Ch. Witthöft (Hrsg.): Kompromissfindung in der Literatur und Kultur des Mittelalters

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Titel
Kompromissfindung in der Literatur und Kultur des Mittelalters. Strategien und Narrative zwischen Zweifel, Dissens und Aporie


Herausgeber
Witthöft, Christiane
Erschienen
Berlin 2023: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 438 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die systematische Erforschung des Kompromisses steht in der Geschichtswissenschaft wie in den Literaturwissenschaften erst am Anfang. Neben der häufig unreflektierten Verwendung des Begriffs für verschiedene Formen der Übereinkunft lässt sich erst in den letzten Jahren ein geschärftes Verständnis erkennen, zweifellos unter dem Eindruck entsprechender theoretischer Angebote aus der Politikwissenschaft und der Philosophie.1 Zudem wird in der Geschichtswissenschaft gerne angenommen, es handele sich beim Kompromiss vorrangig um einen Gegenstand der Moderne. So ist zuletzt insbesondere die Beziehung von Parlamentarismus beziehungsweise Demokratie und Kompromiss erhellt worden.2 Die Mediävistik dagegen hat sich lange kaum für den Kompromiss interessiert, sondern ist davon ausgegangen, diese Form der Konfliktregulierung habe in ihrer Epoche angesichts einer Orientierung am Konsens allenfalls eine marginale Rolle gespielt. Der von der Germanistin Christiane Witthöft herausgegebene Band, der auf eine 2021 im Kloster Irsee veranstaltete Tagung zurückgeht, ist angetreten, das zu ändern.

Witthöft nähert sich dem Thema in ihrer ebenso kenntnisreichen wie instruktiven Einführung auf überraschende Weise, da sie nicht von Konfliktlösung im politischen Feld ausgeht, sondern vom Zweifel als abwägendem Prüfen und Hinterfragen. Kompromisse bestimmt sie als Prozess oder Ergebnis eines solchen Prozesses des kritischen Abwägens, in dem man sich auf halbem Wege entgegenkommt. Diesem Ansatz entsprechend interessieren sich die versammelten Beiträge vor allem für historische Ereignisse und literarische Schilderungen, denen ein Moment der Unbestimmtheit innewohnt. Daraus erwächst Zweifel, der durch abgewogene Urteile und Entscheidungen, Verfahren und Handlungsfolgen, Narrative und Metaphern bearbeitet wird, ohne notwendig überwunden zu werden.

Durchgeführt wird das von Witthöft entworfene Programm in vierzehn Beiträgen, die in drei Sektionen gegliedert sind. Auf den religiösen Zweifel folgen die Politik und die Literatur. Der so erkennbare Anspruch, interdisziplinär zu arbeiten, wird tatsächlich eingelöst, obwohl die meisten Beiträge der Literaturwissenschaft oder der Geschichte entstammen. In der ersten Sektion widmet sich Susanne Köbele dem Zweifel bei Ramon Llull. Er identifiziert in seinen theoretischen Schriften neben wahren und falschen Aussagen im Anschluss an die antike rhetorische Theorie als dritte Kategorie solche, die behandelt werden, als ob sie wahr wären. Sie stellen nach Köbele einen epistemologischen Kompromiss dar. In seinem Roman „Felix“ wiederum gestaltet der vielseitige Llull Zweifel literarisch als etwas, das der Protagonist immer wieder zu überwinden hat. Dass Zweifel für Llulls Denken so wichtig ist, hängt Köbele zufolge auch mit der Ausrichtung seiner Philosophie zusammen, welche Juden und Muslime von der Wahrheit des Christentums überzeugen sollte. Gerd Althoff zeigt, dass im Hochmittelalter gerade bei Irritation auslösenden Ereignissen wie unerwarteten Todesfällen diskutiert wurde, ob man es mit einem Eingreifen Gottes zu tun habe. Grundsätzlich bezweifelt worden sei nicht etwa die Möglichkeit, dass übernatürliche Mächte in den Weltlauf eingreifen könnten, wohl aber sei stets strittig gewesen, ob im konkreten Fall eine derartige Intervention vorliege oder das Ereignis durch Rekurs auf natürliche Ursachen erklärbar sei. Jörg Oberste widmet sich Streitgesprächen in Okzitanien um 1200, die erweisen sollten, ob jemand ein Ketzer sei. Bei derartigen Wahrheitsfragen scheint zunächst kein Raum für Kompromisse zu sein, in der persönlichen Lebensführung waren diese Oberste zufolge aber sehr wohl möglich. Als sich die Zweifel kommunikativ nicht ausräumen ließen, griff die Kirche im frühen 13. Jahrhundert verstärkt zur Gewalt. Das 1209 in Béziers an Andersgläubigen verübte Massaker lässt sich dann als Eliminierung des Raums für Kompromisse lesen.

