Noch bevor man sich dem Inhalt des Bandes zuwendet, darf man diesem attestieren, den wohl bedeutendsten Aufbruch der jüngeren Zeit – in der Gesellschaft im Allgemeinen wie in der Geschichtswissenschaft im Speziellen – zu dokumentieren. Wer den Autorinnen und Autoren des Bandes, auch seinen Herausgebern, allesamt mindestens im neunten Lebensjahrzehnt stehend, seine Meinung kundtun möchte, muss eine E-Mail schreiben: Das ungewohnt dürr erscheinende Verzeichnis aller Beteiligten weist (bis auf zwei Ausnahmen) allein diesen unmittelbaren Weg der Kommunikation aus – vorbei die Zeiten mehrzeiliger Anschriften von Fakultäten, Fachbereichen und Sekretariaten.
Zeitgemäß, ganz ohne Frage, und zugleich womöglich ein Hinweis darauf, wie die sich hier selbst historisierende Generation von Historikerinnen und Historikern wahrgenommen sehen möchte: zugänglich und in Bewegung, im Aufbruch eben, auf jeden Fall nicht starr und aus der Wagenburg hierarchischer Überlegenheit agierend. Dass letztere gleichwohl durchaus reklamiert werden kann, offenbart die einzige weitere Information, welche das benannte Verzeichnis aufführt: Alle dreißig Beteiligten führen denselben Titel eines „Prof. Dr.“ (bei manchem gesellt sich noch ein „h.c.“ oder gar ein „mult.“ hinzu).
Geschichtswissenschaft, das bedeutet demnach eine mehr oder weniger an eine universitäre Laufbahn geknüpfte Karriere, welche bis zur Besetzung eines ordentlichen Lehrstuhls (oder einer vergleichbaren Position an einer außeruniversitären Institution) gelangt ist. Keine Archivare, keine Bibliothekare und auch keine Gymnasiallehrer mehr, ein Befund, der sich mit der allgemeinen historiographiegeschichtlichen Forschung deckt, welche den Rückzug dieser ebenfalls geschichtswissenschaftlich arbeitenden Berufe aus der ersten Reihe der „Zunft“ im Zuge ihrer Professionalisierung auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ansetzt.
Folgerichtig führen die Herausgeber in ihrer ausführlichen Einleitung („Historiker erinnern sich. Autobiographische Zeugnisse zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Deutschland“) zuallererst den Erfolg einer Karriere, die „unbestrittene Dignität in der Zunft […] das Standing im Fach“ (S. 17) als Auswahlkriterium dafür an, welche Biographien als Spiegel der disziplinären Entwicklung geeignet wären. Näher spezifiziert werden die Erfolgskriterien allerdings nicht. Berücksichtigt werden sollte die gesamte Breite des Fachs in seinen epochalen und thematischen Differenzierungen, unterrepräsentierte Gruppen wie Frauen oder Historiker mit einer DDR-Sozialisation sollten besondere Aufmerksamkeit erhalten (was, dies gestehen die Herausgeber zu, jedoch nur bedingt gelang).
Im engeren Sinne geformt wird die berücksichtigte Gruppe durch ihre Geburtsjahrgänge. Da die Herausgeber selbst an einem vor einiger Zeit von Barbara Stambolis durchgeführten Projekt zum „Historikerjahrgang 1943“ beteiligt waren, entschieden sie sich für eine Altersgrenze der Geburt vor Ablauf des Jahres 1942.1 Der älteste beteiligte Historiker (Peter Herde) entstammt dem Jahrgang 1933; in der Rahmung dieses knappen Jahrzehnts wurden alle achtundzwanzig Erinnernden geboren – aber bildeten sie auch eine Generation?
Weshalb wir etwas über diese Gruppe von Historikerinnern und Historikern erfahren müssen, begründen die Herausgeber im Kern mit einer disziplinären Tradition autobiographischer Reflexion, die in Deutschland nach 1945 (im Unterschied etwa zu Frankreich) im Wesentlichen abgerissen sei. Zwei markante Ausnahmen werden herausgehoben: Sowohl die nach 1933 emigrierten Historiker wie auch die ab 1990 aus zumindest eigener Wahrnehmung zu Unrecht verdrängten DDR-Historiker hinterließen eine Vielzahl von autobiographischen Werken. Zwei Gruppen, die zu Recht um ihren Anteil an der disziplinären Erinnerung fürchteten und mit ihrer Selbsthistorisierung der drohenden Marginalisierung begegneten – die eigene, partikulare Geschichte sollte gegen den Mahlstrom einer mit Deutungshoheit ausgestatteten Majorität gestellt werden. Die Herausgeber selbst zeigen sich unschlüssig, weshalb es für die Geschichtswissenschaft der „alten Bundesrepublik“ an solcherart Texten mangelt. Man kann begründet annehmen, dass es schlichtweg keinen Bedarf gab – was im Umkehrschluss die Vermutung nahelegt, die im vorliegenden Band dokumentierte Historikergeneration habe eben diesen Bedarf verspürt: ihren Anteil an der Fachgeschichte zu dokumentieren und damit zu sichern.
