Cover
Titel
Erasmus. Biografie eines Freigeists


Autor(en)
Langereis, Sandra
Erschienen
Anzahl Seiten
976 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilhelm Ribhegge, Münster

Die Erasmus-Biografie der Niederländerin Sandra Langereis, die zuerst 2021 unter den Titel „Dwarsdenker“ („Querdenker“) in Amsterdam erschien, wird durch einen ausführlichen Prolog eingeleitet. Darin wird der „holländische Humanist“ Erasmus zum Nationalhelden. Langereis erwähnt die hölzernen, steinernen und bronzenen Erasmus-Statuen, die in Rotterdam seit dem 16. Jahrhundert errichtet wurden. Bezeichnenderweise zeichnet ihr Prolog eine Geschichte auf, wie im Jahre 1598 eine Flotte von fünf Schiffen der Ostindischen Kompanie den Rotterdamer Hafen verließ, um auf den Weg über die Magellanstraße in Südamerika im Jahre 1600 in Japan zu landen. Am Achtersteven eines der fünf Schiffe, der „Liefde“ (Die Liebe), war eine Holzskulptur des Erasmus angebracht. Die Skulptur blieb in Japan, bis sie 1919 von japanischen Archäologen wiederentdeckt wurde. Für die Japaner repräsentierte die Skulptur seitdem die kulturelle Begegnung zweier Welten, zwischen West und Ost.

Langereis‘ Biografie ist in drei Teile gegliedert. Teil I („Bevor alles begann“) schildert in sieben Kapiteln die Kindheit des Erasmus. Teil II („Das Spiel und das Brot“), das die Kapitel 8 bis 16 umfasst, berichtet über die Jugend des Erasmus und darüber, wie er nach dem Tod seiner Eltern von seinen Vormündern genötigt wurde, in ein Kloster (Stein bei Gouda) einzutreten. Er wurde Augustinermönch und zum Priester geweiht. Danach trat er einen höfischen Dienst bei dem Bischof von Cambrai an. Anschließend begann er ein Studium in Paris. In sein Kloster kehrte er nicht mehr zurück. Einem Aufenthalt in England, wo er viele Freunde gewann, darunter auch Thomas More, schloss sich ein Ritt über die Alpen nach Italien an, wo er in Venedig bei dem berühmten Verleger Aldo Manutio die epochemachende Sprichwörtersammlung des Erasmus, die Adagia, drucken ließ. Bei seiner Rückkehr nach England entstand im Hause des Thomas More das „Lob der Torheit“ (Laus stultitiae), das sein populärstes Buch wurde.

Im Jahre 1514 reiste Erasmus nach Basel und vereinbarte dort mit dem Verleger und Drucker Johann Froben den Druck des Neuen Testaments sowie einer Hieronymus-Ausgabe. Im März 1516 war die griechisch-lateinische Ausgabe unter dem Titel Novum Instrumentum fertiggestellt. Sie enthielt 675 Seiten und war Papst Leo X. gewidmet. Dazu schreibt Langereis: „Im Novum Instrumentum stellte Erasmus die Bibel wieder her.“ (S. 717) In Basel erreichte Erasmus den Höhepunkt seiner Karriere. Im Herbst 1521 verließ Erasmus Brabant und siedelte nach Basel über.

Der dritte Teil („Ausgespielt“) – leider der kürzeste Teil – behandelt in den Kapiteln 17 bis 19 den Niedergang seiner Karriere, die nicht zuletzt durch den Aufstieg Luthers verursacht wurde, aber auch durch vielfältige Anfeindungen aus dem katholischen Lager: „In Rom nennt man mich Errasmus.“ (S. 815)

Bereits im ersten Kapitel („Autobiografien“) erwähnt Langereis, dass sich Erasmus im Jahre 1524, also um sein fünfzigsten Lebensjahr herum, als er schon den Status eines weltberühmten Autors genoss, seine eigene Lebensgeschichte aufzeichnete, die er seinen Freund Conradus Goclenius nach Löwen sandte. Sie sollte sein Andenken sichern. Erasmus hatte sich entschlossen, sein eigener Biograf zu werden. Diese Erinnerungen, so hatte Erasmus gewünscht, sollten bis zu seinem Tod geheim bleiben. Noch zwei weitere Autobiografien sind von Erasmus erhalten, nur eine davon hat er selbst später veröffentlicht.

Allerdings stellen diese Autobiografien auch dar, welche Mühen Erasmus unternahm, um zu verbergen, dass er selbst aus einer Priesterehe stammte. Wegen seiner illegitimen („verdammten“) Geburt veranlasste Erasmus, dass gleich zweimal, unter Papst Julius II. im Jahre 1506 und unter Papst Leo X. im Jahr 1517, eine päpstliche Dispens erwirkt wurde. Sie erlaubte es ihm, als Mönch und Priester außerhalb des Klosters zu leben, keine Mönchkutte tragen zu müssen und kirchliche Pfründen zu übernehmen, mit denen er seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Ein fingiertes langes Schreiben hatte Erasmus im August 1516 an den apostolischen Sekretär des Papstes Lambertus Grunnius (der nicht existierte!) gerichtet. Der letzte Absatz des Briefs war in einer Geheimschrift verfasst und mit unsichtbarer Tinte geschrieben, Langereis zufolge „Eine Meisterleistung“ (S. 198). Erasmus hat diesen fiktiven Brief 1529 in seiner Briefsammlung (Opus epistolarum) veröffentlicht, als Papst Leo und alle Beteiligten des Geschehens schon verstorben waren.