Wenn Bruno Quast sich dem „Marienleben“ des Kartäusers Philipp widmet, findet er Kompromissfiguren in einem religiösen Text, der vermeintlich an Eindeutigkeit interessiert ist. Aus der Differenz zwischen der heilsgeschichtlich herausgehobenen Rolle Marias und ihrem Menschsein sowie dem Menschsein und der Göttlichkeit Christi habe der Kartäuser Handlungsalternativen entwickelt, für die dann die Verähnlichung als Kompromisslösung angeboten werde. In dieser werde die Differenz nicht aufgehoben, jedoch reduziert. Literarische Annäherungen an den biblischen Zweifler Thomas behandelt Coralie Rippl. Sie interessiert sich vor allem für die narrative Gestaltung von Zeitlichkeit durch Figurationen des Zweifels, der als ein „noch nicht“ einen Wendepunkt hin zum Glauben markieren kann. Abgeschlossen wird die erste Sektion des Bandes durch einen Beitrag von Beatrice Trînca zu den „Offenbarungen“ der Dominikanerin Elsbeth von Oye. In der Abschwächung drastischer Formulierungen infolge von Selbstzensur oder externer Zensur meint sie Kompromisse zu erkennen, die letztlich verhinderten, dass das Werk insgesamt verurteilt wurde, wie es etwa mit dem „Spiegel der einfachen Seelen“ der Marguerite Porete geschah.

Die zweite Sektion beginnt mit Ausführungen Hermann Kamps zur Friedensstiftung im Hochmittelalter. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, das Wort Kompromiss habe erst im 19. Jahrhundert die heutige Bedeutung angenommen, in der Vormoderne habe es die Lösung eines Streitfalls durch eine Schiedsperson bezeichnet. Gleichwohl habe es in der Praxis im Mittelalter durchaus Kompromisse im heutigen Sinne gegeben, etwa wenn im Rahmen von Friedensschlüssen Wiedergutmachung und Entschädigung, Buße und Vergebung vereinbart worden seien. Schließlich sei es bereits im Frühmittelalter möglich gewesen, Ansprüche gegnerischer Parteien aufzuteilen und so den Konflikt aufzulösen. Zu diesen Überlegungen passt Claudia Garniers Analyse von Konfliktbeilegung im spätmittelalterlichen Kurköln. Das Schiedswesen präsentiert sie als nahezu idealtypische Institution, mit der die Konfliktparteien einen Ausgleich erreichen konnten. Zumeist war man bemüht, die Streitpunkte tatsächlich zu bearbeiten, zur Konfliktlösung konnte aber auch gehören, eine besonders strittige Frage nicht zu entscheiden. In Garniers Rekonstruktion implizierte das Schiedswesen also die Möglichkeit der, nicht aber den Zwang zur Konfliktlösung durch Entscheidung. Insofern fänden sich Kompromisse auf zwei Ebenen: entweder am Ende des Verfahrens, wenn alle Beteiligten zu Zugeständnissen bereit seien, oder am Beginn, wenn die Konfliktparteien ihre Bereitschaft signalisierten, sich auf einen derartigen Versuch, eine Einigung zu finden, einzulassen.

Am Beispiel von Abhandlungen zur Notariatskunst aus dem 13. Jahrhundert zeigt Andreas Fischer, wie das aus dem römischen Recht stammende Konzept des compromissum umgestaltet wurde, um ein für die Konfliktlösung in den norditalienischen Städten geeignetes Instrument zu erhalten. Dazu gehörte etwa das Wahlverfahren per compromissum durch die Bestellung eines Wahlmännergremiums, das in den Kommunen ebenso wie bei kirchlichen Ämterbesetzungen zum Einsatz kam. Compromissum in diesem Sinne habe dazu gedient, Risiken menschlichen Zusammenlebens zu minimieren und Akzeptanz für Entscheidungen herzustellen. Kaiserlichen Entscheidungen in Byzanz widmet sich Michael Grünbart. Zentrale Herausforderung sei dabei gewesen, Zweifel zu überwinden und so allererst entscheidungsfähig zu werden. Entgegen dem Bild des einsamen Entscheiders hätten die Kaiser den Austausch mit anderen gesucht, aber auch zur Divinatrorik gegriffen, um externe Fingerzeige zu erhalten. Auf diese Weise hätten sie sich aus Aporien befreit und die Akzeptanz ihrer Entscheidungen gesichert.