Eingehend widmen sich die Herausgeber in ihrer Einleitung den „Erträgen“ des Bandes, heben wiederkehrende Phänomene hervor, summieren vereinende Herkünfte und Karrierewege, markieren häufige Konfliktlinien (S. 11–36). Erstaunlich knapp hingegen fällt der methodische Zweifel an der Aussagekraft von Jahrzehnte nach den „Ereignissen“ formulierten Darstellungen aus. Bedenken gegen retrospektive Selbsteinschätzungen beschränken sich im Wesentlichen auf eine je nach individueller Konstitution unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit zur „Selbstkritik“, es käme darauf an, zwischen „Selbstbewusstsein und Bescheidenheit das richtige Mischungsverhältnis zu finden“ (S. 19). Sicher, die biographische Illusion soll vermieden, zwischen „Erleben und Erzählen“ unterschieden werden. Doch welche Konsequenzen daraus folgen, ob es überhaupt möglich ist, auf diese Weise jenseits basaler Informationen über Geburtsorte, akademische Qualifikationsschritte und veröffentlichte Werke etwas über ein Individuum (und in der Summierung über eine Generation) zu erfahren, ob die hier versammelten Texte nicht letzten Endes weniger über die 1960er- bis 1990er-Jahre als über Formen und Grenzen der Selbsthistorisierung zum Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts aussagen, bleibt offen.
Wenig überraschend zeigen sich die Autoren (und zwei Autorinnen) zur einleitend erbetenen „Selbstkritik“ durchaus in der Lage, niemand blickt triumphierend auf den eigenen Lebensweg, im Gegenteil, oftmals rücken Hindernisse und Herausforderungen stärker in den Vordergrund als die nahezu durchweg erfolgreich verlaufenen Berufskarrieren. Es überwiegen soziale und intellektuelle Aufsteiger: Wie die bundesrepublikanische Gesellschaft insgesamt erfuhr auch ihre Geschichtswissenschaft einen merklichen „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck), begleitet von einem Aus- und Umbau des Wissenschaftssektors, dessen vielfach fatale berufsbiographische Auswirkungen dieser Generation jedoch im Großen und Ganzen noch erspart geblieben sind.
Es sind geglückte Leben, von denen berichtet wird – das sagt etwas aus über das Historikersein in den hier in den Blick genommenen Jahrzehnten und ist doch zugleich der nicht entrinnbaren Redundanz des Erfolgs geschuldet: Schattenexistenzen können in den Lichtkegel dieses Bandes nicht gelangen, äußere Zäsuren griffen in diese Lebensläufe nicht mehr mit der das 20. Jahrhundert zuvor vielfach kennzeichnenden Gewalt ein (das trifft auf die aus der DDR stammenden Autoren selbstverständlich nicht zu), selbst das die Universitäten in Aufruhr versetzende „1968“ wird vielfach zur Randnotiz. Der fachhistorische Ertrag dieser Rückblicke erscheint auf den ersten Blick wenig überraschend (Sozialgeschichte schlägt kulturgeschichtliche Wende, die mit immer schnellerem Durchschlag aufkommenden „Turns“ werden bestenfalls argwöhnisch betrachtet), doch differenzieren die Einzelbeiträge für ihre jeweilige Fachsparte und Epoche diese tendenziell groben Einschätzungen immer wieder auf interessante und aufschlussreiche Weise.
Einzelne Beiträge herauszugreifen, weitere besondere Erfahrungen oder augenfällige Gemeinsamkeiten zu würdigen, ist an dieser Stelle ebenso wenig möglich wie nötig. Auch wenn man den grundsätzlichen methodischen Zweifel höher ansetzt, bleibt der immanente Erkenntnisgehalt des Bandes, verteilt über achtundzwanzig individuelle Reflektionen, bemerkenswert und unterstreicht die Berechtigung, auch dieser Historikergeneration eine Stimme zu geben. Nicht zuletzt – und trotz der benannten Begrenzungen des Genres der Memoiren –, weil auf diesem Wege eine Vielzahl von Informationen zusammengetragen wurde, welche durch biographische Erforschung nur mühsam zu substituieren wäre. Dass sich trotz aller Individualität manche Wiederholungen in den Lebensläufen feststellen lassen, kann angesichts der von extremen Ausschlägen verschonten Entwicklung des Wissenschaftsbetriebs der Bundesrepublik nicht erstaunen. Ob das in der Summe wiederum für die Bildung einer Generation – gar einer „im Aufbruch“ – genügt, mag dahingestellt bleiben. Aus der Lektüre der Erinnerungstexte entsteht nicht der Eindruck, die Protagonisten hätten, gar gegen Widerstände, etwas „aufbrechen“ müssen. Vielmehr traten sie um 1960 in eine bereits in Bewegung versetzte Geschichtswissenschaft, welche ihnen angesichts wachsender Ressourcen ermöglichte, eigenständige Wege zu beschreiten.
Angesichts der zentralen Bedeutung der Kategorie Zeit für die historischen Wissenschaften erscheint es abschließend reizvoll, für diese Reflexionen an einen diachronen Vergleich zu denken: Immerhin sechs aus dieser Erinnerungsgemeinschaft2 wurden bereits vor beinahe einem Vierteljahrhundert mit den seinerzeit das Fach tief erschütternden „Versäumten Fragen“ konfrontiert, begleitet von eingehenden autobiographischen Aussagen. Eine erneute Lektüre dieser Interviews3, deren Erscheinen den Rezensenten zum Beginn seines Geschichtsstudiums nachhaltig beeindruckte, verdeutlicht vor allem die Standortgebundenheit jedes historischen Urteils: Wer einst viel zu spät dran war (mit den Fragen an die akademischen Lehrer), kann heute – aus anderer Perspektive betrachtet – mit gleichem Recht einer Generation „im Aufbruch“ angehören.
Anmerkungen:
1 Barbara Stambolis, Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943, Essen 2010.
2 Wolfgang Schieder, Hartmut Lehmann, Heinrich August Winkler, Adelheid von Saldern, Jürgen Kocka, Winfried Schulze.
3 Rüdiger Hohls / Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, München 2000.