Mitte der 1960er-Jahre begannen die deutschen Universitäten sich ihrer Geschichte „im Dritten Reich“ kritisch zu vergewissern, in zum Beispiel München oder Tübingen sind dabei prominente Texte entstanden.1 Mit den 68ern intensivierte sich diese, anfangs primär politische Debatte über die Universität. 60 Jahre später legt Michael Grüttner die erste, schon angesichts der seit den 1980er-Jahren und bis heute andauernden, umfassenden und kaum noch im Detail zu übersehenden Spezialforschung auch notwendige Gesamtdarstellung der Geschichte der „Universitäten im Dritten Reich“ vor. Das Thema hat damit endlich einen, nein, seinen dafür hoch kompetenten Autor gefunden. Denn vor und für „Talar und Hakenkreuz“ hat Grüttner selbst seit auch schon mehr als 30 Jahren in intensiver Forschung kontinuierlich Monographien und Abhandlungen zum Thema vorgelegt (sein Literaturverzeichnis dokumentiert die wichtigsten) – unter anderem über die „Studenten im Dritten Reich“, über Hochschullehrer und Wissenschaftspolitik, für die Darstellung der Epoche insgesamt (in Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte) oder für Universität und Politik im 20. Jahrhundert. Er hat auch für die „Entlassungen“ an deutschen Universitäten (damals in Kooperation mit Sven Kinas) in langwierig-detailfreudiger Arbeit an den statistischen Grundlagen gearbeitet. Natürlich ist es daher legitim, ja so erwartbar wie wünschenswert, dass diese Vorarbeiten wie zum Beispiel der 1999 erschienene Aufsatz „Scheitern der Vordenker“ jetzt erneut und wörtlich genutzt werden, weil sie einfach perfekt in sein Gesamtkonzept passen.
Grüttners Gesamtgeschichte der Universität – also nicht des gesamten Hochschulsystems, man darf nicht unbescheiden sein – reicht von der Vorgeschichte bis 1933 und den Übergang in den nationalsozialistischen Staat bis 1945, bezieht auch die Neugründungen in Posen und Straßburg und die nach 1938 eingegliederten Universitäten in Wien, Graz, Innsbruck und Prag mit ein. Dabei werden – stupend belesen, gelehrt und breit auf Akten und die Literatur gestützt – institutionelle Strukturen und Entwicklungen, politische Interventionen und weltanschaulich-intellektuelle Prozesse für die Universitäten insgesamt, für einzelne Standorte, für die bekannten Disziplingruppen und für die Vielfalt der politischen und wissenschaftlichen Akteure sowie der beteiligten individuellen und kollektiven Akteure im NS-Machtapparat höchst lesbar dargestellt.
Seine sechs Kapitel – gerahmt von einer „Einleitung“, „Ergebnissen und Schlussüberlegungen“ sowie einem „Epilog“ für die Nachkriegszeit – umfassen 704 Seiten, davon 534 Seiten Text und einen Anhang mit – für Grüttner typisch – 36 hoch informativen Tabellen, ein Abkürzungsverzeichnis, Anmerkungen (von S. 555–630, leider nur mit Kurznachweisen, aber mit klarer Seitenzuordnung), ein Verzeichnis von Quellen und Literatur (S. 631–682) sowie ein Personen- und Ortsregister. Die Darstellung strukturiert das Thema so komplex wie klar zeitlich und nach zentralen Themen: Das erste Kapitel beschreibt „[d]ie Universitäten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme“, ihre schwierige ökonomische und politische Lage, die mehrheitlich antidemokratische, gegen die Republik orientierte Professorenschaft, den sich ausbreitenden Antisemitismus, forciert durch die Reproduktionsprobleme der angehenden Akademiker seit 1930 – insgesamt eine umfassend als Krise wahrgenommene und beschreibbare Situation.
