S. Luther u.a. (Hrsg.): Jewish, Christian, and Muslim Travel Experiences

Cover
Titel
Jewish, Christian, and Muslim Travel Experiences. 3rd century BCE – 8th century CE


Herausgeber
Luther, Susanne; Hartog, Pieter B.; Wilde, Clare E.
Reihe
Judaism, Christianity, and Islam – Tension, Transmission, Transformation
Erschienen
Berlin 2023: de Gruyter
Anzahl Seiten
VII, 356 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Wetz, Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

Die drei Herausgeberinnen und Herausgeber – Luther als Neutestamentlerin, Hartog als Judaist und Wilde als Islamwissenschaftlerin – legen einen aus 16 Beiträgen bestehenden Sammelband vor, der sich eines gemeinmenschlichen Themas annimmt, dieses aber für die Zeit vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. in Judentum, Christentum und Islam untersucht: das Reisen. Es geht explizit nicht um Migration (vielleicht mit Ausnahme des Beitrags von Ten Hoopen, vgl. unten), das heißt um auf Dauer angelegte, oft durch äußere Umstände erzwungene Ortsveränderung, sondern um in der Regel freiwilliges Reisen: um Handelsreisen, um Missionsreisen, um Pilgerreisen, auch um Jenseitsreisen. Aufgrund des begrenzten Platzes kann im Folgenden nur auf eine Auswahl der Beiträge eingegangen werden.

Im gleichzeitig als Einleitung fungierenden ersten Kapitel stellen Pieter B. Hartog und Susanne Luther das Thema und das Anliegen des Sammelbandes vor. Sie betonen, dass im Unterschied zu vergleichbaren Vorgängerwerken hier der Fokus auf dem Reisen in den drei abrahamitischen Religionen liege. Reisen im (antiken) Islam sei nämlich bisher ein Desideratum gewesen.

Der Alttestamentler Robin B. Ten Hoopen untersucht in seinem Beitrag die Rolle des Reisens in der Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9). Er identifiziert das ganze Buch Genesis als eine Schrift, in der es ums Reisen gehe. Hier hinein passt, dass die Akteure der Babel-Geschichte namenlose Reisende seien; als solche nähmen sie die Reisen der Patriarchen narrativ vorweg. Und auch JHWH werde als reisende Gottheit erzählt – in der Babel-Geschichte, aber auch in der ganzen Genesis. Man darf vielleicht kritisch anfragen, ob Ten Hoopen hier tatsächlich „travel“ meint, wenn er „travel“ schreibt, oder ob es hier nicht im Eigentlichen um Migration oder Nomadismus geht: So flüchtet Jakob in Gen 27,43–45 vor Esau nach Haran. Aber „reist“ er dorthin, wie Ten Hoopen insinuiert (S. 12; dort noch andere Beispiele)? Das Gen 11,2 verwendete Verb nsꜤ bezeichnet das Aufbrechen von Nomaden, die einen Ortswechsel zu vollziehen trachten; auch hier kann man fragen, ob „reisen“ die nächstliegende Übersetzung ist. Auch im „Gesenius“ wird sie nicht angeboten. Am Ende seines Beitrags versucht Ten Hoopen die Verbindung zur Gegenwart, zur Klimakrise und zum Covid-19-Lockdown: Die Geschichte vom Turmbau zu Babel lehre uns Heutige, dass man nicht unbedingt mit einem Flugzeug (er schreibt mehrere Male fälschlicherweise „plain“, meint aber eigentlich „plane“) durch die Welt reisen müsse, weil eine durch bloße Lektüre „erfahrene“ imaginäre Reise denselben Eindruck wie eine reale Reise vermittele. Das wirkt freilich recht bemüht.

