesellschaftliche Ordnungsprobleme in ein klares antagonistisches Schema zu integrieren, also für eine notwendige Komplexitätsreduktion zu sorgen. Konfliktfreie moderne Gesellschaften seien gleichermaßen unmöglich wie unerwünscht, weil die Zuspitzung auf antagonistische Alternativen eine Bedingung für das Funktionieren des stabilen und demokratischen Politischen sei (S. 182–184). Nassehis Beobachtungen und Thesen bieten in der Summe ein hervorragendes Potenzial zur Überprüfung, produktiven Irritation und im Idealfall Theoretisierung im engeren Sinne historisch-semantischer Befunde. Letztlich liefern seine Artikel eindrückliche Beispiele dafür, wie man öffentliche Redeweisen aus dem 20. und 21. Jahrhundert theoriegeleitet und begriffssensibel untersuchen kann, auch ohne sich in den Rahmen von Begriffsgeschichte oder geschichtswissenschaftlicher Semantikanalyse einzupassen.
Wenn man von diesem Rahmen ausginge, ergäben sich indes einige wenige Kritikpunkte. Wie bei jedem derartigen Projekt betreffen sie zuerst Auswahlkriterien und -entscheidungen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die berücksichtigten Begriffe als auch hinsichtlich der Belege und Referenzen in den Artikeln (in denen Nassehi sich mehrfach nicht scheut, auf sich selbst zu verweisen). Während Letzteres eine Herausforderung ist, deren Lösung zu kritisieren wohlfeil ist, weil sie aus guten Gründen immer auch anders ausfallen könnte, wünschte man sich bei der Erörterung der Begriffsauswahl schärfer formulierte Kriterien (S. 16f.). Nassehi verbleibt an dieser Stelle weitgehend bei einer Erläuterung der Eigenschaften seiner „Grundbegriffe“, während er nur wenige Worte auf die Begründung ihrer Auswahl verliert. Infolgedessen bleibt auch offen, warum manche Begriffe, deren Berücksichtigung man hätte erwarten können, etwa „Gewalt“ oder „Recht“, im Glossar nicht auftauchen.
Darüber hinaus wäre es begrüßenswert, wenn in den Artikeln der konkrete Sprachgebrauch stärker zur Geltung käme. Verglichen mit aktueller historisch-semantischer Forschung, nicht zuletzt den entstehenden „Grundbegriffen des 20. Jahrhunderts“, fällt die Dichte im Fließtext zitierter Quellen verhältnismäßig gering aus. Überspitzt: Begriffsgebrauch wird analysiert, ohne dass allzu oft Akteur:innen beispielhaft zu Wort kämen. Das unterscheidet Nassehis Perspektivierung der performativen Effekte des Begriffsgebrauchs deutlich von historisch-semantischer Forschung im engeren Sinne, die versucht, durch die Interpretation einer Vielzahl konkreter Sprachgebrauchssituationen den pragmatischen Zweck und die performativen Resultate der Begriffseinsätze herauszupräparieren. Befunde werden dadurch anschaulicher hergeleitet; zudem wird der Fokus so nicht selten auf ganze Wortfelder inklusive der Berücksichtigung von Gegenbegriffen ausgedehnt. Der Preis, den die Historische Semantik dafür zahlt, liegt darin, dass mehr Platz benötigt und bisweilen vor übergreifenden Thesen und Theoretisierungsangeboten zurückgeschreckt wird. Wer zuvorderst auf Letztere aus ist, wird bei Nassehi fraglos besser bedient und fündig, muss ihm hierfür allerdings auch mehr Vertrauen entgegenbringen respektive schlicht „glauben“ – was nicht schwer fällt. Insofern erfüllt sein Glossar genau den Zweck, der in der Einleitung formuliert wird. Zugleich führt es einmal mehr bekannte Unterschiede zwischen benachbarten Disziplinen vor Augen, gerade im arbeitspraktischen Umgang mit ähnlichen Erkenntnisinteressen – und es zeugt von den auch methodisch größeren Eigensinnigkeiten, die sich ein Einzelautor auf bislang nicht betretenem Terrain mitunter herausnehmen kann.
Ein letzter Punkt, der zu prinzipiellen Nachfragen einlädt, bezieht sich auf eine höchst spannende Andeutung, die Nassehi in der Einleitung einstreut, als er auf die „Geschichtlichen Grundbegriffe“ und das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ zu sprechen kommt. Seine Vermutung lautet, dass diese Großprojekte nicht zufällig beide Anfang der 1970er-Jahre konzipiert worden seien. Wahrscheinlich sei es zu diesem Zeitpunkt zum letzten Mal möglich gewesen, „eine kanonisierbare Bestandsaufnahme“ zu machen (S. 15). Seither habe sich in öffentlichen Debatten ein merklicher qualitativer Wandel vollzogen; „Begriffsverwendungen [fielen heute] beliebiger, idiosynkratischer und wohl auch weniger selbstkontrolliert aus“, was unter anderem mit der „Symmetrisierung von Sprecherpositionen“ zusammenhänge (ebd.). Diese (Hypo-)These markiert einen bedenkenswerten Punkt, der geschichtswissenschaftliche Befunde zu sukzessive gesteigerten Graden an Sprachreflexion in der politischen Kommunikation seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sowohl stützen als auch infrage stellen könnte.7 Um hierüber interdisziplinär ins Gespräch kommen zu können, bräuchte man freilich konkrete Beispiele und tiefergehende empirische Herleitungen, die über Einzelbeobachtungen in den Artikeln hinausgehen. Dass Armin Nassehi sie zur Hand hätte, lässt sich ziemlich sicher annehmen.
Anmerkungen:
1 Armin Nassehi, Gab es 1968? Eine Spurensuche, Hamburg 2018.
2 Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019; ders., Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021.
3 Kristoffer Klammer, Gewinn oder neue Hürde im politischen Alltag? Sprachreflexion als Element politischer Kommunikation und gegenwärtige Herausforderung (1949–2021), in: Historische Zeitschrift 317 (2023), S. 95–128.
4 Hierzu knapp: Ernst Müller / Barbara Picht / Falko Schmieder, Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland, in: Archiv für Begriffsgeschichte 63,1 (2021), S. 7–29.
5 Für eine Übersicht zum Projekt siehe https://www.zfl-berlin.org/projekt/das-20-jahrhundert-in-grundbegriffen.html (16.02.2024).
6 In dieser Anlage und in der Motivation, zur (Begriffsgebrauchs-)Reflexion anzuregen, ähnelt es mithin: Brigitta Schmidt-Lauber / Manuel Liebig (Hrsg.), Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar, Wien 2022.
7 Exemplarisch: Willibald Steinmetz, Some Thoughts on a History of Twentieth-Century German Basic Concepts, in: Contributions to the History of Concepts 7,2 (2012), S. 87–100, hier S. 99f.