A. Smyth (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of the Book in Early Modern England

Cover
Titel
The Oxford Handbook of the History of the Book in Early Modern England.


Herausgeber
Smyth, Adam
Erschienen
Preis
£ 120.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bellingradt, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Handbücher gelten auch in den Geisteswissenschaften als Indizien und Ausweis für einen gelungenen disziplinären oder thematischen Reifeprozess, den es zu dokumentieren und zu sichern gilt. In diesem Sinne kann das von Adam Smyth, Professor für „English Literature and the History of the Book“ am Balliol College der Universität Oxford, herausgegebene Handbuch zugleich als Reifezeugnis und Momentaufnahme einer Buchgeschichte zur Epoche der Frühen Neuzeit in England verstanden werden. Historische Perspektiven auf Publikationen und deren Kommunikationskontexte firmieren in der englischsprachigen Forschungswelt gemeinhin als „Book History“ beziehungsweise „History of the Book“. Unter diesen Oberbegriffen versammelt sich traditionell eine Vielfalt an interdisziplinären Forschungszugängen, -interessen und -themen rund um historische Herstellungs-, Nutzungs- und Rezeptionsfragen aller nur erdenklichen Publikationsformen der Vergangenheit. In der deutschsprachigen Buchforschung wird diese nur lose zusammengehaltene Vielfalt zunehmend als Blickwinkel auf schrift- und bildorientierte Kommunikation umschrieben. Einer der Gründungsväter einer „history of the book“, nämlich Robert Darnton, wählte für diese Vielfalt bereits vor vier Jahrzehnten deutliche Worte. Als „interdisciplinary run riot“ beschrieb Darnton damals pointiert die sich noch formende buchhistorische Forschung.1 Der Herausgeber des hier vorzustellenden Handbuchs bezieht sich in seiner Einleitung indirekt auf diese als Amoklauf umschriebene Vielfalt, wenn er betont, dass dieses Handbuch nicht repräsentativ für das Forschungsfeld sei, sondern lediglich einige der möglichen Pfade von buchhistorischer Forschung („some of the ways“) thematisiere (S. 3). In ähnlichem Sinne aber mit anderen Worten versucht der Werbetext auf dem Buchumschlag diesen Punkt zu fassen: Die Beiträge, so heißt es dezent, stammen „from a range of disciplines“. Wer sich mit den einschlägigen Publikationen einer erweiterten, epochenübergreifenden „Book History“ beschäftigt, oder die Webseiten der wenigen Studienprogramme und Forschungseinrichtungen kennt, ist vertraut mit solchen Umschreibungen.

Was wird nun geboten auf mehr als 700 Seiten „History of the Book“, unterteilt in 37 Kapitel und 4 Sektionen, mit doppeltem Spezialfokus auf Frühneuzeit und England? Der erste Beitrag des Herausgebers, der als Einleitung dient, ist als betrachtende Denkleistung deklariert: „Thinking about the History of the Book“ hat Smyth sein Einführungskapitel überschrieben. Smyth attestiert der gegenwärtigen buchhistorischen Forschung eine Dynamik. „Book-historical work within the last five years, and particularly since 2020, has developed a powerfully self-reflective quality which was absent from much (but not all) bibliographical work across the twentieth century”, so Smyth (S. 14). Es seien diese Neuerungen, so Smyth weiter, denen sich das Handbuch schwerpunktmäßig verpflichtet fühle. Ohne die neuen Strömungen alle aufzulisten, mit Ausnahme einer exemplarisch genannten „feminist bibliography“, könne man diese sich selbst im Handbuch erlesen, so der Gedankengang Smyths. In der ersten Sektion mit dem Titel „Ways of Approaching the History of the Book“ werden dann auch einige (relativ) neue Zugänge zum Forschungsfeld vorgestellt. Hierzu gehören buchhistorische Annäherungen an die sogenannten Premodern Critical Race Studies (PCRS), an die erwähnte Genderperspektive in Form einer „feminist bibliography“, und an Materialitätsforschungen (hier mit Blick auf Papiergeschichte vorgestellt). Daneben finden sich bekannte Themenfelder der Buchgeschichte zur Frühen Neuzeit; es geht um Sensibilität für konkrete Arbeitspraktiken der Herstellung oder einen inklusiven Blick auf die Vielfalt an frühneuzeitlicher Papierpublizistik. In der englischsprachigen Forschung firmiert diese Perspektiverweiterung auf die Vielfalt der Kleindrucke bevorzugt unter „popular print culture“. Und so mag es überraschen, dass im Kontext dieser mittlerweile etablierten Medienverbund-Würdigung die sogenannte News History, wie sie prominent von Joad Raymond und Andrew Pettegree sichtbar gemacht wurde, nicht gesondert gewürdigt wird. Allerdings ist der generelle Trend, dass die Buchforschung nicht mehr ausschließlich das monografische Papierbuch betrachtet, eine substantielle Weiterentwicklung einer mittlerweile kommunikationshistorisch aufgestellten „book history“.

