Die Verhängung öffentlicher Kirchenbußen war für die Zeit nach der Reformation bislang ein Phänomen, das vor allem im Zusammenhang mit der protestantischen Kirchenzucht thematisiert wurde. Christine D. Schmidt widmet sich ihm nun für ein katholisches und für ein gemischt-konfessionelles Gebiet, die Fürstbistümer Münster und Osnabrück. Schmidt interessiert sich für das auffallende Mischverhältnis von geistlich-kirchlichen und weltlichen Elementen dieser Sanktion, die von archidiakonalen Gerichten in ihren Untersuchungsgebieten auferlegt wurde. Handelte es sich um kirchliche Bußen, die Sünder in die Gemeinschaft wiedereingliederten, oder eher um ausgrenzende, entehrende Strafen? Sie fragt nach der Intention und Wirkung dieser Sanktionen, nach ihren Formen und Inszenierungen sowie nach Praktiken und Bedingungen ihrer Verhängung. Als Ziel formuliert sie zudem, an dem Phänomen der Kirchenbuße die Verfassungswirklichkeit in geistlichen Territorien, die wechselseitige Bedingtheit und die fließenden Grenzen von Kirche und Staat sowie die Konflikte über die Grenzziehung zu thematisieren. Ihre Sichtweise beschreibt sie unter Bezugnahme auf Anthony Giddens als handlungsorientiert. Entsprechend will sie die Akteure, ihre Interessen und Kommunikationsbeziehungen und auch die Machtverhältnisse thematisieren, die den sozialen Beziehungen innewohnen.
Für das Fürstbistum Münster stützt die Autorin sich, um die Praxis des Sendgerichts zu beschreiben, auf Sendhandbücher und vor allem auf die gute Überlieferung von Sendprotokollen, die schon Andreas Holzem für seine Habilitationsschrift genutzt hatte. Edikte, Synodaldekrete und -statuten, Verordnungen, Gerichtsordnungen und anderes dienen ihr dazu, die Streitigkeiten zwischen Domkapitel und Fürstbischöfen über die Sendgerichtsbarkeit nachzuvollziehen. Für Osnabrück existieren Sendprotokolle nicht, jedoch umfangreiches Quellenmaterial, das über die langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den fürstbischöflichen Landesherren und dem Domkapitel samt der ihm angehörenden Archidiakone Auskunft gibt. Dazu zählen Korrespondenzen, Eingaben, Gutachten, Gegengutachten, Beilagen, Mandate, Verordnungen und anderes.
In Teil I ihrer Arbeit beschreibt die Autorin die institutionellen Rahmenbedingungen ihres Untersuchungsgegenstandes und skizziert grundsätzliche Vorannahmen. Zunächst schildert sie die Besonderheiten geistlicher Territorien im Hinblick auf die Machtverteilung und Einflussmöglichkeiten von Ständen und insbesondere auch des Domkapitels. Zu ihren Vorannahmen gehört, dass der Sanktionsapparat als Indikator für Beziehungen innerhalb des Fürstbistums zu werten ist, sowohl auf der Ebene zwischen Obrigkeit und Untertan, als auch zwischen den verschiedenen herrschaftstragenden Instanzen. Gerichtliches Handeln wertet Schmidt in Anschluss an Arbeiten von Barbara Stollberg-Rilinger und anderen als herrschaftliche Symbolisierungsleistung bzw. symbolische Praxis, die Ordnungskategorien, Wertvorstellungen und Geltungsansprüche erzeugt, bekräftigt, aber auch verändert. Sanktionierungen böten generell die Möglichkeit, sich als Bewahrer öffentlicher Ordnung zu legitimieren und die eigenen Kompetenzen gegenüber konkurrierenden Gerichtsherren zu demonstrieren.
Außerdem setzt sich die Autorin in diesem Teil mit dem schwierig zu bestimmenden Verhältnis von kirchlichem Bußwesen und kirchlicher Strafgerichtsbarkeit auseinander. Sie bietet einen kurzen Abriss der historischen Entwicklung des kirchlichen Sanktionierungswesens und macht dabei Aussagen, die für eine Veräußerlichung des kirchlichen Strafrechts und seine Annäherung an rein weltliche Strafverfahren sprechen, wie auch solche, die darin geistliche Zwecke wie den Zwang zu Umkehr und Läuterung erkennen. Unter anderem die Ähnlichkeit der Sanktionen, die weltliche und geistliche Gerichtsherren verhängten, mache es schwierig, innerhalb der Kirchenzucht eine analytische Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre zu leisten.
