D.I. Popescu (Hrsg.): Visitor Experience at Holocaust Memorials and Museums

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Titel
Visitor Experience at Holocaust Memorials and Museums.


Herausgeber
Popescu, Diana I.
Erschienen
London 2023: Routledge
Anzahl Seiten
XII, 286 S.
Preis
£ 120.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Roos, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Historische Museen und Ausstellungen wurden über Jahrzehnte in einem Spannungsfeld zwischen Politik, Wissenschaft und Ästhetik beschrieben.1 Erst nach und nach wurde dieses geschichtskulturelle und geschichtsdidaktische Dreieck um ökonomische Aspekte sowie Fragen der Resonanz des Publikums2 oder der Vermittlung3 erweitert. Dass der Sammelband von Diana I. Popescu konsequent die Besuchenden ins Zentrum der Betrachtung rückt, ist besonders für den deutschsprachigen Raum innovativ und gewinnbringend. Vor allem für Gedenkstätten, die meist kostenfreien Eintritt bieten und niederschwellig zugänglich sein möchten, liegen hier teils nur wenige statistische Angaben vor (Doreen Pastor, S. 237f.).

Den Begriff „Experience“ für Besuche von Holocaust-Gedenkstätten und Holocaust-Museen zu nutzen, reflektiert Popescu in ihrer Einleitung kritisch: Ziel des Sammelbands sei es, angesichts einer immer stärker publikumszentrierten Ausrichtung von Museen und Gedenkstätten die Motivationen, Wahrnehmungen und Erfahrungen der Besuchenden besser zu verstehen. Hierzu führt der Band empirische Studien aus den Kommunikations- und Medienwissenschaften, der Museologie sowie der Pädagogik mit Beiträgen aus den Geschichtswissenschaften und den Holocaust Studies zusammen. Alle Texte eint die evidenzbasierte Auswertung der Interaktionen von Besuchenden mit historischen Orten oder Museen. Das methodische Vorgehen ist dabei äußerst vielfältig: von quantitativen Fragebögen über qualitative Interviews, Vor-Ort-Beobachtungen, persönlichen Eindrücken, der eigenen Reflexion in Gedichtform bis hin zu diskursanalytischen Auswertungen von Online-Kommentaren. Allein für die Berliner „Topographie des Terrors“ wurden über 10.000 Beiträge auf TripAdvisor analysiert (Beitrag von Stephan Jaeger). Gegliedert sind die insgesamt 18 Beiträge anhand der räumlichen Bedingungen: erstens Museumsräume, zweitens digitale Räume (in Verbindung mit Museen und Gedenkstätten) sowie drittens Räume ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Museen umfassen sowohl Holocaust Centres unterschiedlicher Art als auch Jüdische Museen, etwa in Berlin, London oder Warschau. Weitere Fallstudien entstanden in den USA, in Australien, Belgien, Frankreich, Israel, Norwegen und Österreich.

Die Autorinnen und Autoren wirken hauptsächlich an Universitäten im englischsprachigen Raum oder in Israel. Alle Beiträge sind mit jeweils etwa 15 Seiten kompakt und prägnant geschrieben. Sie stellen einleitend überblicksartig Geschichte und Beschaffenheit des Orts der Fallstudie vor und machen Befunde anhand konkreter Beispiele nachvollziehbar. Zusammenfassend wird häufig der Mehrwert der Forschungsergebnisse für die künftige Arbeit von Museen und Gedenkstätten herausgestellt. Zusätzlich zum wissenschaftlichen Lesepublikum im engeren Sinne soll der Band explizit auch die Gedenkstättenpraxis ansprechen.

Gerade bei der Analyse von Online-Kommentaren zeigt sich, wie produktiv der Ansatz ist, Besuchende nicht ausschließlich als Rezipierende und Lernende zu begreifen, sondern als „agents of memory“ (Popescu, S. 2). Von Einträgen ins klassische Gästebuch am Ende einer Ausstellung unterscheiden sich, wie Stephan Jaeger zeigt, Kommentare auf TripAdvisor oder Google Maps durch ihren Einfluss auf potentiell viele zukünftige Gäste: Diese lesen die Kommentare vorab, sodass solche Kurztexte die Besuchsentscheidung ebenso mitprägen wie die Erwartungen an einen Ort. Diese „digitale Kuration“, so Christoph Bareither, werde von Gedenkstätten und Museen meist ignoriert. Er plädiert dafür, sie ebenso wahr- und ernstzunehmen wie die Emotionen der Besuchenden, auch wenn beides von den Einrichtungen kaum beeinflusst werden könne.