Der Beitrag des vergleichenden Religionsphilosophen Christoph Jedan ist eine Auseinandersetzung mit Knut Backhaus’ These aus dem Jahr 2014, nach der Paulus in seinen Briefen deswegen bemerkenswert wenig Reisemetaphorik verwende (obschon dies aufgrund seiner regen Reisetätigkeit zu erwarten stünde), weil für ihn der „innere Mensch“ bedeutender sei als die „äußere Reise“. Gerade andersherum sei es in Senecas Ad Marciam, so Backhaus. Jedans Kritik an seinem Sparringspartner kommt allerdings grundsätzlicher daher: Backhaus benutze die griechisch-römischen Texte als Steinbruch, um mit ihnen neutestamentliche Texte besser klassifizieren und interpretieren zu können (das freilich sei eine sehr verbreitete Herangehensweise). Jedan hingegen spricht sich für einen bidirektionalen Zugang aus: Die Texte müssten sich gegenseitig erschließen.

Nils Neumann, seines Zeichens Neutestamentler, geht in zwei neutestamentlichen Beschreibungen von Höllen- bzw. Himmelfahrten dem Campbell’schen „Monomythos“ nach: Lk 16,19–31 und Apk 4,1–11. Das Erstaunliche sei, so Neumann, dass in den neutestamentlichen Texten im Unterschied zur menippeischen Tradition der „Held“ nicht wieder zurückkehre, sondern in der Hölle bzw. im Himmel bleibe. Neumann zieht folgende Vergleichstexte heran: Lukians Cataplus, seine Necyomantia und seinen Icaromenippus sowie Senecas Apocolocyntosis. Hier nämlich werde der Reisende – ganz in Übereinstimmung mit dem Monomythos – mit besonderen Gaben ausgestattet und kehre mit Ausnahme des Cataplus als Held zurück. Die wichtigste Gabe, die die Jenseitsreisenden erlangen, sei, so Neumann, die Fähigkeit, die diesseitige Welt mit neuen Augen zu sehen und die irdischen Werte neu zu bewerten. Für den Leser, der durch die Lektüre ja mitgenommen werde auf die Reise, sei es aber egal, ob der Protagonist zurückkehrt oder ob er vom Jenseits aus die neue Perspektive einnimmt.

Meist wird die Ausbreitung christlicher Normen und Begriffe in der Antike mit dem Methodeninventar der Traditionsgeschichte untersucht. Susanne Luther aber setzt in ihrer Studie die Brille der Globalisierungstheorien auf und kombiniert diesen Zugang mit einer durch sie bereits mehrfach erprobten sprachethischen Perspektive, um neu zu fragen, wie die (mediterranen) Netzwerke des frühen Christentums verschaltet waren, so dass ethische Normen „wandern“ und zu einem christlichen Allgemeingut werden konnten – beispielhaft am Jakobusbrief (der im Englischen „Letter/Epistle of James“ heißt): Die Normen und Begriffe wurden von christlichen Reisenden „transportiert“. Jak 4,13–15 endet mit der berühmten „conditio Jacobaea“. Diese aber ist Antwort auf das (fiktive) Vorhaben der Adressaten, eine einjährige Geschäftsreise zu unternehmen (V. 13). Diese Bemerkung en passant lässt auf die Normalität solcher weiter Reisen schließen und darauf, dass der den gesamten Mittelmeerraum umspannende kulturelle, soziale, religiöse und geistige Austausch schlicht Tagesgeschäft war.

Die beiden Neutestamentler Theo Witkamp und Jan Krans untersuchen die „doppelte Reise“ des johanneischen Jesus, nämlich einerseits die von und nach Jerusalem, andererseits die vom und zum Himmel, die beide miteinander verquickt seien. Der Schwerpunkt der Analyse liegt dabei auf dem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus (Joh 3,1–21). In Absetzung von und als Ergänzung zu Wayne Meeks’ These, nach der das Johannesevangelium auf eine johanneische Gemeinde schließen lasse, die sich als sektiererisch versteht, hegen Witkamp und Krans Zweifel daran, aus dem Text des Johannesevangeliums so ohne Weiteres soziologische Rückschlüsse ziehen zu können. Es gehe dem Evangelisten vielmehr um eine „geistliche Didaktik“ für den (intendierten) Leser: „Spiritual didactics as a way to real life, this is the theme of John’s Gospel“ ( S. 157). Gleichwohl bezeichnen sie das vierte Evangelium als „ambivalenten Text“ (S. 158), dessen Interpretation als Dokument einer sektiererischen frühchristlichen Gruppe oder als didaktischer Text davon abhänge, „what kind of readers it finds“ (ebd.).