Im März 1519 schrieb Martin Luther aus Wittenberg an Erasmus nach Löwen in Brabant. Das Auftreten Luthers sollte Erasmus‘ Lebensweg vollständig verändern. Der erste Brief Luthers an Erasmus war fast demütig gehalten. In seiner Antwort vom Mai 1519 sagte Erasmus, er sei sich bewusst, dass die Angriffe auf Luther auch seinem Werk galten: „Mit Worten könnte ich nicht sagen, welchen Sturm Deine Bücher hier hervorgerufen haben.“ (S. 960)

Dann aber ging Erasmus zu Luther vorsichtig auf Distanz. „Ich habe bezeugt, dass Du mir völlig unbekannt bist, ich Deine Bücher noch nicht gelesen habe; infolgedessen missbillige und billige ich nichts.“ (S. 790) Erasmus riet Luther: Mit zivilisierter Selbstbeherrschung komme man weiter als durch Aufruhr (S. 791). Es empfehle sich, „laut gegen die aufzutreten, die die päpstliche Autorität missbrauchen, als gegen die Päpste selbst.“ (S. 791) Aber es stehe ihm nicht an, Luther zu belehren. Er habe einen Blick in dessen Psalmen Kommentar geworfen, der ihm sehr gut gefallen habe. Erasmus' Antwort war freundlich, entgegenkommend, deutlich im Urteil und zugleich reserviert.

Langereis hebt ausgiebig die Gegensätze zwischen Erasmus und Luther hervor. Erasmus habe mit Luthers „sinnlicher Bibelerfahrung nichts anfangen“ können (S. 785). Erasmus sei von Luthers dogmatischen Aussagen alles andere als fasziniert gewesen, die er als Historiker der christlichen Lehre per definitionem für zeit- und ortsgebunden hielt. Luther sei Erasmus fremd geblieben: „Luther war Bibelexeget. Erasmus war ein Bibelbiograf.“ (S. 785)

Luther redete später gehässiger über Erasmus, so in einem Brief, der 1523 gedruckt wurde (Judicium D. Martini Lutheri de Erasmo Roterodamo): Er habe diesen Menschen und seine teuflischen Machenschaften durchschaut. Oecolampadius in Basel, ein früherer Mitarbeiter des Erasmus bei Froben, und Ulrich Zwingli, Priester an der großen Kirche in Zürich, wurden Führer der Schweizer Reformation. Erasmus entschloss sich, das von ihm lange erwartete Buch gegen Luther zu schreiben. Im September 1524 kam Erasmus‘ Schrift Vom freien Willen bei Froben in Basel heraus.

Ende der 1520er-Jahre zog die Reformation auch in Basel ein. Ostern 1529 war unter der Leitung von Oecolampadius die herkömmliche Messe in allen Gotteshäusern abgeschafft. Der Bischof und sein Kapitel hatten die Stadt verlassen. Auch Erasmus verließ die Stadt und zog in das nahe Freiburg, das habsburgisch und katholisch geblieben war. Hier lebte er sechs Jahre lang und beabsichtigte wieder nach Brabant zu ziehen, kehrte dann aber aus gesundheitlichen Gründen 1535 nach Basel zurück, wo er am 12. Juli 1536 starb.

Ein katholischer Gegner des Erasmus war der Pariser Theologieprofessor Noël Béda. Im September 1523 hatte Erasmus seine Paraphrase des Lukasevangeliums herausgebracht, die sofort von Béda kritisch auf Fehler untersucht wurde. Als Erasmus davon erfahren hatte, begann er 1525 einen Briefwechsel mit Béda. Auf dessen Drängen erklärte die Theologische Fakultät 1527 das komplette Werk des Erasmus für mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Der Übersetzer von Erasmus‘ Werken ins Französische, Louis de Berquin, wurde 1529 in Paris hingerichtet. 1531 erging in Paris ein Verkaufsverbot sämtlicher Bücher von Erasmus. Viele Jahre nach Erasmus‘ Tod setzte 1559 die vom Trienter Konzil eingesetzte Glaubenskommission die Bücher des Erasmus auf den Index.

Erasmus hatte einmal geschrieben: „Zu Märtyrertum habe ich kein Talent.“ (S. 843) Langereis bemerkt dazu: Dieser Satz sei kein Zeichen der Schwäche gewesen, wie oft behauptet werde, sondern ein Ausdruck der Stärke. Dagegen war „Luthers Lehre von Emotionen, nicht von Vernunft geleitet“ (S. 845). Luther ließ sich viel Zeit zu einer Replik zu Erasmus‘ Vom freien Willen. Erst im Dezember 1525 erschien seine Gegenschrift Vom geknechteten Willen. Mit einer Diskussion der Kontroverse über den freien Willen von 1524/1526 endet das Buch. Das ist bedauerlich, denn die Bücher und Kontroversen, die Erasmus‘ weiteres Leben bestimmten, werden nur am Rande betrachtet.

Mit den 61 Seiten Anmerkungen, die teilweise wörtliche Zitate aus Erasmus‘ lateinischen Briefen und Schriften enthalten, ist die Biografie gründlich belegt. Wer die Ausführlichkeit des Buchs nicht scheut, wird es nur mit großem Gewinn lesen.

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