Das Siegerland gilt in der Wirtschaftsgeschichte als eine bedeutende Gewerberegion in vor- und frühindustrieller Zeit. Eisenerzbergbau und Eisenverhüttung prägen dabei das Bild des Siegerlandes und lassen darüber vergessen, dass sich hier einst die bedeutendste Spinnerei Preußens befand. Denn im Siegerland – dem Gebiet des heutigen Kreises Siegen-Wittgenstein in Nordrhein-Westfalen und dem nordöstlichen Teil des Landkreises Altenkirchen in Rheinland-Pfalz – weist die Montanindustrie eine bis in vorchristliche Zeit zurückzuverfolgende Tradition mit einem Höhepunkt in der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, die erst 1965 mit der Schließung der beiden letzten Gruben ihr Ende fand.1 Dagegen wird meist übersehen, dass hier zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und den 1860er-Jahren auch das Textilgewerbe in Gestalt der Baumwollverarbeitung eine große Bedeutung besaß.
Thomas Bartolosch hat die Geschichte dieses Gewerbezweigs bereits 1992 in seiner bei Harald Witthöft an der Universität Siegen entstandenen Dissertation akribisch aufgearbeitet.2 Seine Arbeit erfuhr jedoch in den vergangenen Jahren durch die wirtschaftshistorische Forschung nicht immer die Aufmerksamkeit, die ihr eigentlich gebührt. Entsprechend wird die Bedeutung des Siegerlands als wichtiger vor- und frühindustrieller Standort der Baumwollverarbeitung in Westdeutschland in der einschlägigen Literatur oft übersehen. Nicht nur übertraf das Textilgewerbe in dieser Region gemessen an der Zahl der Beschäftigten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Montangewerbe an Bedeutung, hier bestand darüber hinaus auch mit der Baumwollspinnerei Jung im Jungenthal bei Kirchen/Sieg zwischen 1818 und Mitte der 1840er-Jahre die größte Baumwollspinnerei Preußens. So schweigt etwa auch die viel gerühmte Synthese zur Globalgeschichte der Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert von Sven Beckert über diese frühe und bedeutende regionale industrielle Entwicklung.3
Nicht zuletzt die mangelnde Aufmerksamkeit für seine Dissertation dürfte Bartolosch bewogen haben, sich jetzt – dreißig Jahre später – des Themas noch einmal anzunehmen und für die hier vorzustellende Publikation erneut mit einem etwas veränderten Fokus aufzuarbeiten. War die Dissertation noch dem Paradigma regionaler Industrialisierung verpflichtet, präsentiert Bartolosch jetzt eine explizite Firmengeschichte, in welcher die betriebliche Entwicklung der Baumwollspinnerei des Johann Christian Jung (1732–1808) – weitergeführt durch seine Söhne Johann Gerlach Lorenz (1767–1837) und Christoph Ernst Jung (1775–1857) – im Mittelpunkt steht. Die Darstellung ist in drei chronologisch aufeinander folgende Hauptabschnitte gegliedert: In einem ersten Kapitel wird die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschildert, der zweite Teil widmet sich der napoleonischen Zeit und den ersten beiden Jahrzehnten unter preußischer Herrschaft, bevor im letzten Abschnitt der langsame Niedergang der Baumwollspinnerei in Jungenthal in den 1860er-Jahren untersucht wird.