Während die selten mehr als 10 Seiten umfassenden Kurzkapitel der ersten Sektion geprägt sind von vorsichtigen Worten dazu, welche Vorteile und Konsequenzen neue Interpretationslinien und Erneuerungswellen für das Fach haben (werden), geht es in der zweiten Sektion („Making Books“) erwartbarer zur Sache. Wer machte wie und wo Publikationen in England, lautet hier die altbekannte Grundfrage. In der dritten Sektion („Moving Books: Selling, Circulating, Borrowing, Imagining“) fallen ebenfalls bekannte Themen auf, nämlich der stationäre Verkauf von Buchwaren, die internationale Einbindung Englands in europäische Buchmärkte, und der typische Handel mit gebrauchten Büchern. Erstaunlicherweise fehlt ein Kapitel zum sogenannten ambulanten oder mobilen Buchhandel, also zu jenen auch für England gut erforschten „mobile sellers“ und „pedlars“. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass handbuchübergreifend einschlägige Forschungsstände und Literaturberücksichtigungen fehlen.2 In der vierten Sektion („Using Books“) sind einerseits kuratorische, konservatorische und restauratorische Stimmen versammelt, die auf gegenwärtige und zukünftige Nutzungen und Bereitstellungen von vormodernen Publikationen hinweisen. Wer Altbestände in eine Wissenschaftskommunikation einzubinden plant, mag besonders an den Überlegungen von Caroline Duroselle-Melish Gefallen finden. Zugleich finden sich in dieser Sektion auch Beiträge zu möglichen Forschungsperspektiven rund um das Benutzen von frühneuzeitlichen Buchmedien. Emma Smiths Einschätzungen zum typischen Lautlesen der Vergangenheit und Alexandra Hills Tipps zum Umgang mit vermeintlichen und tatsächlichen Überlieferungslücken sind überaus lesenswert.

Andererseits wird im letzten Kapitel von Whitney Trettien erstmals explizit die digitale Zukunft von Buchgeschichte adressiert. Zwar finden sich immer mal wieder verstreut Hinweise auf die bereits existenten digitalen Datenbanken, die eine englische Frühneuzeitbuchgeschichte in nahezu beneidenswerter Fülle ausmachen – hier sei lediglich kurz an den English Short Title Catalogue (ESTC), den Universal Short Title Catalogue (USTC), Early English Books Online (EEBO), das English Broadside Ballad Archive (EBBA), die Database of Early English Playbooks (DEEP) oder den British Book Trade Index (BBTI) erinnert. Aber eben nur das eine Kapitel von Trettien widmet sich explizit einer „History of the Early Modern Book in the Digital Age“, was überrascht in einem Handbuch, das sich den Neuerungsprozessen einer historischen Forschungsperspektive widmen will, so wie es Smyth zu Beginn erwähnte. Trettiens Beitrag ist als letzter des Handbuchs in vielen Aspekten eine Antwort und Erweiterung von Smyths Einleitung; auch wenn dies nicht explizit ist, kommt beiden Kapiteln eine rahmende Funktion zu. Während Smyth den Wandel andeutet, führt Trettien vor Augen, was diesen Wandel in der Forschungspraxis möglich macht und ausmacht. Trettien betont, dass das ohnehin schon breite Forschungsfeld einer „book history“ durch den zunehmenden Einsatz von digitalen Methoden und zukünftigen, fusionierten, miteinanderverbundenen und verbesserten Repositorien zu einem nochmals unordentlicheren Forschungsfeld („a much messier, more interdisciplinary field“, S. 721) geraten werde. Nicht nur Robert Darnton wird diese Prognose vermutlich lächelnd bestätigen. Wie die skizzierte digitale Zukunft in der Praxis ermöglicht und umgesetzt werden kann, findet übrigens auch kurz Erwähnung. Es bedürfe, so Trettien, neben Ideen, Forschungselan und Arbeitsstellen vor allem an einer grundlegenden Sache, die aber vielleicht gar nicht kommen werde, nämlich: „more funding“ (S. 721). Mit diesen Einschätzungen endet das Handbuch.