„Die nationalsozialistische Machtübernahme“ der Universität folgt im zweiten Kapitel und wird machtpolitisch vor allem als eine im Konflikt zwischen den älteren Gelehrten- und jüngeren Nachwuchskohorten sowie zugleich von Studierenden forcierte und ermöglichte „Gleichschaltung“ interpretiert. Dabei war – wie bei den „‚Säuberungen‘“ nach dem April 1933 – eine wenig hinderliche Politik der Professoren im Hochschulverband mit ermöglichend, die gar nicht daran dachten, Widerstand oder Solidarität zu leisten, denn die „Verjudung“ der Universität wurde nicht allein von den mehrheitlich nationalsozialistischen Studenten beklagt. Grüttner diskutiert auch erhellend die fatale Rolle der öffentlichen Aufrufe der Professoren von 1933/34, indem er unter anderem quellenbasiert zeigt, dass und wie das viel zitierte „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ von 1934 zuerst als Aufruf unter ganz anderem Titel und Fokus – als „Ruf an die Gebildeten der Welt“ – vorlag und auch deshalb von Professoren wie zum Beispiel von Theodor Litt, die man später dort nicht vermutet hätte, unterzeichnet wurde.
Im dritten Kapitel analysiert Grüttner „Strukturen und Ziele“ nationalsozialistischer Hochschulpolitik sowie die Vielfalt der Akteure als erstes Exempel für die Formen und Folgen der polykratischen Machtstruktur des NS-Staates. Auch im Bereich der Wissenschaft verhinderten die einander bekämpfenden und sich blockierenden Akteure zwischen dem allseits verachteten Reichserziehungsminister, dem NS-Lehrerbund, dem Stab Heß, der Hochschulkommission der NSDAP, dem NS-Dozentenbund, der Dienststelle Rosenberg und der SS eine konsistente Wissenschaftspolitik. Kapitel 4 zeigt, wie die „Universität im Kraftfeld der Politik“ – erneut polykratisch – dem Führerprinzip in Lehre und Forschung unterworfen wurde, mit vielfältigen Interventionen bei Berufungen, auch bei der Einrichtung neuer Lehrstühle, bei der Finanzierung im allgemeinen oder bei den besonders Ns-nahen Neugründungen in Posen und Straßburg.
„Der Lehrkörper“ (Kapitel 5) fand im Prozess zwischen solchen strukturellen Prämissen aber dennoch eine eigene Form, mit dem NS-Staat umzugehen, wie Grüttner – klug typisierend – das Verhalten zwischen Unterwerfung und Anpassung, Gesten symbolischer Unterstützung und der eigenlogischen Arbeit charakterisiert, jedenfalls ohne Widerständigkeit zu zeigen. Das „Scheitern der Vordenker“, ein Sonderproblem des Themas, wird an vier Denkern analysiert – am Beispiel von Heidegger (bei dem man aber doch den Hinweis auf den Antisemitismus der „schwarzen Hefte“ und deren Diskussion nach 2014 vermisst), an der „hemmungslosen Selbstgleichschaltung eines Carl Schmitt“ (S. 370), am Philosophen Erich Rothacker, dem Soziologen Hans Freyer (leider ohne zugleich intensiv auf Gehlen und Schelsky zu schauen) und dem Pädagogen Ernst Krieck, der fundiert in den internen NS-Querelen platziert wird. Hier bestätigt Grüttner erneut, dass der NS-Staat seinen Vordenkern die „Triumphe“ nicht bescherte, die sie erhofft hatten, sondern zuerst „enttäuschte Ambitionen und verlorene Illusionen“ erzeugte (S. 374f.). Dies ist im Grunde eine Bestätigung der alten These von Hannah Arendt2, nach welcher der NS-Staat zwar anfangs auf „das zeitweilige Bündnis zwischen Mob und Elite“ setzte und später, vor allem zu Kriegszeiten, auf Expertenwissen angewiesen war, aber weder, so wieder Grüttner, die tradierte Rolle der alten „Mandarine“ anerkannte noch „eigenständige Denker (brauchte), welche die NS-Ideologie unnötig komplizierten oder gar versuchten, ihre privaten Theorien in das nationalsozialistische Weltbild einzuschmuggeln“ (S. 375f.).
