Dass Stefan Zweig als großer Europäer gilt, ist einer der Gemeinplätze in der Germanistik und darüber hinaus. Nicht umsonst hat das Europäische Parlament eines seiner Gebäude nach dem Wiener benannt. Die dazugehörige Pressemitteilung stellt Zweig eher lapidar als „österreichische[n] Schriftsteller und Verfechter eines vereinten Europas“ vor.1 In „Europas imaginierte Einheit“ untersucht Marian Nebelin, auf welcher Grundlage diese teils vereinfachende und damit stereotypisierende Zuweisung fußt und wie Zweig, vor allem in der Zwischenkriegszeit, sein Europa darstellt.
Dafür untersucht Nebelin eine Reihe von europäischen Reden und Beiträgen von Zweig und entwirft ein Phasenmodell, um anhand dessen die Europavorstellung des Schriftstellers besser beschreiben zu können und „einen Zugang zu wesentlichen Kontinuitätsmomenten und Brüchen im politischem wie geschichtsphilosophischem Denken des Schriftstellers“ (S. 5) zu finden. Mit diesem Ziel vor Augen bettet Nebelin seine Arbeit einleitend auf den biographischen und werkgeschichtlichen Kontext. Sodann werden in sieben Kapiteln der Entwurf der Zweig'schen Geschichtsvision, deren Chronologie und Varianten und deren inhärenter Eurozentrismus untersucht beziehungsweise herausgearbeitet. Im Zentrum der Arbeit steht Zweigs Aufsatz „Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung“, den der österreichische Schriftsteller 1932 in Florenz gehalten hat. Die weiteren Europa-Texte werden als Vorarbeiten oder Weiterentwicklungen desselben betrachtet.
Nebelin schematisiert die historizistischen Phasenmodelle, die den Texten innewohnen. Jede Phase entspricht dabei verschiedenen vermeintlich unifikatorischen Momenten in Europas Historie. Allesamt gehen die Modelle von einer ersten Phase aus, einer Art biblischen Urzeit, exemplifiziert bei Zweig durch die Geschichte des Turmbaus zu Babel. In unterschiedlichen Variationen zeichnet der Wiener die europäische Geschichte danach weiter über das Römische Reich (linguistisch und politisch unifizierend), den katholischen Glauben, die lateinische Gelehrtenrepublik, den Humanismus, Musik, Wissenschaft, Kunst und Malerei, schließlich den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit, das heißt die damalige Gegenwart. Letztere sei durch die zunehmende Technologisierung der Gesellschaft gekennzeichnet. Folglich liegt der Fokus bei Zweig, so hebt Nebelin hervor, auf der kulturellen Vereinigung (vgl. S. 76), eine Vereinigung, welche freilich eher in den oberen Gesellschaftsschichten Konturen annehmen konnte. Konsequenterweise weist Nebelin wiederholt auf Zweigs Elitismus hin (vgl. S. 52, 83, 161). Es sei bemerkt, dass Zweigs Visionen auch in einem politischen Kontext entstanden: So wurde 1920 etwa der Völkerbund ins Leben gerufen; ein Aspekt, den Nebelin in seinem Buch bedauerlicherweise ignoriert.
Besonders kritisch mit der Gegenwart, zumal in den 1930er-Jahren, erkennt Zweig in der Technik auf der einen Seite zwar Vereinendes, auf der anderen Seite steht diesem Fortschrittsoptimismus allerdings eine Technikkritik gegenüber (vgl. S. 38, 64f., 136). Denn ‚vereinend‘ könne – in diesen dahingehend als anti-amerikanisch zu lesenden Passagen2 – auch ‚monotonisierend‘ bedeuten: Individualität nähme ab, Konsum und Kapitalismus träten an den Platz der europäischen Kunstfertigkeit.
Wird eine als solche dargestellte Abfolge von Phasen einem gesamten Kontinent aufoktroyiert, muss dies fast zwangsläufig schematisch bleiben. Konsequenterweise macht Nebelin in Zweigs Werk „narratologische[] und analytische[] Unzulänglichkeiten der Geschichtserzählung“ (S. 251) aus. Jedoch sei es gemessen am Zeitpunkt der Reden, in einem sich zuspitzenden politischen Umfeld, ein durchaus nachvollziehbarer Entwurf: Zweig habe seine unifikatorischen, sich auf ein gemeinsames Erbe besinnenden Reden und Aufsätze dem rechtsnationalen und nationalsozialistischen Partikularismus entgegenzustellen versucht (vgl. S. 235) und seinen Leserinnen und Lesern damit ein Identifikationsangebot unterbreitet (vgl. S. 307). Damit ist die Frage der intendierten Funktionalität der Reden geklärt; Zweig tritt als politischer, wenn auch nicht tagespolitischer Autor der europäischen Einigungsbewegung in Erscheinung (vgl. S. 103).