Die letzte Sektion fragt nicht nur, inwiefern mittelalterliche Erzählungen Zweifel und Kompromisse thematisierten, sondern auch, wie ihr Erzählen selbst als Kompromiss verstanden werden kann. Florian Kragl widmet sich den Eneasromanen des 12. Jahrhunderts. In diesen zeige sich eine Tendenz, die in Vergils „Aeneis“ erreichte spannungsreiche Kombination von Zweifel und Bejahung systemischer Ordnung zugunsten kompromissloser Klarheit aufzulösen. Selbst wenn der höfische Roman so Vorsicht gegenüber Zweifel und Kompromiss als Instrument zu dessen Bearbeitung erkennen lasse, folge daraus nicht, dass das Mittelalter insgesamt mit dem Kompromiss oder dem Zweifel nichts habe anfangen können. Es handele sich vielmehr um eine spezifische kulturelle Konfiguration, die Generalisierungen nur sehr eingeschränkt zulasse. Andreas Hammer bringt Kompromiss mit Konzepten wie Hybridität, Ambiguität und Überblendung zusammen. Dadurch kann er zeigen, dass die Heldenepik, auf den ersten Blick kein Hort des Kompromissdenkens, sehr wohl Kompromissfiguren kennt, wenn etwa im „Eckenlied“ für Dietrich die Wertmaßstäbe der höfischen Kultur verbindlich sind, er sie aber handelnd wiederholt verlassen kann. Friedrich Michael Dimpel zeigt am Beispiel von Trevrizents Widerruf im „Parzival“, wie der Protagonist Zweifel erlernt. Dieser richtet sich insbesondere auf scheinbare Gewissheiten, die in Lehrsätzen verpackt sind. Gegenüber solchen auf Eindeutigkeit zielenden Botschaften müsse der handelnde Held Kompromisse finden, um situativen Herausforderungen gerecht werden zu können. Wiederum mit dem „Parzival“ sowie mit dem „Nibelungenlied“ befasst sich schließlich Lea Braun. Ihr geht es um Prozesse der Erkenntnisfindung, die durch Prophetien ausgelöst werden. Narrativ würden so zuerst dogmatische Ansprüche erhoben, um dann im Handlungsablauf Räume der Reflexion zu eröffnen, die aus der geschaffenen Aporie wieder herausführen.

Die Beiträge des Bandes bieten durchweg eine anregende Lektüre, weil sie ein weites Panorama entfalten, es zugleich aber mit Zweifel, Aporie, Konflikt, Entscheidung und Kompromiss analytische Gravitationszentren gibt, anhand derer sich die Befunde je nach eigenem Interesse organisieren lassen. Der Kompromiss ist dabei weniger prominent, als der Titel suggeriert, dominant ist er lediglich in der mittleren, der Politik gewidmeten Sektion. Obendrein arbeiten die literaturwissenschaftlichen Beiträge häufig mit einem sehr viel unschärferen Kompromissbegriff als die geschichtswissenschaftlichen. Das ist aber kein Nachteil, denn so zeigen sich einerseits die Erkenntnismöglichkeiten, wenn im strengeren Sinne nach der Rolle von Kompromissen im Mittelalter als Vereinbarungen gefragt wird, in denen die Konfliktparteien unter Umständen schmerzhafte Zugeständnisse machen, ohne ihre Ausgangsüberlegungen zu revidieren. Andererseits ergeben sich Denkräume dadurch, dass der Kompromiss in einem weiteren Sinne als epistemische und praktische Reaktion auf Zweifel verstanden wird, die so bewältigt, wenn auch nicht aufgehoben werden können. Insofern ist der Band ein Beispiel gelungen praktizierter Interdisziplinarität, weil er Problemkonstellationen herausarbeitet, zugleich aber auch diverse Lösungswege offeriert, die die weitere Forschung beschreiten kann.

Anmerkungen:
1 Zum Forschungsstand Jan-Hendryk de Boer / Manon Westphal, Der Kompromiss in Geschichte und Gegenwart. Politische und historische Perspektiven, in: Neue Politische Literatur 68,2 (2023), S. 140–170, https://link.springer.com/article/10.1007/s42520-023-00501-x (08.05.2024).
2 Sebastian Rojek, Kompromiss und Demokratie. Eine begriffsgeschichtliche Annäherung, in: Historische Zeitschrift 316 (2023), S. 564–602; Constantin Goschler, The Genius of Parliament. Cultures of Compromise in Britain and Germany after 1945, in: German Historical Institute London Bulletin 45,1 (2023), S. 3–38; Wolfram Pyta, Kaiserreich kann Kompromiss, in: Andreas Braune u. a. (Hrsg.), Einigkeit und Recht, doch Freiheit? Das Deutsche Kaiserreich in der Demokratiegeschichte und Erinnerungskultur, Stuttgart 2021, S. 77–99.

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