Wer in der gegenwärtigen historischen Situation mit dem intensivsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg konkrete Handreichungen erwartet, wird enttäuscht. Das kann seriöse Historie auch gar nicht leisten. „Man kann die aktuellen Krisen nicht an die Geschichte delegieren. Geschichte wiederholt sich nicht und sie liefert auch keine Blaupausen für Entscheidungen“, schreibt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard. „Sie offenbart Verlaufsmuster und Handlungslogiken genauso wie Ambivalenzen und paradoxe Situationen, und sie immunisiert gegen einfache Erklärungen, Analogien und Vergleiche.“ (S. 17) Was Leonhard also liefert, ist ein beeindruckender Überblick über die Vielfalt von Kriegen. Er behandelt zunächst die verschiedenen Arten von Kriegen, beschreibt dann ihre jeweils unterschiedlichen Verläufe und geht auf dieser Grundlage auf einzelne Elemente aus verschiedenen Perspektiven während der Kriege ein.
Formal ist das Ganze in 10 Kapitel aufgeteilt, die Thesen heißen, eigentlich aber jeweils ein Feuerwerk an historischen Beispielen und deren Vielfalt abbrennen: mal konnte sich der thesenartige Sachverhalt so oder auch anders entwickeln. Jeder These ist ein historisch kennzeichnender konkreter Fall vorgeschaltet, dem die historische Entfaltung folgt. Das reicht bisweilen in die Antike zurück, wird mit dem Dreißigjährigen Krieg häufiger und zieht seine empirischen Erläuterungen weitgehend aus den letzten beiden Jahrhunderten heran. Nehmen wir These 1: „Die Natur des Krieges bestimmt sein Ende“ (S. 19). Wenn „Natur“ auch ein vages Kriterium sein mag, so folgen doch vier Faktoren, die den Wandel des Krieges selbst seit dem 18. Jahrhundert umreißen, dann den des Wandels von Legitimation von Herrschaft benennen, weiterhin fragen, inwieweit sich die Kontrahenten auf der gleichen Ebene sahen und schließlich die Möglichkeit einer Vermittlung durch Dritte als relevant erklären. Strukturelle Ursachen von Kriegen bestimmten demgemäß auch ihr Ende. Solche allgemeinen Sätze mögen banal klingen, sie werden jedoch immer wieder mit historischen Beispielen zur Erläuterung der Vielfalt untermauert. Genau darin liegt ja ein wesentlicher Bestandteil historischer Aufklärung.
Generell gelingt es Leonhard immer wieder, an vielen Beispielen die sehr unterschiedliche Dynamik von Wegen aus dem Krieg zu zeigen, überraschende Entwicklungen zu zeigen. „Planung, Prognose und dynamische Wirklichkeit“ fielen nicht nur im bzw. seit dem Ersten Weltkrieg auseinander (S. 48) – und mit dieser „Kontingenz“ sind wir beim preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz. Nicht jeder Frieden trägt auch, manche sind nur Waffenstillstände, die einer Seite die Möglichkeit bieten, den Krieg bald wieder aufzunehmen. In vielen Fällen bestimmen die verfügbaren Ressourcen die „Kippmomente“ von Kriegen – aber das müssen die Akteure selbst nicht unbedingt auch selbst zugleich mitbekommen haben. Hier klaffen also Gegensätze von Fakten und deren Perzeption.
„Es gibt keinen Frieden ohne Kommunikation, und wer den Besiegten demütigt, macht den Frieden zum Waffenstillstand“, lautet These VII des Bandes (S. 123). Klassische Verlaufsmuster von Kriegsenden wie: Waffenstillstand, Präliminarfrieden und endgültiger Friedensschluss bildeten seit dem Ersten Weltkrieg immer weniger die Norm. Viele Kriege endeten seither gar nicht mehr mit formalen Friedensschlüssen. Auf der anderen Seite und gleichsam entgegengesetzt: Frieden dürfe auch nicht mit Erwartungen überfordert werden, dann trage er nicht. Hatte sich in der frühen Neuzeit etwa seit 1648 die Einsicht durchgesetzt, grundsätzlich wechselseitige Amnestie unter Gleichen zu gewähren, so setzte sich im 20. Jahrhundert die Vorstellung von „Krieg als Verbrechen und Bruch moralischer Normen“ (S. 128) durch, die Vertrauensbildung unter Kontrahenten, die als Gleiche anerkannt wurden, wesentlich erschwerte. Übergroße Erwartungen erzeugten vielfach Enttäuschungen und konnten durch Desillusionierung stattdessen den Auftakt zu neuer Gewalt bilden.