Teil II der Arbeit ist dem Fürstbistum Münster gewidmet. Schmidt beschreibt, vor dem Hintergrund der uneindeutigen und unterschiedlich interpretierten tridentinischen Bestimmungen zur Stellung der Archidiakone, die Auseinandersetzungen zwischen den Münsteraner Fürstbischöfen und dem Domkapitel. Sie zeigt, dass letzteres es verstand – unter Ausnutzung von Sedisvakanzen und Nachfolgeunsicherheiten – seine ständischen Interessen und die archidiakonalen Gerichtskompetenzen zwar nicht uneingeschränkt, aber doch weitgehend zu behaupten. Die Autorin schildert Akteure, Abläufe und Sanktionen beim „Sendgericht vor Ort“ und kommt schließlich auf eine wichtige Veränderung im 18. Jahrhundert zu sprechen. Das Sendgericht habe nicht mehr zweimal jährlich, sondern nur noch alle zwei bis drei Jahre stattgefunden. Damit korreliere die zunehmende Häufigkeit öffentlicher Kirchenbußen. Diesen Anstieg erklärt sie unter Rückgriff auf Rudolfs Schlögls Konzept der Anwesenheitsgesellschaft mit der Notwendigkeit, durch Handlungen von hoher Ereignishaftigkeit in den Gemeinden die Legitimität der Sendgerichtsbarkeit zu demonstrieren und aufrecht zu erhalten, eine Notwendigkeit, die sich auch angesichts von Bevölkerungszuwachs und zunehmender Ausdifferenzierung der ländlichen Gesellschaft ergeben habe.
Schmidt geht davon aus, dass die Beteiligung der Bevölkerung am Send – sei es durch aktives Rügen, sei es durch die Anwesenheit bei öffentlichen Bußen oder durch Eingaben und Gnadenbitten – für eine Akzeptanz und auch für eine Funktionalität im Sinne der Stabilisierung ländlicher Gemeinschaft und bäuerlicher Normen gestanden habe. Auch erkennt sie keine merkliche Normendifferenz zwischen Gerichtsherren und Bevölkerung. Bei den Vergehen, die vom Sendgericht sanktioniert wurden, dominierten Übertretungen der Sexualnormen. Den Schwerpunkt der Sanktionierungen auf vor- und außerehelicher Sexualität und die sehr viel häufigere Verhängung öffentlicher Bußen für Frauen als für Männer stellt Schmidt in einen Zusammenhang mit den Geschlechterverhältnissen. Die tridentinischen Vorschriften zur kirchlichen Eheschließung hätten vorehelichen Geschlechtsverkehr, der traditionell zur Eheanbahnung gehörte, kriminalisiert. Insbesondere Frauen aus der Unterschicht seien davon betroffen gewesen.
Ausführlich diskutiert die Autorin die Frage, inwieweit die im Send verhängte öffentliche Kirchenbuße als Strafe, und zwar insbesondere als Ehrenstrafe, zu verstehen sei. Sie betont, dass es Abstufungen von Öffentlichkeit und Bloßstellung gegeben habe, die unterschiedliche Grade von Ausschluss symbolisierten. Auch habe das Gericht die Bußen von Fall zu Fall flexibel eingesetzt und oft auf Fürbitten und Besserungsversprechen hin gemildert. Für die schärfste Form der Kirchenbuße, bei der Büßende in Bußkleidung und mit Bußattributen während des Gottesdienstes außerhalb der Kirche stehen mussten, sieht sie eine große Äquivalenz zu weltlicherseits verhängten, rufgefährdenden Sanktionen. Eine sichtbare Wiedereingliederung der zuvor Ausgeschlossenen – wovon mittelalterliche Quellen zur Buße sprechen – habe bei dieser Sanktionierungsform gefehlt. Über die sozialen Folgen öffentlich bloßstellender Sanktionen gebe es allerdings kaum verlässliche Quellen. Schmidt fasst daher die Poenitentia publica Ecclesiastica als „öffentliche Sanktion, die von einer kirchlichen Gerichtsinstanz mit dem Ziel abzuschrecken, zu bestrafen und zu beschämen, verhängt worden ist, deren Wirkmächtigkeit jedoch nicht exakt bestimmt werden kann.“ (S. 126) Daneben steht ihre Einschätzung, die öffentlichen Sanktionen des Sendgerichts hätten vor allem der Vergegenwärtigung von Normen gedient, und vor allem die Aussage, dass sie die Herrschaftsansprüche der Archidiakone geltend machten und symbolisch manifestierten.