Yael Shtauber, Yaniv Poria und Zehavit Gross zeigen in ihrer gemeinsamen Studie zu begleiteten Rundgängen in israelischen Holocaust-Gedenkstätten, dass die Tour Guides maßgeblich die Wahrnehmung der Besuchsgruppen prägen. Da sie ihre Tätigkeit als sinnvoll erachten, sind ihnen Arbeitsbedingungen und Gehalt erst in zweiter Linie wichtig. Doch sie wollen mitentscheiden, was sie den Gruppen zeigen, und ihre eigene Narration entwickeln. Einzelbesuchende stehen demgegenüber selten im Fokus der Institutionen oder der Besuchsforschung. Der Sammelband stellt insgesamt drei Audio-Walks als individuelle Alternativen zur Gruppenführung vor. Anhand des ehemaligen Strafgefangenenlagers Falstad nahe von Trondheim, das im Rahmen der deutschen Besatzungsherrschaft in Norwegen betrieben wurde, zeigt Anette Homlong Storeide die Potentiale eines Virtual-/Augmented-Reality-Guides auf: Dieser hilft zwischen den Erwartungen an einen „authentischen Ort“, verschiedenen Nutzungsansprüchen sowie der (nicht mehr) vorhandenen historischen Bausubstanz zu vermitteln. Deutlich wird, dass die Technik weder Selbstzweck noch Allheilmittel ist: Einen Mehrwert stellt sie dar, wenn sie die Geschichte und Gegenwart des historischen Orts gleichermaßen ernstnimmt.

Hinsichtlich der Wirkung eines Gedenkstättenbesuchs zeichnen mehrere Beiträge eine Verschiebung nach: von der moralischen Verpflichtung „Never Again“ hin zu einem „Yet Again“, einer Verwirrung oder Entrüstung darüber, dass es weiterhin organisierte und massive Gewaltverbrechen auf der Welt gibt. Hier greift der Sammelband eher implizit die erhitzt geführte Debatte über die Betonung von Kontinuitäten oder der Präzedenzlosigkeit des Holocaust auf. Mit dem Verweis darauf, dass Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus nicht nur Themen der NS-Vergangenheit seien, fordert beispielsweise Doreen Pastor explizit eine Aktualisierung der Inhalte durch die Gedenkstätten (S. 248). Dagegen zeigen Kommentare, die Michael Bernard-Donals aus dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington zitiert, dass Besuchende dort Anfang der 1990er-Jahre auf Bosnien, 2006 auf den Libanonkrieg zu sprechen kamen. Schon bevor 2009 Michael Rothbergs Buch „Multidirectional Memory“ erschien und ohne dass das Museum einen Vergleich angeregt hätte, brachten die internationalen Gäste ihre eigenen Geschichten, ihre eigene Gegenwart mit ins Museum und diskutierten diese im Verhältnis zum Holocaust. Zudem belegt Stephan Jaeger, dass die Topographie des Terrors in Berlin, die keine didaktische Aktualisierung oder Gegenüberstellung anstrebt, bei den Besuchenden eine aktivere Rezeption auslöst als die Kazerne Dossin, ein ehemaliges SS-Sammellager in Mechelen, Belgien. Dort werden andere Völkermorde explizit in die Dauerausstellung eingebunden.4 Nimmt man diese Befunde ernst, braucht es Gedenkstätten, die bei ihrem historischen Gegenstand bleiben und neben Gemeinsamkeiten zugleich signifikante Unterschiede benennen, um historische Urteilskraft, Reflexions-, aber vor allem auch Differenzierungsfähigkeiten zu stärken.

Eine gelungene Differenzierung nimmt die Wanderausstellung „The Eye as Witness“ vor, die 2022 in Nottingham zu sehen war.5 Sie problematisierte, dass viele Fotografien, die in Museen und Gedenkstätten den Holocaust dokumentieren sollen, von NS-Tätern gemacht wurden. Bewusst stellte sie den sehr bekannten Fotografien aus dem Stroop-Bericht etliche weniger bekannte Bilder gegenüber, die Juden selbst in Ghettos und Lagern gemacht hatten, etwa Henryk Ross in Łódź. Die begleitende Studie von Diana I. Popescu und Maiken Umbach zeigt, dass die Ausstellungsgäste lernten, die Unterschiede zu sehen und zu verstehen, dass die jeweilige fotografische Perspektive auch für die heutige Betrachtung relevant ist.