Entgegen der allgemeinen Lesart von Josephus Flavius’ Darstellung der Seereise Vespasians im Vier-Kaiser-Jahr 69 n. Chr. von Judäa nach Rom (Bell. 4,588–663), nach der die Schilderung ausgesprochen flavierfreundlich sei, erkennt der Judaist Eelco Glas Hinweise im Text, wonach der antike jüdische Historiograph implizite Kritik an den Flaviern übe. Gleichzeitig ist es das Anliegen Glas’, zu zeigen, dass in Josephus’ Bellum Judaicum das Motiv des Reisens dem Werk eine grundlegende Struktur verleiht.

Nehalennia war eine germanische Göttin, die im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. im Gebiet der niederländischen Provinz Zeeland von Germanen, Kelten und auch Römern als Schutzgottheit der Schifffahrt auf der Schelde verehrt wurde. In seiner Untersuchung erhellt der Kirchenhistoriker Gert van Klinken den durch Reisende importierten Einfluss mediterraner Konzepte auf diesen lokalen Kult sowie seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte in der mittelalterlichen Christenheit.

Paul L. Heck, Theologe und Islamwissenschaftler, untersucht die wenig bekannte Erzählung über Zayd Ibn ꜤAmr, die in vorislamischer Zeit spielt. Zayd lebt mit seinem Stamm in Mekka und verehrt dort an der Kaba Gott gemäß den Riten der Religion Abrahams. Daran jedoch kommen ihm irgendwann Zweifel, und so macht er sich auf, in Mesopotamien und der Levante die richtige Art der Anbetung zu suchen. Ein damaszenischer Mönch weist ihn an, nach Mekka zurückzukehren, denn dort werde bald ein Prophet auftreten und die rechte Verehrung Gottes lehren: Mohammed. Auf dem Rückweg wird Zayd allerdings überfallen und getötet, so dass ihm die verheißene Begegnung verwehrt bleibt. Heck vergleicht die Geschichte Zayd Ibn ꜤAmrs mit anderen islamischen Erzählungen: Reisen habe es in den meisten Fällen mit der Suche nach der rechten Verehrung Gottes zu tun.

Der Band stellt eine Sammlung exquisiter Beiträge hochkarätiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dar; wer Spezialstudien zum Thema „Reisen“ bei bestimmten antiken Autoren aus Judentum, Christentum und Islam sucht, wird hier bestens fündig und kommt zu teilweise erstaunlichen Einsichten. Man würde sich vielleicht wünschen, dass das, was im einleitenden Kapitel bereits angelegt ist, am Ende noch breiter entfaltet würde: ein abschließendes, die Erkenntnisse der 16 Untersuchungen bündelndes und die Einsichten auf eine Metaebene hebendes Kapitel: Ergeben sich aus der Gemeinsamkeit „Reisen“ verbindende Elemente theologischer, religionswissenschaftlicher, anthropologischer oder sonst welcher Art?

Vielleicht wäre es für weitere Veröffentlichungen zum Thema „Reisen in der Antike“ eine Idee, einen entsprechenden Sammelband unter ein bestimmtes heuristisches oder methodisches Paradigma zu stellen, zum Beispiel unter die von Susanne Luther verwendete Globalisierungstheorie oder unter den von Nils Neumann in Anwendung gebrachten Campbell’schen Monomythos. Dadurch wären die Einzelbeiträge vergleichbarer und der Leser erhielte einen roten Faden, der den Band noch einmal in anderer als in thematischer Weise durchziehen und zusammenhalten würde. All dies nimmt dem Band aber nichts von seiner Qualität und Originalität. Er sollte in keiner bibelwissenschaftlichen, judaistischen, islamwissenschaftlichen oder althistorischen Bibliothek fehlen.

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