Hans Peter Herrmann widmet sich mit seiner Monografie dem Phänomen des deutschen Frühnationalismus in der Übergangszeit zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Ziel dieser Arbeit des emeritierten Freiburger Germanisten ist es, die Entstehungs- und Funktionsmechanismen des deutschen Frühnationalismus um das Jahr 1500 systematisch darzulegen. Dabei hinterfragt Herrmann kritisch die immer noch gängige historiografische Auffassung, die den Nationalismus vor allem als eine Folge der Französischen Revolution und der politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts versteht. Stattdessen argumentiert er im Anschluss an die neuere Forschung, dass bereits im frühen 16. Jahrhundert das „Grundkonzept des modernen klassischen Nationalismus“ existierte, dessen ideologische und kulturelle Ausprägungen entscheidend für die spätere Nationalismusentwicklung waren.
Die Studie fügt sich in eine wissenschaftliche Diskussion ein, die durch den Paradigmenwechsel der „konstruktivistischen Wende“ angestoßen wurde. Forscher wie Reinhart Koselleck und Ernest Gellner haben aufgezeigt, dass Nationalismus nicht nur als politisches, sondern auch als kulturelles und diskursives Phänomen zu begreifen ist. Herrmanns Studie steht somit in der Tradition konstruktivistischer Ansätze, die Nationalismus als ein kulturelles Konstrukt betrachten. Während die klassischen Arbeiten von Benedict Anderson und Liah Greenfeld den Fokus auf die Entstehung moderner Nationen im 18. und 19. Jahrhundert legen, zeigt Herrmann allerdings, dass bereits im 16. Jahrhundert nicht nur Vorstufen des Nationalismus existierten, sondern seine frühen Erscheinungsformen auf spezifischen kulturellen und ideologischen Strukturen basierten, die spätere Entwicklungen prägten. Dies erweitert den gängigen Rahmen und fordert eine Neupositionierung der bisherigen Narrative zur Frühgeschichte des Nationalismus. Auf diese Weise leistet Herrmann einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte, welche durch die Arbeiten von Caspar Hirschi, Johannes Helmrath und Robert von Friedeburg in den historischen Wissenschaften intensiviert wurde. Durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Forschung erweitert Herrmann die Perspektive, indem er die Literatur und Ideologie des 16. Jahrhunderts als wesentliche Triebfedern für die Herausbildung nationalistischer Narrative identifiziert und analysiert.
Herrmann beginnt mit einer umfangreichen Einleitung, welche die Aktualität seiner Untersuchung im Lichte gegenwärtiger nationalistischer Strömungen in Europa betont. Hier positioniert er seine Arbeit als Teil einer historiographischen Debatte, stützt sich auf die Definition von Nationalismus nach Andreas Fahrmeir und argumentiert, dass frühere Annahmen, der Nationalismus sei ein rein modernes Phänomen, einer Revision bedürfen. Der Verfasser eröffnet sein Buch mit einer umfassenden Einführung in die Forschungsgeschichte und Geschichte zentraler Begriffe wie das Attribut „deutsch“, die Begriffe „natio“ und „Nation“ sowie „Nationalismus“ und „kollektive Identität“. Er plädiert für eine analytische Perspektive, die Nationalismus als „Deutungsmuster“ versteht, das sowohl politische als auch kulturelle Prozesse umfasst. Besonderes Augenmerk legt er auf die Differenzierung zwischen einem rein politischen und einem kulturellen Nationalismus.
Herrmanns Studie ist klar strukturiert und verbindet historische Begriffsgeschichte, theoretische Konzepte und Fallstudien miteinander. Das Buch ist in drei Hauptkapitel unterteilt, welche durch die Abschnitte „Vorgeschichten“ und „Schlussbemerkungen“ flankiert sind. Sie führen schrittweise von der Begriffsgeschichte über die theoretische Fundierung hin zur Analyse zentraler Akteure und Diskurse.
Das erste Kapitel widmet sich den Anfängen des europäischen Nationalismus und behandelt die Begriffsgeschichte des lateinischen natio sowie dessen Transformation im 15. Jahrhundert. Herrmann zeigt, wie aus der ursprünglich geografischen Bezeichnung eine politische und kulturelle Kategorie wurde. Besonders hervorzuheben ist die Analyse der sogenannten „Nationalisierung Europas“, in welcher die Entstehung nationaler Diskurse im Kontext der europäischen Machtkämpfe (zum Beispiel auf den Konzilien von Konstanz und Basel) untersucht wird. Er betont die Rolle von Gelehrten und politischen Eliten, welche im ausgehenden 15. Jahrhundert begannen, nationalistische Diskurse zu formen. Enea Silvio Piccolomini (später Papst Pius II.) wird hier als eine Schlüsselfigur hervorgehoben.
Das zentrale zweite Kapitel „Der deutsche Frühnationalismus“ untersucht die spezifisch deutsche Entwicklung, die sich in den Schriften humanistischer Autoren wie Ulrich von Hutten und Conrad Celtis manifestierte. Diese prägten das Bild eines „deutschen Vaterlandes“, das sich kulturell und politisch von Italien und Frankreich abgrenzen sollte. Die Verbindung von Humanismus und Reformation, insbesondere die nationalistischen Implikationen der Schriften Martin Luthers, werden detailliert herausgearbeitet.
Das dritte Kapitel „Nationalismus und Machtphantasien“ analysiert die aggressiven und teilweise gewalttätigen Ausprägungen des frühen deutschen Nationalismus. Herrmann zeigt, wie „völkische“ Narrative (S. 136) genutzt wurden, um politische Machtansprüche zu legitimieren. Besonders eindrucksvoll ist Herrmanns Analyse der Schriften Ulrichs von Hutten, der Nationalismus mit protestantischen Reformideen verband und ein Narrativ eines militanten Nationalismus entwickelte, das Hass und Feindbilder zur Mobilisierung einsetzte.