Umso ärgerlicher, jedoch auch typisch für viele Sammelbände ist, dass Adele Nye und Jennifer Clark im selben Band den Einstieg in das am 9. November 2020 eröffnete Adelaide Holocaust Museum als besonders eindrucksvoll beschreiben (S. 113): Dort wird lebensgroß das Foto des Jungen mit den erhobenen Händen gezeigt, das eben jenem Propaganda-Bericht entstammt, den SS-Gruppenführer Jürgen Stroop bei der brutalen Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands anfertigen ließ. Gleichermaßen irritiert, wenn vom Vernichtungslager „Sobibör“ (S. 267) die Rede ist oder der Authentizitätsbegriff uneinheitlich, teils auch unhinterfragt verwendet wird.

Zentraler als solche kleinteilige Kritik erscheint aber die Frage nach der Aussagekraft von Besuchsdaten aus der Vergangenheit für zukunftsgerichtete Empfehlungen, gerade in einer sich medial, sozial und politisch rasant verändernden Gegenwart. Teils fand die aufwendige Datenerhebung in den 2010er-Jahren statt, während heute selbst der Beitrag darüber, wie die Gedenkstätte Dachau im April 2020 angesichts der Covid-19-Pandemie an die Befreiung 75 Jahre zuvor erinnerte, einer anderen Zeit zu entstammen scheint.

Auch die jüngste Gegenwart, die in den Sammelband noch nicht eingehen konnte, weist deutlich auf eine fulminante Leerstelle hin: Antisemitismus spielt in den Beiträgen weder als historischer Gegenstand, ohne den sich der Holocaust nicht verstehen lässt, noch als mögliches Deutungs- und Interpretationsmuster bei Besuchenden eine Rolle. Wie Museen und Gedenkstätten mit dem seit dem 7. Oktober 2023 weltweit massiv an die Oberfläche tretenden Antisemitismus umgehen, ihm gegebenenfalls sogar entgegenwirken können, erfährt man im Sammelband nicht, obwohl sich diese Frage grundsätzlich auch schon vor dem Angriff der Hamas auf Israel stellte.

Insbesondere für Vermittlerinnen und Vermittler bietet der lesenswerte Band einen schonungslosen Einblick in ihre Arbeitsrealitäten. Er bekräftigt, was bereits andere Studien nachgewiesen haben: dass Museen und Gedenkstätten häufig vorhandenes Wissen verstärken, jedoch kaum neue Lernimpulse setzen. Bildungsangebote werden gelegentlich sogar als störend empfunden, motiviert doch meist der diffuse Wunsch nach einem „authentischen Erlebnis“ oder nach Affirmation eigener Überzeugungen zum Besuch. Komplexe wissenschaftliche Fragen und kuratorische Überlegungen spiegeln sich selten in Kommentaren von Besuchenden. Dennoch liest sich der Band als ein großartiges Plädoyer für das Lernen am historischen Ort sowie anhand historischer Objekte und zeigt, dass auch komplexe Erzählungen ihr Publikum finden können. Damit Museen und Gedenkstätten dies zu leisten vermögen, brauchen sie ausreichend finanzielle wie personelle Ressourcen. Wichtig wäre, sowohl in der Besuchsforschung als auch bei Ausstellungsanalysen ökonomische Fragen mitzudenken. Wie prekär die Situation jenseits des Blicks auf die Besuchenden ist, zeigt die Tatsache, dass das Jewish Museum in London, in dem Sofia Katharaki Teile ihrer Studie durchführte, seit Sommer 2023 aus finanziellen Gründen geschlossen ist. Bei den schwierigen Arbeitsbedingungen, wie sie besonders in kleineren und mittleren Einrichtungen herrschen, bleibt zwar zu hoffen, aber auch fraglich, ob die Beschäftigten dort die Zeit finden werden, den Sammelband in die Hand zu nehmen.

Anmerkungen:
1 Jörn Rüsen, Für eine Didaktik historischer Museen, in: ders. / Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Pfaffenweiler 1988, S. 9–20; ders., Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Köln 1994, bes. S. 172–180.
2 Joachim Rohlfes, Eine bilanzierende Einführung. Zu den Beiträgen in diesem Buch, in: Olaf Hartung (Hrsg.), Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft, Bielefeld 2006, S. 11–20, hier S. 11.
3 Karl Heinrich Pohl, Der kritische Museumsführer. Neun historische Museen im Fokus, Schwalbach 2013, S. 21.
4 Siehe auch die Ausstellungsrezension von Jakob Martin Müller, in: H-Soz-Kult, 02.02.2013, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130693 (07.04.2024).
5 (https://witness.holocaust.org.uk, 07.04.2024).