Der Gründer der Baumwollmanufaktur, Johann Christian Jung, hatte sich Mitte des 18. Jahrhunderts noch als Wolltuchweber betätigt und sich als solcher – ausgehend von Heeresaufträgen während des Siebenjährigen Krieges – vor allem auf den Wolltuchhandel konzentriert. Seit Mitte der 1760er-Jahre engagierte er sich mehr und mehr als Faktor für Elberfelder Kaufleute und ließ also solcher jetzt auch Baumwolle im Siegerland und im Westerwald durch heimgewerbliche Arbeitskräfte verspinnen. Die engen Beziehungen ins Wuppertal, die auch andere Textilgewerbetreibende in diesen Jahren aufbauten, bildeten die entscheidende Grundlage für die Entstehung des Gewerbezweigs der Baumwollverarbeitung im oberen Siegtal. Schließlich bildete das Wuppertal eines der wichtigsten proto-industriellen Zentren für die Textilverarbeitung in ganz Europa. Die Wuppertaler Kaufleute besaßen großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Gewerbetreibenden in dieser Region, die eine Tagesreise entfernt lag und wo die Löhne deutlich niedriger waren. Im Wuppertal und seiner näheren Umgebung fand sich kaum noch eine hinreichende Zahl von Spinnern, die den rasch wachsenden Bedarf nach Baumwollgarn hätte befriedigen können. Für den Übergang zur maschinellen Produktion in größeren zentralisierten Werkstätten war dann die Qualität des so produzierten Garns entscheidend: Nur maschinell erzeugtes Garn war hinreichend homogen und stabil, dass es für die Herstellung reiner Baumwollstoffe taugte. Das mittels Handspinnrädern gewonnene Garn ließ sich hingegen nur zu Mischgeweben mit Leinenkette und Baumwollschuss verarbeiten.
Spinnereibetriebe entstanden insbesondere unter dem Schutz der napoleonischen Handelssperren auch im Rheinland in größerer Zahl. Dass 1801 dann aber ausgerechnet in Kirchen an der Sieg – weit ab von den kommerziellen Zentren – eine Maschinenspinnerei ihren Betrieb aufnahm, die überdies in den folgenden Jahrzehnten ungeachtet einer wieder erstarkenden englischen Konkurrenz zum größten Betrieb Preußen heranwuchs, bleibt erstaunlich. Bartolosch identifiziert als maßgeblichen Grund hierfür die weiterhin enge Zusammenarbeit mit dem Wuppertal, wo sich ausgangs des 18. Jahrhunderts zwei Söhne des Firmengründers niedergelassen hatten und für den Einkauf des Rohstoffs und den Vertrieb des Garns sorgten. Heiratsbeziehungen der Jungs zu führenden Elberfelder und Barmer Kaufmannsfamilien stärkten die Bindungen ins textilgewerbliche Zentrum.
Erst seit den 1830er- und verstärkt dann in den 1840er-Jahren erwies sich der abgelegene Standort der Jung’schen Spinnerei zunehmend als Hindernis für die weitere Entwicklung. Schlechte Verkehrsbedingungen – zunächst das weitgehende Fehlen von „Kunststraßen“ und mangelnde Verbindungen zum überregionalen Straßennetz, in den 1840er-Jahren dann der fehlende Anschluss an das entstehende Eisenbahnnetz – bewirkten Bartolosch zufolge, dass Logistikprobleme die Baumwollproduktion im Siegerland zunehmend unrentabel machten. Konsequenterweise setzten sich Mitglieder der Familie Jung bei den Behörden nachdrücklich für eine bessere verkehrliche Erschließung der Region ein – ein Bemühen, das erst auf lange Sicht erfolgreich war. Die Umsetzung dauerte lange und als die Infrastrukturprojekte endlich realisiert waren, befanden sich die Unternehmen bereits substanziell in einer kritischen wirtschaftlichen Lage.
Ein weiterer wichtiger Faktor für den Niedergang des Baumwollgewerbes im Siegerland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bestand dann im Ausbleiben von Baumwolllieferungen aus den USA im Gefolge des Amerikanischen Bürgerkriegs seit 1861. Julius und Richard Jung, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Betrieb leiteten, verloren überdies mit der spekulativen Zeichnung von Kriegsanleihen für die amerikanischen Südstaaten viel Geld, was das Unternehmen endgültig in eine finanzielle Schieflage manövrierte. 1867 musste die Baumwollspinnerei stillgelegt werden, das Unternehmen meldete Konkurs an. Damit starb zugleich ein bedeutender regionaler Wirtschaftszweig, die Menschen in der Region fanden Arbeit seither vor allem in der Eisen- und Stahlerzeugung. Auch das Firmengelände in Jungenthal wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein weiterhin durch verschiedene Nachfolgebetriebe genutzt, die sich jetzt aber nicht mehr dem Textilgewerbe widmeten, sondern dem Lokomotivbau und schließlich auch der Produktion von wehrtechnischem Equipment.