Im abschließenden Kapitel „Schlussbemerkungen“ zieht Herrmann eine Bilanz der Ergebnisse und diskutiert die langfristige Bedeutung des deutschen Frühnationalismus. Der Verfasser der Studie argumentiert, dass viele narrative und ideologische Elemente, die im 16. Jahrhundert entwickelt wurden, später von der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts aufgegriffen und radikalisiert wurden. Er resümiert allerdings, dass der Frühnationalismus keineswegs nur ein „Vorläufer“ moderner Nationalismen ist, sondern eigenständige Charakteristika aufweist – insbesondere in seiner Verknüpfung von Religion, Kultur und Politik.
Die größte Stärke von Herrmanns Werk liegt in der tiefgehenden Analyse literarischer und ideengeschichtlicher Quellen. Durch die systematische Einbindung humanistischer Texte wie der Germania-Rezeption und der politischen Pamphlete der Reformationszeit zeigt Herrmann, wie eng Kultur, Religion und Politik in der nationalen Identitätsbildung verflochten waren. Seine These, dass der deutsche Frühnationalismus bereits um 1500 eine eigenständige Form des Nationalismus darstellt, ist gut begründet und greift engagiert in die Debatten der bisherigen Forschung ein. Konsequent wendet sich die Monografie gegen die verharmlosende These vom sogenannten „Reichspatriotismus“ auf der einen Seite und gegen die Essentialisierung des Begriffs der Nation auf der anderen Seite.
Besonders hervorzuheben ist Herrmanns interdisziplinärer Ansatz, der historische, literaturwissenschaftliche und kulturtheoretische Methoden kombiniert. Seine Argumentation ist stets klar strukturiert und stützt sich auf eine beeindruckende Quellengrundlage. Die Verwendung von Primärquellen – darunter zahlreiche selten zitierte Schriften von Humanisten – verleiht der Monografie einen hohen wissenschaftlichen Wert und auch eine gewisse Faszinationskraft, wenn die Quellen durchaus auch auf ihre ästhetische Dimension hin durchleuchtet werden. So entsteht ein sehr lebendiges Bild vom Wirken der beteiligten Humanisten.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Einbettung des deutschen Frühnationalismus in den europäischen Kontext. Herrmann zeigt auf, dass die deutschen Entwicklungen nicht isoliert betrachtet werden können, sondern Teil eines größeren Prozesses der „Nationalisierung Europas“ waren. Diese Perspektive macht das Werk auch für Leser:innen außerhalb der deutschen historischen Forschung interessant.
Diese werden es dem Autor vermutlich auch danken, dass Herrmann theoretische Begrifflichkeiten von Diskurs über Narrativ diskutiert und benutzt, aber mit seinem eher bodenständigen Begriff des Deutungsmusters das Theorievokabular nicht überstrapaziert oder ins Leere laufen lässt.
Sehr bereichernd und anschaulich sind die abgedruckten Bilder wie etwa Albrecht Altenbergs „Reich Germaniae“ (Kaiser Maximilian als Frau Germaniae), das allerdings nicht ausreichend erklärt wird. Die abgedruckten Faksimiles von Celtis und von Hutten dagegen stehen in einem engen Zusammenhang mit den Interpretationen und Schlussfolgerungen Herrmanns.
Trotz seiner Stärken weist das Werk auch Schwächen auf. Eine stärkere Einbindung moderner soziologischer und anthropologischer Theorien (zum Beispiel zu kollektiver Identität, Zugehörigkeit und sozialem Handeln) hätte den interdisziplinären Ansatz weiter bereichert. Dass der Frühnationalismus nur von einer kleinen Trägerschicht von Intellektuellen und Literaten geformt wurde, stellt Herrmann klar. Welche sozialen und wirtschaftlichen Faktoren diese so erfolgreich werden ließen, verdient noch mehr Beachtung. Eine weitere Schwäche des Buches ist der Versuch, in Vor- und Nachwort manchmal mit schnellem Urteil aktuelle Bezüge herzustellen, die von der AfD bis zum Krieg in der Ukraine reichen. Dies beeinträchtigt jedoch die klare Argumentation im Hauptteil nicht.
Mit „Identität und Machtanspruch“ legt Hans Peter Herrmann eine wegweisende Monografie vor, die das Verständnis von Nationalismus und Identität im 16. Jahrhundert nachhaltig prägt. Besonders innovativ ist Herrmanns Betonung der literarischen Dimension des Nationalismus. Seine These, dass Autoren wie Hutten und Celtis nicht nur intellektuelle Kommentatoren, sondern aktive Gestalter nationaler Narrative waren, eröffnet neue Perspektiven auf die Rolle von Literatur in politischen Prozessen. Sein interdisziplinärer Ansatz und die detaillierte Quellenauswertung machen das Werk zu einem unverzichtbaren Beitrag für die Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften. Obwohl es gewisse Schwächen in der Gewichtung der Quellen und der theoretischen Einbettung gibt, überwiegen die Stärken deutlich.
Herrmann zeigt eindrucksvoll, dass der deutsche Frühnationalismus weit mehr als eine Vorstufe moderner Nationalismen war. Vielmehr handelte es sich um eine eigenständige und komplexe Bewegung, deren narrative und ideologische Elemente bis in die Gegenwart wirken. Die Monografie ist daher nicht nur für Spezialist:innen, sondern auch für ein breiteres wissenschaftliches Publikum von großem Interesse. Das Buch Hans Peter Herrmanns ist, so lässt es sich festhalten, eine anspruchsvolle, aber lohnende Lektüre, die neue Maßstäbe in der Nationalismusforschung setzt.