In hohem Grade zeitgemäß wirken Nebelins Erkenntnisse hinsichtlich der eurozentrischen Tendenzen innerhalb der untersuchten Texte. Wenngleich der Titel des Buches nicht unmittelbar darauf hindeutet, liegt tatsächlich eines der Hauptaugenmerke genau auf ebenjenem Thema. Dabei handele es sich um „eine der interessantesten Fragen der Zweig-Forschung: die nach dem Verhältnis von eurozentrischem Ideal und humanistischer Universalität“ (S. 281). Indessen ist kein Geheimnis mehr, dass Zweigs Europäertum zuweilen eurozentrische Züge beinhaltet. Dies wird besonders deutlich in der von Nebelin postulierten „Verschiebungsthese“ (S. 193): Zweig habe gehofft, dass die europäische Entwicklung im Moment der sich anbahnenden Autodestruktion, die der Zweite Weltkrieg bedeuten würde, sich in Südamerika bewahren könne, in Argentinien und vor allem in Brasilien. Eine weitere Europäisierung der ehemaligen Kolonien sei überhaupt nur denkbar gewesen, da diese angeblichen ‚Völker ohne Geschichte‘ (vgl. S. 140) einer europäischen Einschreibung gegenüber empfänglich sein konnten. Ein historisch ‚schöpferisches‘ Europa wird kontrastiert mit ‚nicht-schöpferischen Völkern‘. Der österreichische Schriftsteller habe in der Konsequenz humanistisch-unifikatorisch wirken wollen: „Allerdings ist es Zweig niemals gelungen, sich von seiner eurozentrischen Ausgangsperspektive zu lösen“ (S. 22) und „Europa war eben für Zweig die Welt“ (S. 284).
In einer weiteren Analyse ist Nebelin zuzustimmen: Der Historiker erkennt in dem unifikatorischen Ansatz imperialistische Grundzüge. Diese sind bereits in der Darstellung des Römischen Reiches angelegt: „Das Römische Reich […] erschien dem Schriftsteller als die erste (und vorerst letzte) Realisierung der politischen Einheit Europas“ (S. 117). Rom habe Zweig als einer der kollektiven Träger von vereinheitlichter und vereinheitlichender europäischer Identität gegolten (vgl. S. 190). An dieser Stelle wäre ein Quervergleich auf Zweigs Artikel „Der Genius Englands“ wünschenswert gewesen. Auch in dem 1924 publizierten Text preist Zweig die imperialistischen Leistungen eines europäischen Reiches: „Dieser große Weltplan – seit Rom die prachtvollste Kollektivleistung eines Volkes – ist das eigentliche Werk des englischen Genius, des größten Architekten der Menschheit“.3 In seinen Texten über Indien, beispielsweise „Die indische Gefahr für England“ aus dem Jahr 1909, belegt Zweig die imperialen Leistungen anhand konkreter Beispiele: der Schaffung von Infrastruktur, Krankenhäusern und Gleisen sowie einem insgesamt zivilisierenden Einfluss Großbritanniens.4 Eine solche Einbettung in Zweigs Œuvre hätte der hier besprochenen Arbeit weitere Tiefe verliehen und die Argumentation gestützt.
Eurozentrismus, imperialistische Tendenzen und, wie Nebelin unterstreicht, Rassismus im Werk (das Beispiel des Textes „Negerfrage“ drängt sich auf) sorgen dafür, dass Zweigs unifikatorischen Texten das moralische, zwar aspirierte aber nicht vollumfänglich erreichte, humanistische Ideal immer wieder abgeht. Die Texte bieten letztlich nur eine „vorgebliche Universalisierung“ (S. 315) an.
Insgesamt ist Nebelins Monographie über Zweig, nach vorangegangenen Arbeiten zu Benjamin und Cicero, eine willkommene Erweiterung der aktuell florierenden Zweig-Forschung. Das Gesamtbild des Europäertums des österreichischen Schriftstellers erfährt durch Nebelin eine weitere Nuancierung und eine historische Einbettung. Dabei ist in besonderem Maße begrüßenswert, dass die Forschung hier nicht einen weiteren Panegyrikus beisteuert, sondern, wie Zweig selbst es fordert, versucht, die (Werk-)Geschichte „ständig zu überprüfen und die eigentliche Leistung auf ihr historisches Maß zurückzuführen“.5
Anmerkungen:
1 Pressemitteilung, Europäisches Parlament benennt Gebäude nach Helmut Kohl und Stefan Zweig, https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190212IPR26201/europaisches-parlament-benennt-gebaude-nach-helmut-kohl-und-stefan-zweig (17.03.2024).
2 Vgl. Bastian Spangenberg, Amerika-Bilder von Stefan Zweig. Demokratieverehrung und die Angst vor der Monotonisierung der Welt, in: Karsten Dahlmanns / Aneta Jachimowicz (Hrsg.), Geliebtes, verfluchtes Amerika. Zu Antiamerikanismus und Amerikabegeisterung im deutschen Sprachraum 1888–1933, Göttingen 2022, S. 229–239, bes. S. 235f.
3 Stefan Zweig, Der Genius Englands, in: ders., »Nur die Lebendigen schaffen die Welt«. Politische, kulturelle, soziohistorische Betrachtungen und Essays, 1911–1940, Krems 2016, S. 145.
4 Stefan Zweig, Die indische Gefahr für England, in: ders., Menschen und Schicksale, Frankfurt am Main 1998, S. 14.
5 Stefan Zweig, Ist die Geschichte gerecht?, in: ders., Die schlaflose Welt, Essays 1909–1941, Frankfurt am Main 2012, S. 160.