Bartolosch kann sich für seine Studie auf kein geschlossenes Firmen- oder Familienarchiv stützen, lediglich für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte ein im Historischen Zentrum in Wuppertal lagernder Nachlass ausgewertet werden. Jenseits dessen basiert die Studie weitgehend auf staatlicher Überlieferung, die angesichts der territorialen Kleingliedrigkeit des Siegerlands in vorpreußischer Zeit auf die Staats- und Landesarchive mehrerer Bundesländer verteilt ist. Die verstreuten Quellenbestände zusammengetragen und ausgewertet zu haben, ist ein wesentliches und bleibendes Verdienst von Bartoloschs Arbeit. Das Fehlen betrieblicher Unterlagen bedingt allerdings auch, dass manche Überlegung des Autors spekulativ bleiben, etwa seine Thesen zur Bedeutung der Kosten für den Transport. Bartolosch widmet dem verzögerten Ausbau der verkehrlichen Erschließung der Region und den Debatten um mögliche Streckenführungen einen großen Abschnitt in seiner Darstellung – wie hoch der Kostenanteil im Produktionsgefüge insgesamt tatsächlich war und wie er sich veränderte, vermag der Autor allerdings nicht zu bestimmen. Dass hier eine wesentliche Ursache für den Niedergang des Gewerbes in den 1860er-Jahren lag, bleibt daher nur eine Vermutung.
Gravierender ist jedoch, dass Bartolosch es versäumt, seine Darstellung an die aktuellen Fragestellungen und Diskussionen in der Geschichtswissenschaft anzubinden und sich in der Forschung so mit einem eigenständigen Beitrag zu positionieren. Gerade die Baumwollverarbeitung verbindet sich wie wenige andere ökonomische Felder mit Fragen nach den Anfängen der Globalisierung – wurde hier doch ein Rohstoff verarbeitet, der über große Entfernungen herbeigeschafft werden musste und notwendigerweise weit entfernte Regionen miteinander verband. Die sich hieraus ergebenden Fragen und Diskussionen stehen in den letzten Jahren im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, werden von Bartolosch aber leider nicht aufgegriffen. Bartolosch bleibt mit seinem neuen Buch vielmehr sehr eng seiner mehr als dreißig Jahre alten Dissertation verhaftet, der er gelegentlich sogar mit der wörtlichen Übernahme ganzer Textabschnitte folgt. Der Autor versäumt also leider eine Gelegenheit. Dennoch sollte dies für die wirtschaftshistorische Forschung keine Ausrede mehr darstellen, die Bedeutung der siegerländischen Baumwollgewerbe in vor- und frühindustrieller Zeit einfach zu ignorieren. Das verfügbare Quellenmaterial hat Bartolosch umfassend aufgearbeitet und seine Ergebnisse in der vorliegenden Publikation in gut lesbarer Form erneut präsentiert.
Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt Manfred Rasch (Hrsg.), Das Siegerland. Eine Montanregion im Wandel, Essen 2014.
2 Thomas A. Bartolosch, Das Siegerländer Textilgewerbe. Aufstieg, Krisen und Niedergang eines exportorientierten Gewerbes im 18. und 19. Jahrhundert (Sachüberlieferung und Geschichte 12), St. Katharinen 1992.
3 Sven Beckert, Empire of Cotton. A New History of Global Capitalism, London 2014 [King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014]. Vgl. die Rezension von Lea Haller, in: H-Soz-Kult, 29.01.2015, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21746 (04.04.2024).