Im Teil III ihrer Arbeit, der sich dem Fürstbistum Osnabrück widmet, wird der Konflikt zwischen den Fürstbischöfen und dem Domkapitel um Einflussbereiche und Herrschaftsdemonstration besonders deutlich. Die Landesherren, die gemäß der Bestimmungen des Westfälischen Friedens für Osnabrück konfessionell immer abwechselnd protestantisch oder katholisch waren, bemühten sich um eine Straffung und Zentralisierung des Gerichtswesens. Demgegenüber nutzte das Domkapitel unklare verfassungsrechtliche Grundlagen, Sedisvakanzen und die häufige Abwesenheit der Landesherrn, um eigene Rechte bzw. die der Archidiakone auszubauen. An den Auseinandersetzungen beteiligten sich noch weitere Instanzen und Institutionen, etwa die protestantischen Konsistorien und das Offizialatsgericht. Schmidt macht mit Rückgriff auf das umfangreiche Quellenmaterial die Strategien und das Agieren der Streitparteien anschaulich. Sie sieht den über 150 Jahre währenden Streit, in dem die Sanktionierung von Sittlichkeitsvergehen einen zentralen Punkt darstellte, weniger als konfessionellen Konflikt oder Streit zwischen weltlichen und geistlichen Instanzen, denn als Kampf um „Rechtstitel und Einflussmöglichkeiten“ (S. 170). Innerhalb dieser Auseinandersetzungen wurde auch über das Recht zur Verhängung von öffentlichen Kirchenbußen diskutiert. Deren Charakter wurde von den Konfliktparteien mehrheitlich als weltliche infamierende Strafe, aber gelegentlich auch als geistliche, auf Besserung gerichtete Buße hervorgehoben, so wie es argumentativ zur Legitimierung der eigenen Zuständigkeit jeweils opportun erschien.
Schmidts Studie überzeugt vor allem dadurch, dass sie die Bedingungen und Interessen anschaulich macht, unter denen öffentliche Kirchenbußen im archidiakonalen Sendgericht der frühneuzeitlichen Fürstbistümer verhängt wurden. Die Sanktion wurde, so scheint es, vor allem eingesetzt, um unter den wenig stabilen Kräfteverhältnissen der Fürstbistümer Machtansprüche zu demonstrieren und perpetuieren. Der uneindeutige Charakter zwischen weltlich-ausgrenzender Sanktion und auf Besserung gerichteter Kirchenbuße scheint dazu besonders geeignet gewesen zu sein. Die Partizipation vieler Akteure, neben Richtern und Delinquenten auch die Bevölkerung, verlieh der Sanktion und der Sendgerichtsbarkeit insgesamt Legitimität.
Schmidts Arbeit gibt damit wichtige Einblicke in die Machtkonstellationen und -strategien in Fürstbistümern der Frühen Neuzeit. Ihre Ergebnisse zur Bedeutung öffentlicher Kirchenbußen als einer Sanktionsform, die einerseits der Bevölkerung gegenüber plausibel gemacht werden konnte und andererseits als Instrument diente, um Ansprüche auf Macht, Einfluss und Status anzumelden und durchzusetzen, sind kompatibel mit Erkenntnissen, die in den letzten Jahren zum Gebrauch öffentlicher Kirchenbußen im Spätmittelalter gewonnen wurden.1
Anmerkung:
1 Siehe z.B. Mary C. Mansfield, The Humiliation of Sinners. Public Penance in Thirteenth Century France, Ithaca 1995; Friederike Neumann, Öffentliche Sünder in der Kirche des späten Mittelalters. Verfahren – Rituale – Sanktionen, Köln 2008.