Die „Wissenschaft“ (Kapitel 6) hat sich im NS-Staat diesen Strukturbedingungen selbst unterworfen, politisch angepasst, die Konfliktlagen als Freiräume eigener Arbeit genutzt, in den bekannten und erlaubten Bahnen den eigenen Nutzen – auch bei der Einrichtung neuer Lehrstühle in den nationalsozialistisch erwünschten Disziplinen wie Rassenhygiene, Volkskunde, Vor- und Frühgeschichte, Wehr- und Agrarwissenschaften, Auslandswissenschaften und Kolonialforschung – gesucht, im Übrigen aber in der tradierten Fakultätsstruktur weitergearbeitet. Grüttner demonstriert diese disziplinäre Praxis für Theologie, Rechtswissenschaft, Geisteswissenschaften, Medizin, Naturwissenschaften und Mathematik aber eher überblickshaft. Er sieht zum Beispiel für die Geisteswissenschaften einen verbliebenen „eingeschränkten Pluralismus“, nennt aber auch jeweils exemplarisch signifikante Akteure, die sich in den einzelnen Fächern an der Selbstkorrumpierung beteiligten und das sacrificium intellectus nicht scheuten – bis zur verbrecherischen Praxis in der Medizin, der am stärksten auf den Nationalsozialismus bezogenen Disziplin.
Grüttners souveränen Überblick kann man mit großem Ertrag nutzen, schon gegen eine nicht selten verengte disziplinäre Perspektive. In disziplinhistorischer Hinsicht sollten aber seine Texte um die jeweils inzwischen so reichhaltig vorliegende und als Referenzen ja auch erwähnte Literatur erweitert werden – vor allem für die Geisteswissenschaften (Frank-Rutger Hausmann zum Beispiel wird ja schon gedankt für seine Kooperation, seine Schriften sind reichhaltig zitiert), aber auch für die außeruniversitäre Forschung etwa der Kaiser-Wilhelm-Institute –, schon um die Frage präzise zu klären, ob und welche genuin als Forschung anzuerkennende Praxis der Wissenschaften es nach 1933 auch gab. Damit würde dann auch die „Schlussbetrachtung“ zugleich erweitert und bekräftigt, in der Grüttner das ganze Elend der Universität „unterm Hakenkreuz“ nüchtern resümiert, die sich abwechselnden Phasen der Wissenschaftspolitik, auch den „Bedeutungsverlust“ der Universität und ihre Schrumpfung nachweist und die Frage nach der „Effizienz“ der NS-Wissenschaft in Lehre, Ideologiekonstruktion und Forschung stellt – und verneint. Auch die internationale Anerkennung und Stärke der deutschen Wissenschaft sei geschwunden, aber nicht erst nach 1933, wie es schon in der Emigrationsforschung aufgewiesen worden ist. Die finanzielle und institutionelle Rückständigkeit des deutschen Wissenschaftssystems – zumal der Universitäten – war im Übrigen – vor allem im Vergleich mit den USA – schon seit der Jahrhundertwende sichtbar. Sie findet sich in den Klagen und Forderungen der Naturwissenschaftler, denen ja mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft abgeholfen werden sollte, also zulasten der Universitäten, wie erneut in der Wissenschaftsfinanzierung Ende der 1930er-Jahre.