Gerade der vorangegangene Erste Weltkrieg überforderte diese Friedenskonferenz und jede weitere gleichsam notwendig von vornherein und strukturell. „Doing peace“ (These IX), oder, wie man auch sagen könnte: die Arbeit am Frieden setzt erst mit dem Ende der Kampfhandlungen ein und lässt sich kaum als ein einsträngiger Erfolgsprozess bestimmen. „Einerseits tragen Prozesse und strafrechtliche Sanktionierungen dazu bei, den Erfahrungen der Opfer Raum zu geben und erlittenes Leid anzuerkennen. Andererseits können sich durch Aufarbeitungsprozesse Feindbilder zumindest kurz- und mittelfristig auch verhärten, weil Gerichtsprozesse durch Bestrafung der Täter den Gedanken der Rache befeuern können“ (S. 170), heißt es allgemein. Das wird wiederum an den jüngsten Jugoslawienkriegen und der internationalen Strafgerichtsbarkeit konkretisiert. „Das beleuchtet paradigmatisch das grundsätzliche Dilemma zwischen Gerechtigkeit und Frieden.“ (S. 170)
Und schließlich, wie Reinhart Koselleck prominent argumentierte: Die eigentlichen grundlegenden Erkenntnisse praktischen Folgerungen aus Kriegen würden bisweilen eher die Verlierer als die Sieger ziehen, „nicht jeder Sieg ist ein Gewinn, und manche Niederlage wird zur Chance“ (S. 173, These X). Insgesamt schreibt Leonhard in einer klaren und nüchternen Sprache und wer als lesende Person den Eindruck hat, der Autor bediene sich eines entschiedenen „Sowohl als auch“, wird nicht ganz falsch liegen. Die Stärke der Darstellung liegt in dichten empirischen Beispielen, die jeweils die Komplexität, Andersartigkeit und Gemeinsamkeit hervorheben. Vielleicht wird beim Wandel von Kriegführung zu wenig der Einschnitt der Vernichtungskapazitäten und auch Realitäten zumal im Nuklearzeitalter seit Hiroshima und Nagasaki betont.
Bestechend ist auch die jeweilige politische Einbettung von Friedensschlüssen, welche die völkerrechtliche Seite nur als ein Element in einem breiteren historischen Kontext versteht. „Frieden durch Recht“ war ja schon seit dem späteren 19. Jahrhundert eine politische und völkerrechtliche Forderung. Ein Blick in außereuropäische Kriege, nicht nur kolonialer Art, könnte womöglich noch weitere Erkenntnisse liefern. Ein „gerechter Frieden“ ist sicher immer und so auch in der „unübersichtlichen Gegenwart“ (S. 15) wünschenswert, aber ist das auch real? Bei aller Notwendigkeit und politischen Gestaltungsabsicht zu Frieden hin, kann es aber keine einfachen Rezepte dazu geben. Was Jörn Leonhard in diesem Paperback bietet, ist ein klug durchdachtes Reservoir an historischen Beispielen der letzten Jahrhunderte. Sie zeigen nicht nur – erneut mit Clausewitz –, dass der Krieg ein „Chamäleon“ ist – und dies bis heute bleibt –, sondern dass auch Wege aus dem Krieg unbestimmt, gefahrvoll, mit unerwünschten und nicht intendierten Wirkungen und Nebenwirkungen behaftet sind. Gerade das ist aufklärend und warnt davor, in unserer Zeit mit bestimmten historischen Analogien sichere „Wege aus der Gefahr“1 geben zu können.
Anmerkung:
1 Erhard Eppler, Wege aus der Gefahr, Reinbek 1981.