Es ist dem Herausgeber gelungen, ein Mammut-Werk zu organisieren, das einerseits ein Fach im Wandel begriffen zeigt, und andererseits eine existente und dynamische Forschungswelt innerhalb einer auf England blickenden „early modern studies“ in großen Teilen abbildet. Nur zum Vergleich: Ähnliche Großprojekte zu anderen Regionen des frühneuzeitlichen Europas existieren bislang nicht, und werden wohl auch in Zukunft nicht umgesetzt werden können. Doktoranden- wie Post-Doc-Stellen und Professuren für historische Studien verschwinden nämlich nicht nur innerhalb der deutschen Buchwissenschaft. Vielmehr ist europaweit eine Enthistorisierung der Buch-, Medien- und Kommunikationsforschung festzustellen. Dass das Handbuch mit Texten so vieler kundiger Beiträgerinnen und Beiträgern erscheinen konnte, dokumentiert bereits einen beneidenswerten Erfolgsfall; der Band ergänzt und erweitert teilweise auch die anderen buchhistorischen Überblickswerke zu Großbritannien oder zur europäischen Epoche.3 Das Handbuch ist ein Beleg der Wandelbarkeit und steten Weiterentwicklung des Forschungsfeldes von einer deskriptiven Bibliografie hin zu einer Kulturgeschichte der Buchnutzungen. Formuliert im Gewand einer Epochenperspektive auf England bietet es vor allem der englischsprachigen Fach-Community Impulse und Denkhorizonte, die eines Tages für eine noch ungeschriebene europäische Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit von großem Wert sein werden.

Dass ein solches Großprojekt auch mit Mängeln versehen ist, war zu erwarten. Mit der Wahrnehmung von internationalen Forschungen, die nicht in Englisch publiziert werden, tut sich die englischsprachige Buchgeschichte traditionell schwer. Dieser Befund gilt leider umso deutlicher für ein Handbuch, das sich exklusiv England widmet. Kontinentalblicke nach Europa, ja selbst Perspektivweitungen auf Großbritannien und seine Kolonien, vergleichender, einordnender, kontrastierender Art, hätten vielen Beiträgen gutgetan. Während die kondensierte Schreibweise in Kurzkapiteln eine gute Orientierung zu bestimmten Themen ermöglicht, reduziert sie zugleich den Tiefgang und die bibliografische Detailebene. Dass zur Buchzensur, oder generell zu regulatorischen Möglichkeiten einer Kommunikationsbeeinflussung in England, weder ein eigenes Kapitel oder auch nur ein längerer Absatz zu finden ist, darf als eklatante Leerstelle gelten. Ebenso auffällig ist die prominente Nichterwähnung der „News History“. Ebenso seltsam ist die ausgebliebene Kritik an der Gegenwart und Zukunft von digitaler Buchgeschichte zu England, deren Quellenzugänglichkeit großteils auf kostenpflichtigen Nutzungsangeboten seitens privatwirtschaftlicher US-Unternehmen wie ProQuest beruht.

Anmerkungen:
1 Robert Darnton, What Is the History of Books?, in: Daedalus, 111(3) (1982), S. 65–83, hier S. 67.
2 Zu diesen Auslassungen gehören regelmäßig nicht-englischsprachige Forschungen, wie etwa Graham Jefcoats, Deutsche Drucker und Buchhändler in London 1680–1811, Berlin 2015, aber eben auch englischsprachige Forschungen, wie beispielsweise zum erwähnten mobilen Buchhandel. Exemplarisch: Roeland Harms / Joad Raymond / Jeroen Salman (Hrsg.), Not Dead Things. The Dissemination of Popular Print in England and Wales, Italy, and the Low Countries, 1500–1820, Leiden 2013.
3 Vgl. Sarah Werner, Studying Early Printed Books 1450–1800. A Practical Guide, Hoboken, NJ 2019; Leslie Howsam, Old Books and New Histories. An Orientation to Studies in Book and Print Culture, Toronto 2006; James Raven, What Is The History of the Book?, Cambridge 2018; und den Frühneuzeitband der Cambridge History of the Book in Britain, hrsg. von John Barnard / Donald F. McKenzie / Maureen Bell, Cambridge 2002.

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