Für die epochenspezifisch besondere geistige, wissenschaftliche und intellektuelle Zäsur und für die Verluste im Wissenschafts- und Universitätssystem, die im April 1933 mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ eingeleitet wurden, hat Grüttner jetzt selbst die notwendige ergänzende Lektüre vor allem zum zweiten Kapitel und den „Säuberungen“ vorgelegt. „Ausgegrenzt“ – seine Analyse der „Entlassungen an den deutschen Universitäten im Nationalsozialismus“ liefert erstmals umfassend für den Zeitpunkt 1932/33 alle Details über die diversen Praktiken, Formen und Konsequenzen der Entlassungspolitik. Auch wenn die Technischen Hochschulen so wenig in seinem Datensatz repräsentiert sind wie die Handelshochschulen, Kunsthochschulen, Musikhochschulen, die Landwirtschaftlichen Hochschulen, Bergakademien oder Pädagogischen Akademien oder die Universitäten in den von Nazi-Deutschland besetzten Ländern, haben die Daten singuläre und exzellente Qualität. Für den gesamten Lehrkörper der deutschen Universitäten, von den Ordinarien (einschließlich der Emeriti) bis zu den Lehrbeauftragten und Lektoren bietet der Band nicht nur 1.295 „Biogramme und kollektivbiografische Analysen“, sondern auch schon eine souveräne analysierende „Einleitung“ (die übrigens open access über den Verlag zugänglich ist3) als Überblick über das gesamte Thema.
Darüber hinaus enthält er alle notwendigen Details, die bisher eher je für sich und auch dann nicht so umfassend wie bei Grüttner behandelt wurden – also personen- und disziplinbezogen, nach den Aufnahmeländern der Emigranten, für vertriebene Wissenschaftler, für die – in Ost und Westdeutschland geringe – Zahl der Remigrantinnen und Remigranten, aber auch – erstmals überhaupt so gesehen – für Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im Wissenschaftssystem und für Suizide vertriebener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Hier werden – wohlgeordnet und aggregiert – die Daten präsentiert, die den gravierenden Einschnitt markieren, der mit den „Entlassungen“ verbunden war. Grüttners Daten können zudem mit den schon länger präsenten Datenbeständen aus der Emigrationsforschung wie beispielsweise mit den „Biographischen Handbüchern der deutschsprachigen Emigration nach 1933“ für eigene Datenbankrecherchen über das „Deutsche Geschichte Portal“ vernetzt werden, sodass man dann auch die Entlassungen und Emigrationsprozesse mit einbeziehen kann, die sich nach 1933 und seit 1938, dann auch in Österreich und Prag, ereignet haben. Für diesen unvergleichlichen Datenschatz, der damit allen Forschenden geschenkt wird, muss man zuerst einfach dankbar sein und müssen alle Mäkeleien, die vielleicht angesichts der disziplinären Zuordnung einzelner Personen zum Beispiel zwischen Philosophie, Psychologie und Pädagogik oder Soziologie oder für die schwierige Kategorie der Suizide und Opfer naheliegen, zurücktreten. Für alle weitere Forschung hat Michael Grüttner den aktuellen Stand markiert und die Möglichkeit zu weiterer Arbeit mit eröffnet. Der Gesamtrahmen ist gesetzt, in welchem sich jetzt die je disziplinbezogene oder lokale Forschung neu verankern kann.
Anmerkungen:
1 Prominent geworden sind unter anderem Andreas Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. [Die Tübinger Vortragsreihe aus dem WS 1964/65], Tübingen 1965; Helmut Kuhn u.a., Die deutsche Universität im Dritten Reich. [Eine Vortragsreihe der Universität München; WS 1965/66], München 1966.
2 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986 (1. Aufl. 1951), S. 544: „Mit anderen Worten: Über die Auswahl derer, die zu ihnen gehörten, hatten die Nazis die Absicht selbst zu befinden, und zwar unabhängig von den ‚Zufällen‘ irgendwelcher Meinungen.“
3 Vgl. Biographische Handbücher der deutschsprachigen Emigration nach 1933, in: De Gruyter Oldenbourg, 01.01.2023, https://www.degruyter.com/database/bhde/html (29.05.2024).